Wo steckt das verschollene Gemälde?
Ein Gemälde rettete der jüdischen Familie Engelberg im Jahr 1938 das Leben – sie bekam dafür ein Visum für die Schweiz, was die Engelbergs vor der Deportation ins KZ Dachau bewahrte. Wo aber steckt das lebensrettende Bild heute, fast 80 Jahre später? Eine interaktive Schatzsuche.
"Es klopft an der Tür. Wir ahnen was es bedeutet. Zwei Gestapomänner in Zivil betreten die Wohnung. Wir erstarren. Die Männer sind sehr höflich und sagen zu meinem Vater: Bitte packen sie nur das Wichtigste, und nehmen sie ein paar Taschentücher mit. Mein Vater gehorcht und geht in das andere Zimmer. Dann kommt er mit einem Koffer wieder raus vielleicht waren es auch zwei – und verabschiedet sich von uns. Die Männer verbeugen sich freundlich. Dann verlassen sie mit meinem Vater die Wohnung. Meine Mutter weint. Meine Schwester weint. Ich weine."
Als die Gestapo seinen Vater, den jüdischen Kaufmann Jakob Engelberg, im November 1938 ins Konzentrationslager Dachau bei München steckt, ist Edward gerade mal neun Jahre alt. Die Nazis nennen es Schutzhaft. Engelberg spricht das Wort noch heute, 77 Jahre später, akzentfrei aus.
Wir sind in Portland, Oregon, an der Westküste der USA. Unser Treffen mit dem 87-jährigen Edward Engelberg ist der Beginn einer Recherche, bei der es um eine Flucht aus Nazi-Deutschland geht. Um 30 Menschen, die deswegen heute am Leben sind. Und es geht um ein Gemälde, das diese Flucht erst möglich gemacht hat. Zumindest ist das die Familienlegende. Bis heute.
Edward Engelberg ist damals ein Kind, das gerne alleine durch die Straßen Münchens wandert. Er sammelt Anstecknadeln von Automarken. Und er liebt es, mit seinem Vater im Opel durch die Gegend zu fahren. Bis heute kann er sich an das Kennzeichen erinnern: II A – 54558. Obwohl die Nazis die Schlinge immer enger ziehen, ist die Welt von Edward noch einigermaßen heil. Bis zu jenem Tag im November 1938.
"Ich bin neun Jahre alt. Am Morgen des 10. November gehe ich zur Schule, ich sehe Feuer, ich sehe Rauch, ausgebrannte Läden, die Hakenkreuze an den Wänden, die Scherben der Kristallnacht. Dann sehe ich meinen Lehrer, er ist total aufgelöst und sagt: Lauf nach Hause. Frag nicht, lauf!"
Edwards Vater Jakob, ein Mann mit rundem Gesicht und Brille, ist Vertreter für Seidenwaren. Im Ersten Weltkrieg dient er in der kaiserlichen Armee, abends raucht er gerne eine Zigarre, liest Goethe, Lessing, Schiller.
Trotzdem klopft am 10. November die Gestapo und verschleppt Jakob Engelberg ins KZ, so wie in diesen Tagen 30.000 andere Juden im ganzen deutschen Reich. Noch wollen die Nazis die Juden vor allem aus dem Land vertreiben – und sie vorher ausplündern. Aber am Ende dieses Weges liegt Auschwitz.
"Wir brauchten ein Einreisevisum für die Schweiz. Und hier kommt das Gemälde ins Spiel. Ich kann mich ganz genau daran erinnern, wie meine Mutter das Bild aus dem Rahmen nahm und zusammenrollte. Dann verließ sie das Haus. Als sie wiederkam, hatte Mutter das Visum für uns."
Engelberg schaut an die Wand. Seine Familie besitzt damals zwei Gemälde des heute fast vergessenen Künstlers Otto Stein. Das eine hängt noch heute in Engelbergs Wohnzimmer in Portland. Es zeigt eine Frau mit einem aufgeschlagenen Buch auf dem Schoß. Das zweite Bild sah ganz ähnlich aus, und es hat der Familie das Leben gerettet, erinnert sich der alte Mann. Seitdem ist es verschollen. Genau dieses Bild wollen wir finden. Nicht, weil die Familie das Bild wiederhaben will. Sie würde nur gerne endlich dessen Geschichte kennen.
Die Geschichte von zwei Gemälden
Mit dem Visum für die Schweiz schafft es Paula Engelberg tatsächlich, ihren Mann freizubekommen. Aschfahl kommt er nach Hause, den Kopf kahl rasiert, er sagt fast nichts. Innerhalb von 48 Stunden muss er das Land verlassen.
Aber die große Frage bleibt bis heute: was hat Paula mit dem Gemälde gemacht? Hat sie das Gemälde auf dem Weg versetzt? In einem Pfandhaus vielleicht, oder in einer Galerie? Hat sie es zur Gestapo gebracht, als "Dankeschön", oder es einem Beamten auf dem Schweizer Konsulat gegeben, um schneller an das Visum zu kommen?
Auf der Ostseite des Hudson Rivers, in Hoboken, treffen wir Edward Engelbergs Sohn Steve. Steve ist Journalist, ein Mann in seinen 50ern mit grauem Dreitagebart. Hinter ihm glitzert die Skyline Manhattans.
Unsere Recherche wird sechs Wochen dauern, in denen wir kreuz und quer durch die Lande fahren. Die Suche beginnt in München, im bayerischen Hauptstaatsarchiv.
"Herr Kerner hier ist Bachmann am Apparat, Herr Kerner ich hab ein ganz großes Problem. Es ist jetzt ein Filmteam da und wir haben für den Herrn Salewski Akten bestellt und sie wissen ja, ich fürchte fast, sie liegen noch bei ihnen draußen."
Die Rückerstattungsakte ist die einzige uns bekannte Quelle, aus der wir direkt erfahren könnten, was Paula Engelberg damals im November 1938 mit dem Gemälde gemacht hat. Ansonsten haben wir nur die Überlieferung der Nachfahren.
Die Akte kommt schließlich aus dem Magazin. Im Lesesaal im ersten Stock schlagen wir die vergilbte Mappe mit der Ziffer 255/51 auf.
Paula Engelberg hat den Antrag 1948 selbst ausgefüllt. Sie spricht jetzt direkt zu uns. Und beschreibt einen rot-braunen Koffer, den sie kurz vor ihrer Flucht im Dezember 1938 im Depot der Deutschen Bank einschließt. Handschriftlich listet sie den Inhalt auf: 13 Wertgegenstände, zum Teil ihr Heiratsgut. Unter anderem eine goldene Uhr, Halsketten, Tafelsilber. Sie beziffert den Wert mit 6365 Reichsmark.
Auf keiner der Seiten ist die Rede von einem Gemälde. Vielleicht finden wir etwas in der Wiedergutmachungsakte. Auch die haben wir bestellt, sie ist aber nicht geliefert worden.
Wir begeben uns dorthin, wo der Ungeist verwaltet wurde, zum ehemaligen Sitz der NSDAP. Heute befindet sich hier das renommierte Zentralinstitut für Kunstgeschichte.
"Nette Herausforderung, aus dem Leben gegriffen. Man weiß ja vorher nicht, ob es eine kleine oder große Herausforderung ist, das stellt sich ja erst bei der Recherche heraus. Es ist schwierig, aber keineswegs unmöglich."
Der Provenienzforscher Christian Fuhrmeister verschwendet weiter keine Zeit, setzt sich an seinen Rechner und beginnt in Katalogen und Datenbanken nach unserem Künstler Otto Stein zu suchen.
"Nee, ja, es sind die beiden, also mein Vorschlag wäre, ich gehe jetzt in die Bibliothek. Wollen Sie mit? Ja? Gut."
Wir laufen Fuhrmeister hinterher, durch hallende Gänge und dann eine Wendeltreppe hinab, hinein in eine der größten kunsthistorischen Bibliotheken der Welt.
Seine Suche im Katalog hat gerade mal zwei Treffer ergeben. Der erste ist ein Aufsatz einer tschechischen Historikerin. Den zweiten Treffer kannte auch Google schon. Eine Dissertation über Leben und Werk Otto Steins, verfasst von einem gewissen Olaf Thormann 1992. Fuhrmeister zieht das Buch aus dem Regal und blättert nach hinten ins Namensregister.
"Das wäre jetzt eine sehr einfache Suche, aber das ist das, was ich sagte: Es ist eine große und eine kleine Herausforderung. Epping nein, Enderlein nein, das wäre auch zu schön und zu einfach."
Zurück in Fuhrmeisters Büro überlegen wir, wo Paula Engelberg das Gemälde damals hätte verkaufen können.
"Der gesamte Münchner Kunsthandel hat eine außerordentliche starke Konzentration auf einer Fläche von 200 mal 200 Meter. Ich zeige ihnen da gleich mal einen Plan."
Nicht alle Informationen sind digital verfügbar
Die historische Karte zeigt eine Galerie an der anderen. Mittendrin: die Ottostraße. Dort war 1938 auch das Schweizer Konsulat. Aber welche Adresse kommt für einen Ankauf des Gemäldes in Frage?
"So, ich glaube die erste Recherche hat gezeigt, es ist kein schneller einfacher Treffer, man muss weiter buddeln und in die Information hinein, die noch nicht digital verfügbar sind, weil natürlich das Historische nicht eins zu eins abgebildet wird."
Wir verlassen das Institut. Vor uns liegt eine Menge Arbeit. Aber dann erreichen uns per WhatsApp schon die ersten Hinweise. Aus Österreich meldet sich ein Galerist und eine Frau schickt uns ein Foto von einem Gemälde. Sie glaubt das Gesuchte vielleicht zu kennen.
Wir fahren nach Chemnitz, dort, wo der Künstler und die Engelbergs zur gleichen Zeit wohnten. Und wo Otto Stein die glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht hat:
"Es gibt nur zwei Städte, in denen man arbeiten kann. Paris, wo die Menschen genug Taktgefühl haben, einen arbeiten zu lassen, und Chemnitz, wo ich niemanden kenne, der mich bei der Arbeit stört."
Das sollte sich in Chemnitz schnell ändern. In den 20er-Jahren rauchen hier die Schlote der Textilfabriken und die Wirtschaft brummt, zu seinem Kundenkreis zählen viele Industrielle. Noch bevor er 50 Jahre alt ist, ist der Künstler über die Landesgrenzen hinweg bekannt, verkehrt unter anderem mit Kandinsky, Liebermann und Klee.
Stein wohnt in der Ahornstraße. Etwa zwei Kilometer entfernt, in der Theaterstraße 29, leben die Engelbergs. Sind sie sich zufällig begegnet? Innerhalb der jüdischen Gemeinde wahrscheinlich eher nicht, denn Stein konvertierte früh zum Christentum, bezeichnete sich lieber als Europäer und Kosmopolit.
"Die Welt wird heute vom Kaufmann regiert und sieht auch danach aus. Frühere Zeiten haben Dome, die Bilder Rembrandts, die Symphonien Beethovens hinterlassen. Was wird von unseren bleiben? Würde man nicht sein Leben an der Staffelei zubringen, dann könnte man es im heutigen, von Phrasen zugedeckten Deutschland kaum ertragen."
Mitten hinein in die Parade der tanzenden Beine kracht die Wirtschaftskrise und in ihrem Fahrwasser die Nationalsozialisten. Für sie bleibt Stein Jude. Die Musik verstummt.
Nach seiner ersten Verhaftung zieht Stein nach Prag. Er ahnt, dass er bald nach Theresienstadt deportiert wird, und sucht Trost in seiner Arbeit.
"Ich kann nicht anders, als jeden Morgen mich wie ein Hahn auf die äußerste Spitze der beschissenen Hühnerleiter hinaufzuschwingen und über all dem Dreck hinweg dem Licht entgegen krähen, das heißt malen, solange ich kann."
Olaf Thormann ist der Stein-Experte schlechthin. In München sind wir auf seine Dissertation gestoßen, jetzt sitzen wir in seinem Garten in Leipzig und Thormann öffnet die Schleifen von grauen Kladden, zum Vorschein kommen die Bilder, die wir in der gedruckten Dissertation nicht sehen konnten. Zunächst lassen wir Thormann ein Foto des Stein-Gemäldes begutachten, das noch bei Edward Engelberg im Wohnzimmer hängt.
"Also die Farbigkeit, die gesamte Anlage deutet eindeutig auf die Zeit Ende der Zehner-Jahre hin. Zu der Zeit ist Stein noch vergleichsweise farbig. Die Farbigkeit wird in den nachfolgenden Jahren immer gedämpfter."
Gemeinsam gehen wir dann eine Abbildung nach der anderen durch. Welches könnte das gesuchte Gemälde sein? Hat es Thormann überhaupt in seinen Unterlagen?
"Hier hält jemand ein Buch, G113. Ja, aber das hat sich bis in die 1990er im Familienbesitz Böhme befunden, das kann also unmöglich das von ihnen gesuchte sein. Na, das ist doch schön, dann schließen wir das erstmal aus."
Eines nach dem anderen gehen wir durch. Bis wir auf ein Gemälde stoßen, das ganz offensichtlich aufgerollt wurde. Es springt uns geradezu an.
"Ich finde, das ist nach allem, was wir gesehen haben ja, nur weil es gerollt ist. Ja genau, weil es gerollt ist. Aber das ist ja das, was uns schon die ganze Zeit irritiert. Wieso hat sie es aufgerollt, wenn sie weiß, dass es das Bild kaputt macht?"
Wir verlassen Olaf Thormann mit 14 möglichen Motiven. Alle zeigen eine Frau. Bei keinem außer einem ist geklärt, wo es heute steckt.
Gemeinsam mit unserer Illustratorin entwerfen wir ein Fahndungssplakat. Gleichzeitig informieren wir Edward Engelberg. Vielleicht kann er eines der 13 Bilder identifizieren. Der fast 90-jährige Mann wird für uns zum ersten Mal in seinem Leben skypen, uns hoffentlich auf die ganz heiße Spur bringen.
Es ist Halbzeit bei der Kunstjagd, drei Wochen sind vorbei, drei liegen noch vor uns. Wir haben uns für ein paar Tage aufs Land zurückgezogen, um uns zu sortieren.
Edward Engelberg ist erst heute Abend wieder erreichbar. Bis dahin nutzen wir die Zeit und zeichnen unsere bisherigen Rechercheergebnisse auf Packpapier auf.
"Ja, schon klar. Den Thormann-Sachen nachgehen, auf Hinweise über das Fahndungsplakat hoffen, Edward das Ding zeigen, das hier noch mal abfragen."
Wir hoffen sehr auf den heutigen Abend. Dass der 86-jährige Edward Engelbert eines der Bilder identifizieren kann.
Haben aber vor dem Telefonat noch etwas Zeit und fahren noch einmal nach Leipzig. Mit Edward telefonieren können wir auch da. Vorher aber haben wir uns mit Sybille Böhme verabredet. Ihre Großmutter Erna war der Grund, warum Otto Stein seine Zeit in Chemnitz als seine glücklichsten Jahre beschrieben hat. Nach wie vor sind wir auf der Suche nach einer direkten Verbindung zwischen den Engelbergs und Stein.
Sybille Böhme hat für uns auf einem Biedermeiertisch alles, was sie neben ihren Gemälden und zahllosen Zeichnungen an Material von Stein besitzt, ausgestellt:
"Also ich habe jetzt mal nachgeschaut, die ganzen Adressen, die Stein ja selbst geschrieben hat, die ganzen Einladungen für seine Ausstellungen und der Name Engelberg kommt nie drin vor."
Während wir in Böhmes Stein-Schrein weiter nach Hinweisen suchen, kommen wir auf das Thema Erinnerung zu sprechen.
"Und das kann natürlich hier, bei diesem Herrn Engelbertg auch so sein, dass da was ganz anderes drauf war. Er ist in seiner Erinnerung, er ist 90, er war neun. Das ist die Frage, die wir uns auch stellen, wie belastbar ist diese Erinnerung. Tja, genau, vieles was so erzählt wird, wird dann Wahrheit."
Plötzlich bleibt Engelbert an einem Motiv hängen
Am Abend sitzen wir in Leipzig und warten darauf, dass es endlich 23 Uhr wird. Seit unserem persönlichen Treffen vor fast sechs Monaten hatten wir nur per E-Mail mit Edward Kontakt.
"Hi Edward, how are you?"
Fast 15 Flugstunden entfernt sitzt Edward Engelbert auf seiner Couch im Altersheim und schaut sich die Bilder an, die wir ihm geschickt haben.
"No. No. No."
Und schließt eines nach dem anderen aus. Auch das aufgerollte Gemälde, unsere heißeste Spur, unseren Favoriten.
"Ich erinnere mich an eine Frontalansicht, so wie auf dem anderen Bild. Es war kein Profil."
Doch dann bleibt er plötzlich an einem anderen Motiv hängen.
"Es ist das dritte, ja. Es ist braun und ich habe dir ja gesagt, es war braun. Außerdem sieht die Frau meiner Mutter ähnlich. Irgendwas macht das Bild mit mir."
Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet.
"Es tut mir Leid, aber das dritte ist das einzige Bild, das für mich Sinn ergibt."
Die Nummer drei ist also sein Favorit, aber da sind noch zwei andere, die Edward als mögliche Kandidaten bezeichnet.
Wir trennen die Verbindung und hoffen, den alten Mann nicht überfordert zu haben mit dieser digitalen und transatlantischen Fahndung.
"Okay, we will be in touch, right? Yes. Okay, thank you so much for your time. All the best. Thank you Edward!"
Sofort fangen wir an zu diskutieren, schauen die drei Kandidaten in Steins Werkverzeichnis nach. Eins können wir wohl ausschließen. Es ist bereits 1917 in die Schweiz verkauft worden und dort geblieben, kann also kaum 20 Jahre später den Engelbergs gehört haben. Das zweite, Edwards Favorit, ist in Privatbesitz. Hier müssen wir den Stein-Experten Thormann nach Details fragen. Und das dritte gehört offenbar einem Münchner Sammler. Die Suche geht weiter.
Kurz bevor wir ins Bett gehen, erreicht uns eine E-Mail von Edward. Es ist ein Auszug aus seinen Memoiren, an denen er gerade arbeitet.
"Erinnerungen haben ihren ganz speziellen Platz in unserem Gehirn. Um unsere eigene Vergangenheit zu bewahren, brauchen wir einen geschützten Raum und der ist schwer zugänglich. Wieviel von unseren Erinnerungen ist schon wahr? Was davon ist durcheinander geraten, was ist ausgedacht – nicht absichtlich, aber weil uns jemand immer wieder erzählt hat, dass es so passiert ist. Obwohl wir uns daran etwas anders erinnern."
Alle Fakten, die wir überprüfen konnten, haben wir überprüft. Aber bei dieser Geschichte begleiten uns trotzdem immer Unsicherheit und Zweifel.
"Unser Bedürfnis sich zu erinnern, zwingt uns zu Wiederherstellung, aber dieser Prozess ist immer in gewisser Weise zum Scheitern verdammt, wenn es darum geht, das exakte Original wiederherzustellen ganz genau wie die Restauration eines verblassten Gemäldes niemals perfekt sein kann."
"Wir stiegen in den Zug und verabschiedeten uns von Mami. Immer der mahnende Finger an den Lippen: still sein! bis wir zur Grenze kommen. Und als wir endlich die Grenze überqueren, sagt mein Vater: Wir sind in Sicherheit. Er nimmt einen Schokoriegel aus der Tasche und wir teilen ihn. Zum ersten Mal seit langem muss ich nicht mehr still sein."
Fast 80 Jahre später überqueren wir ebenfalls die Grenze. Was aus den Bildern geworden ist, die Edward an sein verlorenes Gemälde erinnert haben, das herauszufinden wird eine Weile dauern. In der Zwischenzeit wollen wir in der Schweiz mehr über die Umstände erfahren, unter denen das Visum erteilt wurde.
Noch auf der Fahrt rauscht eine E-Mail in unser Postfach. Sie ist von unserer Kollegin aus München. Sie hat gefunden, wonach wir schon seit Wochen suchen. Nein, leider nicht das Gemälde, aber dafür das Schweizer Visum, samt Unterschrift – eine neue Spur.
"So, wir haben Annemarie Nadler, Carmen Tobler ..."
Eine neue Spur taucht auf
Uns liegt eine Liste mit Namen der Konsulatsmitarbeiter aus München vor. In unserer Unterkunft in Bern gehen wir sie durch und versuchen, anhand der Namen die Unterschrift zu entziffern.
"Wolgang Gribi, aha, das ist ein G und könnte auf jeden Fall ein R sein ..."
Wir rufen in New York, bei Steven Engelberg an, Edwards Sohn.
"Das ist eine großartige Entdeckung. Ich habe drei Jahre danach gesucht und es hieß immer wieder, dass es einfach unauffindbar sei. Aber jetzt denke ich natürlich, wow, meine Familie verdankt diesem Herrn Gribi ihr Leben und ohne ihn würde ich heute nicht hier sitzen und mich mit euch unterhalten."
Wer also war Wolfang Gribi? Wir müssen mehr über ihn erfahren. Wir fahren ins Bundesarchiv nach Bern und wühlen uns durch mehrere Kisten Material, bis wir auf Gribis Akte stoßen. Als Gribi das Visum für die Engelbergs unterschreibt, ist er 34 Jahre alt und im Generalkonsulat die rechte Hand des Kanzleichefs Paul Frey.
"Hah, wir haben die Liste!"
Volltreffer, wir finden den Nachlass von Gribi.
Also konzentrieren wir uns auf seinen Vorgesetzten Paul Frey. Seine Akte strotzt nur so vor Beschwerden über die Arbeitsbedingungen, über das geringe Gehalt, den fehlenden Urlaub.
"Selbst wenn die jetzt Geldsorgen hatten, heißt das nicht, dass die korrupt gewesen sein müssen, aber diese Kombination aus Unzufriedenheit, kein Geld, Macht ausüben wollen ..."
Die Akten erzählen viel aus der Vergangenheit, trotzdem wissen sie zu wenig. Aber vielleicht lebt ja noch jemand, der diejenigen kannte, die damals am Hebel saßen. Wir fahren in das Altersheim, in dem die Witwe Gribi wohnen soll.
"Du hast nicht wirklich gedacht, wir finden eine 106-Jährige, oder?"
Wir sind, ganz einfach, zehn Jahre zu spät. Und klammern uns auch deshalb an jeden Strohhalm; telefonieren ganze Dörfer nach dem Nachnamen Gribis ab, suchen Kinder und Enkel: entweder tot, nicht auffindbar oder sie wissen nichts. Die Kunstjagd geht langsam an die Substanz.
"Leute, wenn ihr kein Bock habt, dann können wir es auch lassen, aber es ist nun mal so, dass wir die Situation dokumentieren müssen."
Auch das Gemälde, das Edward Engelberg als seinen Favoriten ausgemacht hatte, fällt weg. Olaf Thormann, der Stein-Experte, gibt plötzlich zu, dass er es hat. Gemalt wurde es aber wahrscheinlich erst in den 30er-Jahren in Prag, noch dazu auf dicker Pappe – es konnte also nicht gerollt werden. Und wo Engelberg seine Mutter zu erkennen glaubte, sieht Thormann die Geliebte von Otto Stein.
Doch dann erreichen wir den Sammler in München, unsere wirklich letzte heiße Spur. Das Gemälde war kriegsbeschädigt, heißt es. Wir können es uns ansehen. In München. Dort, wo unsere Suche vor fünf Wochen begonnen hat.
Wir parken vor einer Villa in München, und meine beiden Kollegen Carolyn und Christian gehen vor, um den Rest des Teams anzukündigen. Ich sehe die beiden klingeln und dann hinter der Eisentür verschwinden, hinter der sich auch das Gemälde befinden soll.
Ich warte mit Ton- und Kameramann am Wagen, schaue auf die Uhr, die beiden aber lassen sich Zeit – Zeit, in der ich über die Familiengeschichte der Engelbergs nachdenken kann.
In Amerika angekommen, sind die Engelbergs zwar in Sicherheit, aber gerade erst angekommen auf der untersten Stufe der amerikanischen Erfolgsleiter. Die Mutter Paula schuftet mal als Zimmermädchen, mal in einer Gurkenfabrik. Der Vater ist oft arbeitslos. Dazu holt ihn die Vergangenheit ein. Die Schläge der SS im KZ Dachau zeigen jetzt ihre Wirkung: Immer öfter leidet Jakob Engelberg unter höllischen Kopfschmerzen.
"Eines Tages war ich alleine mit ihm. Er war sehr krank und wurde immer schwächer. Vater nahm meine Hand und sagte: Wenn ich weg bin, wirst du der Mann des Hauses sein. Pass gut auf deine Mutter auf. Das waren seine letzte Worte an mich."
74 Jahre später. Immer noch stehe ich vor dieser Münchner Villa und warte auf meine Kollegen. Carolyn schickt mir von drinnen eine SMS: draußen bleiben!
Was geht in diesem Haus bloß vor sich? Ich dachte, das sei einfach ein alter Mann mit einem Stein-Gemälde. Gerade als ich beginne, mir Sorgen zu machen, geht endlich die Tür in München auf und reißt mich aus meinen Gedanken.
"Wo wart ihr denn die ganze Zeit? Ihr wart jetzt eine Stunde weg!"
"Ihr dürft da nicht rein."
"Warum dürfen wir da nicht rein?"
"Weil die Leute anonym bleiben wollen."
"Ihr dürft da nicht rein."
"Warum dürfen wir da nicht rein?"
"Weil die Leute anonym bleiben wollen."
Ich platze fast vor Neugier, was ist denn jetzt mit diesem Bild?
"Also es ist auf jeden Fall - wir haben das Bild gesehen. Es ist verdammt dicht dran, es sieht gut aus. Wir durften es fotografieren vor neutralem Hintergrund. Ich glaube, das ist es!"
"Quatsch ..."
"Doch! Schau's dir mal an, Alter!"
"Quatsch ..."
"Doch! Schau's dir mal an, Alter!"
Es spricht einiges für das Gemälde - aber auch dagegen
Das Bild, datiert von 1917, würde zeitlich also passen, es ist fast dasselbe Motiv, es ist fast genauso groß, es ist vom Vater des heutigen Besitzers in München erworben worden, es war kriegsbeschädigt und es ist restauriert worden.
"Ich habe gerade dieses Gefühl gehabt, von dem ich schon dachte, ich werde es nie haben, aber das ist das Bild. Vielleicht absurd, vielleicht ist das nur die Situation... Es ist halt wie im Film. Ich meine, das glaubt uns doch wieder kein Schwein. Er hat das Ding da stehen ..."
Natürlich schicken wir sofort die Fotos an Edward Engelberg. Er hält es für durchaus möglich, ohne absolut sicher sein zu können. Sein Sohn Stephen indes schreibt: Faszinierend, die Ähnlichkeit zwischen dem Bild in München und dem in Portland sei wirklich verblüffend.
Aber wir wollen schließlich sicher sein und begeben uns zum Schluss unserer Recherche wieder in das Zentralinstitut für Kunstgeschichte, zu Christian Fuhrmeister.
"Ja, das bizzelt schon, das ist wie die sich schon fast berührenden Finger bei Michelangelo."
Es spricht einiges dafür, dass dieses Gemälde das Gesuchte ist. Allerdings spricht auch etwas Wesentliches dagegen: Es handelt sich nämlich auch hier um Öl auf Malpappe, das Bild konnte also nicht gerollt werden. Aber vielleicht erinnert sich Edward auch falsch an diesen Akt, vielleicht hat seine Mutter einfach nur eine Decke über das Gemälde geworfen?
"Tja, die Geschichte ist schon so lange her. Nur die Bilder wissen alles, die reisen durch die Zeit, aber wir stehen am Ende da und können die letzten Lücken nicht auffüllen."
Unsere Recherche geht zu Ende, nach 7000 Kilometern und Dutzenden von Interviews. Wir haben geschafft, was man in sechs Wochen Recherche schaffen kann. Wir haben die Familienüberlieferung der Engelbergs in fast allen Punkten bestätigt. Und wir haben ein Bild gefunden, das fast alle Kriterien erfüllt. Aber hundertprozentig sicher sein können wir uns nicht.
Vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig. Wichtiger ist, dass wir die Geschichte von Edward Engelberg und seiner Familie erzählt haben, eine Geschichte von Flucht und Neuanfang, die stellvertretend für viele andere steht.
Die Geschichte einer Familie, die eng verwoben ist mit dem Bild eines Malers, der ebenfalls flüchten musste und doch nach Theresienstadt deportiert wurde.
Im Herbst werden wir Edward Engelberg noch einmal besuchen, um ihm von unserer Kunstjagd zu erzählen – und wie nah wir dem verschollenen Gemälde gekommen sind.
"I think that whatever the story is, it saved our lives."