Die Kunst der Entschleunigung
Das Lebenstempo hat sich seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich gesteigert. Gleichzeitig wächst das Bedürfnis nach Entspannung und Muße. Eine Ausstellung in Wolfsburg zeigt Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei.
Kaum eine Installation bringt unsere Zeit so zur Anschauung wie die von Julius Popp: In einem Vorhang aus fallenden Wassertropfen sind für Sekunden aus dem Internet generierte Schlagwörter zu lesen und verschwinden wieder. HighTech-Tempo, das unendliche Netz - und ein ratlos zurückbleibender Betrachter.
Diese Ausstellung verfolgt das Phänomen "Beschleunigung" durch gut 200 Jahre. So war den Futuristen nichts wichtiger als die hochtechnisierte Zivilisation mit ihrer Geschwindigkeit und den kaum mehr überschaubaren Abläufen künstlerisch einzufangen. Bildflächen wurden aufgesprengt, Motive verschachtelt. Doch neben solch futuristischen Werken entstand um 1910 auch eine metaphysische Kunst der Ruhe: So malte Giorgio de Chirico leere Plätze, historisch ferne Gebäude mit Säulen.
Bewegung hier, eine Kunst der Entschleunigung dort: Mit dieser Polarität bewegt sich die Wolfsburger Ausstellung durch die Kunstgeschichte seit der Goethezeit - sprunghaft, assoziativ, stets für Überraschungen gut. Wobei die Vorliebe des Direktors Markus Brüderlin der Entschleunigung gilt:
"Wir erleben, dass im Zuge der Globalisierung und der damit verbundenen Beschleunigung des Lebens eine Art von Zustand erreicht ist, wo die Frage gestellt werden muss: Wollen wir in einem posthumanen Zeitalter leben, in dem die Maschinen herrschen und allein das Geld regiert? Und da sehen wir, dass immer mehr Menschen nicht so einfach mitmachen wollen und eine kritische Einstellung zu einem bestimmten Fortschrittsdenken vorhanden ist, das ein menschengerechtes Dasein auf diesem Planeten verhindert."
An den grauen Wänden der riesigen Ausstellungshalle sind die Spiegelbilder der Dynamik, der grellen Medien- und Konsumgesellschaft angebracht: Von Warhols Suppendosen bis zu den geknebelten Frauen des Fotografen Araki. An den weißen Wänden und in eigenen Kabinetten sorgen andere Kunstwerke für ein Gegengewicht, machen dem Publikum ein meditatives, spirituelles Angebot: Caspar David Friedrichs "Meeresufer im Mondschein” und die Farbfeldmalerei von Mark Rothko gehören dazu, raunende Materialbilder von Anselm Kiefer, die Datenserie von On Kawara und eine leuchtende Installation von James Turrell.
Goethe wird im Entree sogar zum Ahnherrn der Entschleunigung - neben Tischbeins berühmtem Porträt des Müßiggängers steht eine Replik jener Skulptur, die der Dichterfürst vor seinem Gartenhaus aufstellen ließ: ein Quader, auf dem eine Kugel zur Ruhe gekommen ist. Der Klassiker als ewiger Ratgeber:
"Er hat sich selber ja auch eine Auszeit verschrieben, das war allerdings im 19. Jahrhundert. Er sagte: 'Ich lese keine Zeitungen mehr, und seitdem bin ich besseren Geistes.‘ Was wir heute als 'Ich bin dann mal off" bezeichnen würden, hat er eigentlich schon vor 200 Jahren praktiziert. Insofern ist er unglaublich aktuell: Man hat das Gefühl, er kommt einem aus der Zukunft entgegen."
Die Bandbreite in dieser Schau ist denkbar groß. Hier - als eine Art Zeitdiagnose - Andreas Gurskys Panoramabild von der Börse in Hongkong, dort zwei von Ai Weiwei mit Süßwasserperlen gefüllte große Porzellanschalen. Auch die Arte Povera eines Mario Merz und die "armen Materialien” eines Joseph Beuys sind Teil dieser beruhigten Gegenwelt.
Von besonderem Reiz sind Künstler, die sich auf die moderne Welt eingelassen haben, um sie ironisch auf Distanz zu halten. So sind Maschinen von Jean Tinguely zuweilen laut und spektakulär, doch auf absurde Weise ineffizient. Douglas Gordon wiederum projiziert Hollywood-Klassiker in einer Langsamkeit, die ganz neue Seh- und Lebenserfahrungen mit sich bringt. Und wenn Jonathan Schipper zwei Limousinen zum Crash aufeinander zufahren lässt, so bewegen sich diese Autos zentimeterweise, der ganze Vorgang erstreckt sich über 22 Wochen. Erst dann haben sie sich gegenseitig in die Höhe geschoben. Schipper:
""Wenn etwas in Zeitlupe abläuft, sieht man Dinge, die sonst verborgen bleiben, zum Beispiel bei diesem frontalen Zusammenstoß. Nun erkennt man Details, stößt in die Tiefe vor. Weil es dem Publikum zeitlich möglich ist, die Installation genau zu betrachten, entsteht eine wirkliche Erfahrung. Man denkt über Autos nach - und wie sie mit dem eigenen Leben zusammenhängen.”"
Man mag über einzelne Künstler und die Auswahl mancher Werke unterschiedlicher Meinung sein - allemal sympathisch ist die Botschaft, das Leben mithilfe der Kunst zu entschleunigen. Wobei man für die Fülle der hier gezeigten Arbeiten ausreichend Zeit mitbringen muss, damit dieses Konzept wirklich aufgeht.
Die Präsentation fügt sich ein in eine meditative Ausstellungslinie, die das Museum der hektischen Automobilstadt in den vergangenen Jahren "therapeutisch” verordnet hat: Man sucht nach einer "Kunst des 21. Jahrhunderts". Entschleunigung, ein Innehalten, das Nachdenken über unsere Zeit zählen auf jeden Fall dazu.
Links bei dradio.de
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Diese Ausstellung verfolgt das Phänomen "Beschleunigung" durch gut 200 Jahre. So war den Futuristen nichts wichtiger als die hochtechnisierte Zivilisation mit ihrer Geschwindigkeit und den kaum mehr überschaubaren Abläufen künstlerisch einzufangen. Bildflächen wurden aufgesprengt, Motive verschachtelt. Doch neben solch futuristischen Werken entstand um 1910 auch eine metaphysische Kunst der Ruhe: So malte Giorgio de Chirico leere Plätze, historisch ferne Gebäude mit Säulen.
Bewegung hier, eine Kunst der Entschleunigung dort: Mit dieser Polarität bewegt sich die Wolfsburger Ausstellung durch die Kunstgeschichte seit der Goethezeit - sprunghaft, assoziativ, stets für Überraschungen gut. Wobei die Vorliebe des Direktors Markus Brüderlin der Entschleunigung gilt:
"Wir erleben, dass im Zuge der Globalisierung und der damit verbundenen Beschleunigung des Lebens eine Art von Zustand erreicht ist, wo die Frage gestellt werden muss: Wollen wir in einem posthumanen Zeitalter leben, in dem die Maschinen herrschen und allein das Geld regiert? Und da sehen wir, dass immer mehr Menschen nicht so einfach mitmachen wollen und eine kritische Einstellung zu einem bestimmten Fortschrittsdenken vorhanden ist, das ein menschengerechtes Dasein auf diesem Planeten verhindert."
An den grauen Wänden der riesigen Ausstellungshalle sind die Spiegelbilder der Dynamik, der grellen Medien- und Konsumgesellschaft angebracht: Von Warhols Suppendosen bis zu den geknebelten Frauen des Fotografen Araki. An den weißen Wänden und in eigenen Kabinetten sorgen andere Kunstwerke für ein Gegengewicht, machen dem Publikum ein meditatives, spirituelles Angebot: Caspar David Friedrichs "Meeresufer im Mondschein” und die Farbfeldmalerei von Mark Rothko gehören dazu, raunende Materialbilder von Anselm Kiefer, die Datenserie von On Kawara und eine leuchtende Installation von James Turrell.
Goethe wird im Entree sogar zum Ahnherrn der Entschleunigung - neben Tischbeins berühmtem Porträt des Müßiggängers steht eine Replik jener Skulptur, die der Dichterfürst vor seinem Gartenhaus aufstellen ließ: ein Quader, auf dem eine Kugel zur Ruhe gekommen ist. Der Klassiker als ewiger Ratgeber:
"Er hat sich selber ja auch eine Auszeit verschrieben, das war allerdings im 19. Jahrhundert. Er sagte: 'Ich lese keine Zeitungen mehr, und seitdem bin ich besseren Geistes.‘ Was wir heute als 'Ich bin dann mal off" bezeichnen würden, hat er eigentlich schon vor 200 Jahren praktiziert. Insofern ist er unglaublich aktuell: Man hat das Gefühl, er kommt einem aus der Zukunft entgegen."
Die Bandbreite in dieser Schau ist denkbar groß. Hier - als eine Art Zeitdiagnose - Andreas Gurskys Panoramabild von der Börse in Hongkong, dort zwei von Ai Weiwei mit Süßwasserperlen gefüllte große Porzellanschalen. Auch die Arte Povera eines Mario Merz und die "armen Materialien” eines Joseph Beuys sind Teil dieser beruhigten Gegenwelt.
Von besonderem Reiz sind Künstler, die sich auf die moderne Welt eingelassen haben, um sie ironisch auf Distanz zu halten. So sind Maschinen von Jean Tinguely zuweilen laut und spektakulär, doch auf absurde Weise ineffizient. Douglas Gordon wiederum projiziert Hollywood-Klassiker in einer Langsamkeit, die ganz neue Seh- und Lebenserfahrungen mit sich bringt. Und wenn Jonathan Schipper zwei Limousinen zum Crash aufeinander zufahren lässt, so bewegen sich diese Autos zentimeterweise, der ganze Vorgang erstreckt sich über 22 Wochen. Erst dann haben sie sich gegenseitig in die Höhe geschoben. Schipper:
""Wenn etwas in Zeitlupe abläuft, sieht man Dinge, die sonst verborgen bleiben, zum Beispiel bei diesem frontalen Zusammenstoß. Nun erkennt man Details, stößt in die Tiefe vor. Weil es dem Publikum zeitlich möglich ist, die Installation genau zu betrachten, entsteht eine wirkliche Erfahrung. Man denkt über Autos nach - und wie sie mit dem eigenen Leben zusammenhängen.”"
Man mag über einzelne Künstler und die Auswahl mancher Werke unterschiedlicher Meinung sein - allemal sympathisch ist die Botschaft, das Leben mithilfe der Kunst zu entschleunigen. Wobei man für die Fülle der hier gezeigten Arbeiten ausreichend Zeit mitbringen muss, damit dieses Konzept wirklich aufgeht.
Die Präsentation fügt sich ein in eine meditative Ausstellungslinie, die das Museum der hektischen Automobilstadt in den vergangenen Jahren "therapeutisch” verordnet hat: Man sucht nach einer "Kunst des 21. Jahrhunderts". Entschleunigung, ein Innehalten, das Nachdenken über unsere Zeit zählen auf jeden Fall dazu.
Links bei dradio.de
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