Brigitte Kölle und Claudia Peppel (Hrsg.): "Die Kunst des Wartens"
Wagenbach Klaus GmbH, Berlin 2019, 192 Seiten, 28 Euro
Betrachtungen über eine aussterbende Kulturtechnik
07:29 Minuten
Schnell zum nächsten Termin gehetzt, den Bus verpasst und schon sind wir zum unfreiwillig Wartenden geworden. Doch was ist daran so schlimm? Das Buch "Die Kunst des Wartens" zeigt, das Warten auch kreatives Potential freisetzen kann.
Auf etwas warten. Darin liegt Hoffnung. Warten kann Glück bringen oder Unglück. Vorfreude hat mit Warten zu tun. Aber auch Angst, Sorge, Panik. Warten ist ambivalent, ist differenzierbar, und die Art, wie jemand wartet, kulturell geprägt. In Ländern wie Japan, Madagaskar oder Argentinien wartet man anders als bei uns in Deutschland. Warten ist auch Ausdruck eines Machtgefälles. Wie, wo und wie lange man wartet, hängt von Status und Vermögen ab.
Geschärfte Wahrnehmung
Warten geht durchaus mit einer geschärften Wahrnehmungsfähigkeit einher: Ein Jäger wartet auf dem Hochsitz auf seine Beute. Ein Scharfschütze auf den Feind. Gläubige warten auf den Erlöser. Flüchtlinge auf einen günstigen Moment oder eine amtliche Entscheidung. Zurückgelassene Kinder in Moldawien auf ihre im Ausland arbeitenden Eltern.
Wir alle warten dauernd irgendwo auf irgendwas – vor einer Ampel, bei einer Behörde, in einem Wartehäuschen oder Wartezimmer, in einer Warteschleife oder Warteschlange. Warten ist eine alltägliche Erfahrung. Dabei ist Warten nicht gleich Warten.
"Ich habe viele Jahre in Afrika gelebt und mit Flüchtlingen gearbeitet, und eine der wichtigsten Erkenntnisse war die über das Warten. Es herrscht dort ein ganz anderes Zeitverständnis, eines das danach fragt: Wann ist die Zeit reif? Und wenn die Zeit reif ist, dann geschieht etwas, aber solange die Zeit noch nicht reif ist, so lange geschieht nichts", sagt Pater Frido Pflüger, Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Berlin.
Künstlerische Blick auf das Warten
Im Klaus Wagenbach Verlag ist nun ein Buch über dieses Phänomen erschienen: "Die Kunst des Wartens". Die beiden Herausgeberinnen Brigitte Kölle und Claudia Peppel beschäftigen sich seit langem mit dem Thema. 2016 kuratierte Peppel am ICI Berlin die Themenausstellung "The Waiting Room" und Kölle 2017 an der Hamburger Kunsthalle "Warten. Zwischen Macht und Möglichkeit". In ihrem gemeinsamen Buch gehen sie den Fragen nach: Können wir in der westlichen Welt noch warten? Wo warten wir? Ist Warten erlernbar? Und: Was ist das überhaupt, Warten?
Kölle und Peppel kombinieren Arbeiten zeitgenössischer Foto- und FilmkünstlerInnen mit literarischen Texten, Essays und mit Interviews, die größtenteils an anderer Stelle bereits veröffentlicht wurden. Der Fokus des Werks, das irgendwo zwischen Buch, Bildband und Kunstkatalog angesiedelt ist, liegt dabei nicht auf dem religiösen oder politischen Aspekt, als vielmehr auf der vielfältigen künstlerischen Umsetzung dieses Nicht-Ereignisses.
Texte und Kunstwerke treffen unkommentiert aufeinander
Die erste Abbildung: eine Farbfotografie von Andreas Gursky aus der Reihe "Pförtner" von 1982. Eine Komposition. Nichts ist hier dem Zufall überlassen:
Ein blank polierter Steinfußboden. Darauf ein rechteckiger Empfangs-Tisch. Bildfüllend. Dahinter sitzen zwei Herren mittleren Alters; so weit voneinander getrennt wie möglich. Pförtner bei der Arbeit. Identisch gekleidet. Grau-blauer Anzug, weißes Hemd, blau melierte Krawatte. Ihre Hände ruhen synchron auf der Tischplatte. Der Blick ist geradeaus in die Kamera gerichtet, nicht leer, eher neutral. An der rechten Bildseite die obligatorische 80er-Jahre-Gardine. Am linken oberen Bildrand eine dezent goldene Wanduhr. Es ist 9:19 Uhr.
Warten diese beiden Herren? Oder arbeiten sie? Schließlich sind es Pförtner. Was unterscheidet die Tätigkeit des einen von der des anderen? Wie in einer Collage stellen die Herausgeberinnen unterschiedliche Texte und Kunstwerke unkommentiert nebeneinander. Dies ist ebenso reizvoll wie anregend. Der Fotografie folgt Kafkas Prosatext "Vor dem Gesetz". In ihm verlangt ein Mann vom Lande Einlass zum Gesetz. Der Türhüter gewährt ihn nicht. Der Mann wartet. Monate, Jahre. Kurz vor seinem Tod erfährt er vom Türhüter, dass die Tür nur für ihn bestimmt war und nun geschlossen wird.
Warten-Lassen als Herrschaftsinstrument
"In vieler Hinsicht sind Wartezeit und Warteräume Instrumente gesellschaftlicher Herrschaftsausübung", sagt der Geisteswissenschaftler Johannes Vincent Knecht. "Wer andere warten lässt, hat Macht über sie. Der Herr verfügt über die Lebenszeit des Dieners."
Johannes Vincent Knecht bezeichnet in seinem Beitrag das Warten als "aussterbende" Kulturtechnik".
"Noch immer sehen wir uns von Konvention und Sachzwang genötigt, bei ÄrztInnen, Behörden oder an Pfandautomaten ungewollt unsere Zeit zu verschwenden. Stets ist das Warten ein Zustand der Passivität, der verfügten Fremdherrschaft und Freiheitsbeschränkung."
Dieses "stets" relativiert Knecht später, in dem er über die Möglichkeit schreibt, sich die Wartezeit zu eigen zu machen. Es gehe hier um den Akt, Fremd-Bestimmung in Selbst-Bestimmung umzuwandeln. Knecht meint damit eben nicht den Blick in das Smartphone, der den Wartenden sofort in einen Konsumenten verwandelt und ihn kontrollierbar macht.
Genußvolle Langeweile
Doch heißt "sich wahrnehmen", "sich besinnen", "sich befragen" noch Warten? Sind diese geistigen Tätigkeiten nicht eine aktive Schulung, um den Geist zu beruhigen und zu sammeln? Eher schon Meditation und damit eben kein Warten mehr? Ist Warten nicht ein teleologischer Akt, der seinen Sinn durch etwas bekommt, was nicht in ihm selbst liegt? Eine Interimszeit, ein Niemandsland des Noch-nicht?
Vielschichtig, informativ und streitbar wie es ist, regt das Buch zum Nach- und Weiterdenken an. Vermittelt wichtige Impulse und lädt dazu ein, sich mit den verschiedenen Künstlern und ihren Positionen auseinanderzusetzen.
Nicht zuletzt dies macht es in unserer auf Effektivität ausgerichteten Gegenwart zu einer empfehlenswerten Lektüre. Man könnte sagen: Seine Zeit ist reif.