Die Kunst des Überflüssigen

Warum Luxus eine "Befreiungserfahrung" sein kann

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Eine Handtasche des Modelabels Gucci steht am 22.09.2016 in Moskau im Schaufenster eines Geschäftes. © picture alliance / dpa / Soeren Stache
Lambert Wiesing im Gespräch mit Dieter Kassel |
Darf sich der aufgeklärte Mensch Luxus leisten? Philosoph Lambert Wiesing interpretiert dieses Verhalten als ein Ventil für das Leben in einer von Zweckrationalität bestimmten Zeit. Für viele Menschen sei der Besitz von Dingen eine "Befreiungserfahrung".
Als Luxus gelten teure Dinge, die man nicht unbedingt zum Leben braucht und die nur zum Vergnügen gekauft werden, so lautet die gängige Definition. Wie viel Überfluss darf sich der aufgeklärte Mensch der Jetzt-Zeit leisten?
"Luxus ist immer ein Phänomen, wo man eine Sache besitzt, die im Aufwand der Herstellung, in der Verwendung der Ressourcen, sei es in der Zeit, sei es im Material, mehr verbraucht, als es notwendig ist, um diesen Gegenstand mit dieser Funktion – sagen wir bei der Mode, ein Kleid, sei es ein Sakko, sei es eine Hose – herzustellen. Insofern ist Luxus immer etwas, wo wir es mit Gegenständen zu tun haben, die in der Produktion, im Besitz, im Aufwand überflüssig sind."

Überfluss in einer zweckorientierten Zeit

So definiert auch Lambert Wiesing im Deutschlandfunk Kultur den Begriff. Er ist Philosoph an der Universität Jena und Autor des Buches "Luxus". Die Frage "Braucht der das?" habe meist schon eine negative Komponente. Wiesing hat allerdings eine einleuchtende Erklärung für den Wert, den die Kunst des Überflüssigen für viele Menschen in einer durch und durch zweckorientierten Zeit darstellt:
"Und deshalb empfinden, so denke ich jedenfalls, sehr viele auch das Besitzen von Dingen, die nicht nach Zweckrationalitätsmaßstäben konstruiert, hergestellt worden sind, als einen (Gewinn). Sie haben da Erfahrungen mit, die eine Befreiungserfahrung bedeuten, die eine Brucherfahrung bedeuten. Und das wird von vielen geschätzt."
SADAK auf der Mercedes-Benz Fashion Week Berlin 2017
Das Modelabel Sadak auf der Mercedes Benz Fashion Week Berlin 2017© imago stock&people/Pacific Press Agency

Was man mit Mode jenseits des Protzes ausdrücken kann

Ein klassischer Bereich von Luxuserfahrungen ist die Mode: In Berlin beginnt heute die Fashion Week mit den Kollektionen nationaler und internationaler Modedesigner. Mode sollte nicht nur auf den Protz mit Geld reduziert werden, meint Wiesing. Denn schließlich könne man damit sogar Weltanschauungen, politische Einstellungen oder den Zeitgeist zum Ausdruck bringen:
"Da sind wir aber im Bereich eines soziologischen Phänomens, das man eben Selbstdarstellung nennt. Der Luxus ist aber an eine Erfahrung gebunden. Da geht es um eine Selbsterfahrung. Und das Interessante ist, dass eben beide Phänomene mit demselben Objekt möglich sind. Und es ist so schwer, von außen zu unterscheiden: Kauft sich einer dieses Stück Kleidung, weil er sich darstellen möchte, weil er eine Anschauung darstellen möchte, weil er es satt hat, sich in eine Zweckrationalität einspannen zu lassen?"

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Wer ein ganz normales Bekleidungsgeschäft betritt und zum Beispiel ein weißes Hemd kaufen will, der kann da, sagen wir mal, zwischen 20 und 200 Euro ausgeben, und, je nach genauer Art des Geschäfts, natürlich auch noch deutlich mehr. Und wer ein Hemd kauft, das irgendwie anders weiß ist als die anderen und anders geschnitten und das möglicherweise sogar auf der Fashion Week in Berlin gezeigt wird – die hat ja gerade erst begonnen –, der kann natürlich noch viel mehr Geld loswerden.
Aber ergibt das wirklich Sinn, oder ist das überflüssiger Luxus? Hier ergeben sich eine Menge Fragen, unter anderem schon die, ob die Formulierung "überflüssiger Luxus" korrekt ist oder das Wort "überflüssig" in diesem Zusammenhang überflüssig. Dies und mehr wollen wir jetzt klären mit Lambert Wiesing. Er ist Professor für Philosophie an der Universität Jena und Autor des im Suhrkamp-Verlag erschienenen Buches "Luxus". Schönen guten Morgen, Herr Wiesing!
Lambert Wiesing: Guten Morgen, Herr Kassel!

Ist Mode grundsätzlich Luxus?

Kassel: Ist Mode grundsätzlich Luxus?
Wiesing: Ich würde erst mal sagen, Luxus ist immer Luxus für jemanden, es ist eine Relation. Das fällt uns so schwer immer zu berücksichtigen: Dass wir über die Gegenstände selbst nur schwer sagen können, dass sie sozusagen an sich - unabhängig davon, wer sie besitzt und für welchen Zweck er sie besitzt - als Luxus bezeichnet (werden).
Was bei der Mode sicherlich festzustellen ist, ist, dass wir ja von Mode sprechen, wenn Entwürfe für Sachen gemacht werden, die funktional nicht mehr notwendig sind. Ich glaube, selbst wenn dieses Jahr nicht ein einziges T-Shirt, nicht eine einzige Hose, nicht ein einziges Kleid entworfen werden würde, hätten wir noch genug Entwürfe, um die Menschheit einkleiden zu können.
Das heißt, da ist sicherlich ein Moment drin, dass man etwas macht, was von dem Zweck, nämlich dass wir einen neuen Entwurf benötigen, nicht nötig ist. Und das hat etwas damit zu tun, man macht etwas, was vielleicht nicht notwendig ist. Das kann ein Kandidat für Luxus sein, aber ich würde immer Wert darauf legen – "kann sein …" –, denn das hängt dann letztlich davon ab, welche Erfahrung der Besitzer damit macht.

Luxus geht immer über die reine Funktionalität hinaus

Kassel: Das beantwortet natürlich noch nicht die Frage nach diesem Adjektiv, das ich da gerade noch benutzt habe. Ich habe von überflüssigem Luxus gesprochen. Wäre das Adjektiv nötig, würde das ja behaupten, dass Luxus nicht grundsätzlich was Überflüssiges sein muss. Manche glauben aber, schon. Ist das eine Definition von Luxus für Sie, dass man etwas Überflüssiges besitzt?
Wiesing: Das Wort ist ja insofern doppeldeutig. "Überflüssiger Luxus", damit würde man sagen, dass es Luxus gibt, ist überflüssig. Ich glaube, diese Meinung haben viele. Man könnte aber auch darunter verstehen, ein Luxusgegenstand ist etwas Überflüssiges. Das ist definitiv der Fall.
Luxus ist immer ein Phänomen, wo man eine Sache besitzt, die im Aufwand der Herstellung, in der Verwendung der Ressourcen, sei es in der Zeit, sei es im Material, mehr verbraucht, als es notwendig ist, um diesen Gegenstand mit dieser Funktion – sagen wir bei der Mode, ein Kleid, sei es ein Sakko, sei es eine Hose – herzustellen. Insofern ist Luxus immer etwas, wo wir es mit Gegenständen zu tun haben, die in der Produktion, im Besitz, im Aufwand überflüssig sind.

Wie Luxus im Zeitalter der Durchrationalisierung zum Ventil werden kann

Kassel: Nun ist es aber wieder mal so ein Fall, das hat man ja oft bei Gesprächen dieser Art, dass jede Antwort eine neue Frage aufwirft, nämlich die Frage, ist denn Überflüssigkeit gerade auch in diesem Zusammenhang grundsätzlich was Negatives?
Wiesing: Nein, ganz und gar nicht. Nein, im Gegenteil. Das ist eben dann der Grund, warum auch viele eben Luxus schätzen. Ich meine, wir leben in einer Zeit, Soziologen beschreiben das von morgens bis abends, wo eine Durchrationalisierung stattfindet, wo Effektivitätsdenken, Zweckrationalität – wir kennen alle diese Begriffe - wo technische Rationalität (herrscht). Wo viele sehr eingespannt sind, wo Menschen häufig in ihrer Art und Weise, wie sie behandelt werden, einer Maschine angeglichen werden.
Also, wenn man fragt, "Braucht man das?" – es ist sinnvoll zu fragen, wie viel Öl braucht der Motor, wie viel Sprit braucht der Motor -, aber wenn man einen Menschen fragt, "Braucht der das?", wird das schon so in diese Richtung gerückt.
Und deshalb empfinden, so denke ich jedenfalls, sehr viele auch das Besitzen von Dingen, die nicht nach Zweckrationalitätsmaßstäben konstruiert, hergestellt worden sind, als einen (Gewinn). Sie haben da Erfahrungen mit, die eine Befreiungserfahrung bedeuten, die eine Brucherfahrung bedeuten. Und das wird von vielen geschätzt.

Protzigkeit und die Frage nach der Ästhetik

Kassel: Wir haben ja als Anlass für unser Gespräch diese großen Modeereignisse. Die Fashion Week hat gestern in Berlin begonnen. In Paris laufen die Modenschauen schon etwas länger, und die italienische Modetheoretikerin Elena Esposito hat in diesem Zusammenhang mal gesagt, sie fände, Luxus sei eben in der Regel nicht modisch, sondern oft sehr hässlich und protzig. Und Ästhetik und Luxus würden für sie eigentlich gar nicht zusammenhängen.
Stimmen Sie dem zu oder müssen Sie da feststellen, da geraten die Begriffe ein bisschen durcheinander? Denn für mich zum Beispiel ist Protzigkeit und Luxus ja durchaus nicht dasselbe.

Mode als soziale Darstellung

Wiesing: Ich glaube, wenn wir über Mode sprechen, haben wir wirklich einen Bereich, der ganz besonders schwer ist, weil so viele unterschiedliche Phänomene dort zusammenkommen. Und deshalb ist es ja so reizvoll oder auch wichtig, wenn wir sie genauer beschreiben wollen, die Begriffe zu unterscheiden, zu differenzieren. So schwer ist das dann allerdings auch nicht.
Der Begriff des Protzes ist ja sogar schon von der deutschen Sprache, von dem Begriff des Luxus unterschieden, und das ist auch sehr sinnvoll. Protz, kann man sagen, ist völlig synonym mit dem, was man auch Prestige nennt. Das heißt, da sind wir ganz in dem Bereich der sozialen Darstellung, wo Mode, glaube ich, eine ganz große Rolle spielt. Denn Mode wird in hohem Maße eben öffentlich getragen, also ist ein Darstellungsphänomen.

Mode ist Selbstdarstellung, Luxus ist eine Erfahrung

Und ich glaube, man sollte auch mittlerweile nicht mehr die Mode nur darauf reduzieren, was beim klassischen Begriff des Protzes der Fall war, dass es nur noch darum geht, zu zeigen, ich habe Geld, ich verfüge über Vermögen. Man kann sich mit der Mode ja doch sehr differenziert porträtieren, darstellen: Was für Meinungen man hat, man kann sogar Weltanschauungen, politische Einstellungen, Zeitgeist zum Ausdruck bringen. Da sind wir aber im Bereich eines soziologischen Phänomens, das man eben Selbstdarstellung nennt.
Der Luxus ist aber an eine Erfahrung gebunden. Da geht es um eine Selbsterfahrung. Und das Interessante ist, dass eben beide Phänomene mit demselben Objekt möglich sind. Und es ist so schwer, von außen zu unterscheiden: Kauft sich einer dieses Stück Kleidung, weil er sich darstellen möchte, weil er eine Anschauung darstellen möchte, weil er es satt hat, sich in eine Zweckrationalität einspannen zu lassen? Wir haben so viele Begriffe – denken Sie nur daran, wenn man das, was ja auch vielleicht naheliegend ist, schön oder hässlich findet - derselbe Gegenstand kann protzig, schön, hässlich und luxuriös sein.

Wie die Begriffe Müßiggang und Luxus verschwimmen

Kassel: Heute wird ja oft auch die Formulierung benutzt, es ist für mich ein Luxus, Zeit zu haben. Es ist für mich ein Luxus, gewisse Dinge eben nicht tun zu müssen. Ist das wirklich Luxus oder ist Luxus in Ihren Augen doch an Gegenständlichkeit gebunden?
Wiesing: Ich empfinde das als eine sehr unschöne Tendenz, auch vom Sprachlichen her. Wir hatten doch recht lange im Deutschen die Möglichkeit, zwischen Müßiggang und Luxus zu unterscheiden. Wenn man mal drauf achtet, ältere Texte liest, sagen wir mal, so aus den 20er-, 10er-Jahren des letzten Jahrhunderts, dann war da nicht die Tendenz festzustellen, solche Sätze zu sagen wie "Zeit zu haben, ist Luxus".
Ich empfinde das häufig als sehr kokett, weil man dann sagen muss: 'Mein größter Luxus ist, wenn ich Zeit habe, mit meinen Kindern zu spielen.' Um zu zeigen, dass man sich vielleicht der materiellen Welt sehr distant gegenüber fühlt. Von der Sache her scheint mir das nicht richtig zu sein – was heißt, nicht richtig, es ist auf jeden Fall eine metaphorische Verwendung.
Kassel: Lambert Wiesing, der Autor des im Suhrkamp-Verlag erschienenen Buches "Luxus" und Professor für Philosophie in Jena über Luxus - was er mit Mode zu tun hat und was vielleicht auch nicht. Professor Wiesing, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Wiesing: Ich bedanke mich auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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