Die Kunst des Zuhörens

Von Sven Töniges |
Ein offenes Ohr für große und kleine Sorgen, für akute Konflikte und langfristige Probleme: das bietet das Vertrauenstelefon der Kölner Synagogengemeinde. Seit zehn Jahren, seit dem Sommer 2001 können sich Hilfesuchende an den Beratungsdienst wenden.
"Es klingelt und man ist schon gespannt, man geht ran und man weiß nicht, was auf einen zukommt, ob es da um Leben und Tod geht oder ob da jemand irgendeine triviale Frage stellt. Und deswegen die Grundeinstellung muss erstmal sein: zu allem bereit; und ganz entspannt zuhören, alles erstmal zuhören - und ausreden lassen!"

Wie Seelsorge via Telefon funktioniert, darüber hat Irina Rabinovitch viel gelernt in den letzten zehn Jahren. Die 32-Jährige ist Sozialarbeiterin im jüdischen Begegnungszentrum in Köln-Chorweiler. Hier, in der größten Plattenbausiedlung Nordrhein-Westfalens, ist der Anteil der so genannten jüdischen Kontingentflüchtlinge überdurchschnittlich hoch. Um die Jahrtausendwende hatte die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion einen Höhepunkt erreicht, bis zu zwanzig Familien kamen - pro Woche, erinnert sich Irina Rabinovitch.

"Damals war ein Sozialarbeiter echt handlungsorientiert: Anträge ausfüllen, Anrufe abhalten oder Begleiten und so weiter. Keiner hatte wirklich Zeit zuzuhören. Die Idee war, dass jeder anrufen kann abends, anonym bleiben kann und einfach sprechen."

Der Bedarf nach russischsprachiger und anonymer Beratung war offensichtlich. Also initiierten die Gemeinden in Köln und Düsseldorf eine telefonische Anlaufstelle für akute Konfliktsituationen und längerfristige Probleme, das Vertrauenstelefon. Im Sommer 2001 ging es los mit sieben ehrenamtlichen, eigens geschulten Mitarbeitern. Nicht immer hatten die Anrufer Fragen auf dem Herzen, mit denen die Telefonseelsorger gerechnet hatten:

"Überraschend waren wirklich triviale Fragen, welche Waschmaschine ich am besten kaufen oder wie ich eine Satelliten-Antenne einbauen kann."

Doch eines fanden die telefonischen Berater schnell heraus: wenn zumeist ältere Anrufer nach russischsprachigem Fernsehempfang oder eben der günstigsten Waschmaschine fragten, dann waren das nur auf den ersten Blick banale Sorgen, erinnert sich Irina Rabinovitch:

"Wir haben dann mit Laufe der Zeiten festgestellt, dass hinter jeder technischen Frage und hinter jeder trivialen Frage immer eine soziale oder psychosoziale Frage steckt."

Oft genug erzählten die kleinen Sorgen vom großen Drama der Migration, von Entwurzelung, Entfremdung und Sprachlosigkeit. Auch in der jüngsten internen, anonymen Statistik des Vertrauenstelefon sind die meistgenannten Themen Einsamkeit, Partnerprobleme, Erosion der Familie, Depression.

"Das erste Problem ist nach wie vor Einsamkeit, und dass man sich immer noch nicht angekommen fühlt, also weggegangen aber noch nicht angekommen sein. Man hat sich schon dort entwurzelt, und jetzt ist man dort fremd und hier nicht angekommen. Das sind die Hauptprobleme, dann kommen Probleme der Familie."

Immer wieder erstaunt die Mitarbeiter des Vertrauenstelefons, mit welcher Wucht die Migrationserfahrung in die Biografien einschlug. Und immer wieder begann die persönliche Tragödie, als Studien- und Ausbildungsabschlüsse und berufliche Praxis aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland nicht anerkannt wurden.

In dreistündigen Schichten an sechs Tagen in der Woche laufen im Jahr rund 1000 Anrufe beim Vertrauenstelefon auf. Viel zu tun also für die inzwischen fast zwanzig ehrenamtlichen Mitarbeiter. Psychologen sind darunter, aber auch Ingenieure, Juristen, oder Biologen - unterschiedliche Berufsgruppen, mit ganz unterschiedlichen Ansätzen. Zweimal im Monat ist das Telefon mit einem Rabbiner besetzt. Bei den regelmäßigen Treffen der Ehrenamtlichen sei immer wieder faszinierend zu beobachten, wie die verschiedenen Gewerke an psychosoziale Fragen heran gingen, erzählt Irina Rabinovitch.

"Im Laufe der Zeit hat die Gruppe sich auch entwickelt, es ist auch eine Art Selbsthilfegruppe geworden, das heißt, es bringt Nutzen auch für jeden Einzelnen der Gruppe auch an gemeinsamen Gesprächen und Supervision teilzunehmen."

Doch die Möglichkeiten anonymer Telefonberatung sind begrenzt. Inzwischen gibt es mehrmals in der Woche das Angebot einer professionell besetzten, persönlichen "Beratung für Kinder, Jugendliche und Eltern mit Migrationshintergrund" - ein unmittelbares Nebenprodukt des Vertrauenstelefons.

Der Traum aber bleibt eine "jüdische Hotline" - deutschlandweit, mehrsprachig besetzt und das rund um die Uhr. Vor einigen Jahren bereits wurde man beim Zentralrat und der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland vorstellig. Doch bislang scheiterte das Projekt - an der Finanzierung aber auch an inhaltlichen Fragen. Vielleicht, so hofft Irina Rabinovitch wird das anders sein, wenn das Köln-Düsseldorfer Vertrauenstelefon in fünf Jahren seinen 15. Geburtstag feiert.