Wo steckt das verschollene Gemälde?
Ein Fluchtkunst-Fall, der aus der Gegenwart hineinführt in die deutsche Vergangenheit. Eine transmediale Spurensuche, die Zuschauer, Zuhörer und Leser zum Teil der Recherche macht. Das ist: die #kunstjagd - in der Kategorie "Beste Innovation" für den Radiopreis nominiert.
Die Geschichte
Wenn die Familie Engelberg sich heute bei Großvater Edward in Portland, Oregon, versammelt, dann blicken sie auf das Gemälde, das sie nur "unsere Mona Lisa" nennen. Es zeigt das Portrait einer Frau. Eigentlich müssten dort zwei Gemälde aus derselben Serie hängen. Aber das zweite Gemälde ist nicht mehr im Besitz der Familie. Das zweite Gemälde ist der Grund, dass sie überhaupt am Leben sind, die vier Generationen der Engelbergs, mehr als 30 Menschen.
München 1938: Am Morgen nach der Reichspogromnacht kommt die Gestapo, um den jüdischen Kaufmann Jakob Engelberg zu verhaften. Die Beamten verschleppen ihn ins KZ Dachau. Zwei Wochen nach der Verhaftung ihres Mannes nimmt Paula Engelberg eines der beiden Gemälde von der Wand und verlässt die Wohnung. Am selben Tag kommt sie mit einem Visum für die Schweiz zurück. Mit ihm erreicht sie bei der Gestapo, dass ihr Mann aus dem KZ frei kommt. Mit ihren Kindern fliehen die Engelbergs über die Schweiz in die USA. Aber was wurde aus dem lebensrettenden Gemälde? Wo steckt es heute, fast 80 Jahre später?
Die Suche
Vier Reporter und die Familie Engelberg wollen es wiederfinden, nicht wiederhaben. Zwei Monate dauert die Live-Recherche. #kunstjagd setzt bei der Suche nach dem verschollenen Gemälde auf transmediale Veröffentlichungen und auf Crowdsourcing. Deutschlandradio Kultur hat die Suche seriell in Form von Kurzreportagen begleitet, mit Gesprächen, dieser langen Abschlussreportage sowie einer eigenen Website. In der Kategorie "Beste Innovation" ist die #kunstjagd für den Deutschen Radiopreis nominiert.
Besuch beim Stein-Experten
Olaf Thormann ist der Stein-Experte schlechthin. In München sind wir auf seine Dissertation gestoßen, jetzt sitzen wir in seinem Garten in Leipzig und Thormann öffnet die Schleifen von grauen Kladden, zum Vorschein kommen die Bilder, die wir in seiner Dissertation nicht sehen konnten. Zunächst lassen wir Thormann ein Foto des Stein-Gemäldes begutachten, das noch bei Edward Engelberg im Wohnzimmer hängt.
Gemeinsam gehen wir dann eine Abbildung nach der anderen durch. Bis wir auf ein Gemälde stoßen, das ganz offensichtlich aufgerollt wurde. Es springt uns geradezu an.
Gemeinsam gehen wir dann eine Abbildung nach der anderen durch. Bis wir auf ein Gemälde stoßen, das ganz offensichtlich aufgerollt wurde. Es springt uns geradezu an.
"Ich finde, das ist nach allem, was wir gesehen haben... ja, nur weil es gerollt ist. Ja genau, weil es gerollt ist. Aber das ist ja das, was uns schon die ganze Zeit irritiert. Wieso hat sie es aufgerollt, wenn sie weiß, dass es das Bild kaputt macht?"
14 mögliche Motive, Aufenthaltsort unbekannt
Wir verlassen Olaf Thormann mit 14 möglichen Motiven. Alle zeigen eine Frau. Bei keinem außer einem ist geklärt, wo es heute steckt. Gemeinsam mit unserer Illustratorin entwerfen wir ein Fahndungsplakat. Gleichzeitig informieren wir Edward Engelberg. Vielleicht kann er eines der 13 Bilder identifizieren. Der fast 90-jährige Mann wird für uns zum ersten Mal in seinem Leben skypen. Uns hoffentlich auf die ganz heiße Spur bringen. Leider aber schließt er eines nach dem anderen aus. Auch das aufgerollte Gemälde, unseren Favoriten. Doch dann bleibt er plötzlich an einem anderen Motiv hängen.
"Es ist das dritte, ja. Es ist braun und ich habe dir ja gesagt, es war braun. Außerdem sieht die Frau meiner Mutter ähnlich... Irgendwas macht das Bild mit mir..."
Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet.
Was aus den Bildern geworden ist, die Edward an sein verlorenes Gemälde erinnert haben, das herauszufinden wird eine Weile dauern. In der Zwischenzeit wollen wir in der Schweiz mehr über die Umstände erfahren, unter denen das Visum erteilt wurde.
Die Spur des Visums
Uns liegt eine Liste mit Namen der Konsulatsmitarbeiter aus München vor. In unserer Unterkunft in Bern gehen wir sie durch und es gelingt uns, anhand der Namen die Unterschrift zu entziffern: Wolfgang Gribi. Das müssen wir unbedingt Steven Engelberg, Edwards Sohn, mitteilen. Er ist begeistert.
"Das ist eine großartige Entdeckung. Ich habe drei Jahre danach gesucht und es hieß immer wieder, dass es einfach unauffindbar sei. Aber jetzt denke ich natürlich, wow, meine Familie verdankt diesem Herrn Gribi ihr Leben und ohne ihn würde ich heute nicht hier sitzen und mich mit euch unterhalten."
Volltreffer, wir finden den Nachlass von Gribi. Die Akten erzählen viel aus der Vergangenheit, trotzdem wissen sie zu wenig. Aber vielleicht lebt ja noch jemand, der diejenigen kannte, die damals am Hebel saßen. Wir fahren in das Altersheim, in dem die Witwe Gribi wohnen soll. Doch wir kommen zu spät. Die Witwe ist seit zehn Jahren tot.
Auch das Gemälde, das Edward Engelberg als seinen Favoriten ausgemacht hatte, fällt weg. Olaf Thormann, der Stein-Experte, gibt plötzlich zu, dass er es hat. Gemalt wurde es aber wahrscheinlich erst in den 1930er-Jahren in Prag, noch dazu auf dicker Pappe – es konnte also nicht gerollt werden.
Die letzte heiße Spur führt nach München
Doch dann erreichen wir den Sammler in München, unsere wirklich letzte heiße Spur. Das Gemälde war kriegsbeschädigt, heißt es. Wir können es uns ansehen. In München. Dort, wo unsere Suche vor fünf Wochen begonnen hat. Der Sammler möchte allerdings anonym bleiben.
Das Bild datiert von 1917, würde zeitlich also passen, es ist fast dasselbe Motiv, es ist fast genau so groß, es ist vom Vater des heutigen Besitzers in München erworben worden, es war kriegsbeschädigt und es ist restauriert worden.
"Ich habe gerade dieses Gefühl gehabt, von dem ich schon dachte, ich werde es nie haben, aber das ist das Bild. Vielleicht absurd, vielleicht ist das nur die Situation... Es ist halt wie im Film."
Natürlich schicken wir sofort die Fotos an Edward Engelberg. Er hält es für durchaus möglich, ohne absolut sicher sein zu können. Sein Sohn Stephen indes schreibt: Faszinierend, die Ähnlichkeit zwischen dem Bild in München und dem in Portland sei wirklich verblüffend.
Aber wir wollen schließlich sicher sein und begeben uns zum Schluss unserer Recherche in das Zentralinstitut für Kunstgeschichte. Es spricht einiges dafür, dass dieses Gemälde das Gesuchte ist. Allerdings spricht auch etwas Wesentliches dagegen: es handelt sich nämlich auch hier um Öl auf Malpappe, das Bild konnte also nicht gerollt werden. Aber vielleicht erinnert sich Edward auch falsch an diesen Akt, vielleicht hat seine Mutter einfach nur eine Decke über das Gemälde geworfen?
Sechs Wochen Recherche, 7000 Kilometer
Unsere Recherche geht zu Ende, nach 7000 Kilometern und Dutzenden von Interviews. Wir haben geschafft, was man in sechs Wochen Recherche schaffen kann. Wir haben die Familienüberlieferung der Engelbergs in fast allen Punkten bestätigt. Und wir haben ein Bild gefunden, das fast alle Kriterien erfüllt. Aber hundertprozentig sicher sein können wir uns nicht.
Vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig. Wichtiger ist, dass wir die Geschichte von Edward Engelberg und seiner Familie erzählt haben, eine Geschichte von Flucht und Neuanfang, die stellvertretend für viele andere steht. Die Geschichte einer Familie, die eng verwoben ist mit dem Bild eines Malers, der ebenfalls flüchten musste und doch nach Theresienstadt deportiert wurde.
Im Herbst werden wir Edward Engelberg noch einmal besuchen, um ihm von unserer Kunstjagd zu erzählen – und wie nah wir dem verschollenen Gemälde gekommen sind.
"I think that whatever the story is, it saved our lives.”
Das Manuskript im PDF-Format gibt es hier zum Herunterladen.