Auswahlbibliographie
Dombey und Sohn (Dombey and Son), 1848; deutsch 1848.
The Pickwick Papers, 1837, deutsche Erstausgabe: Die Pickwickier, 1839.
Oliver Twist, 1837, deutsch 1838.
Aufzeichnungen aus Amerika (American Notes), 1842, deutsch 1843.
Eine Weihnachtsgeschichte (A Christmas Carol), 1843, deutsch 1844.
David Copperfield, 1850; deutsch 1850.
Eine Geschichte aus zwei Städten (A Tale of Two Cities), 1859; deutsch 1860.
Der Charakter in einer Welt jenseits von Zeit
Charles Dickens war ein Popstar des viktorianischen Zeitalters: Der überwältigende Erfolg seiner Romane führte dazu, dass der Schriftsteller bereits als 30-Jähriger von Kritikern wie Lesern gleichermaßen gefeiert wurde.
Charles Dickens ist mehr als ein von vielen Menschen längst vergessener Autor, dessen Bücher weltweit in den Regalen verstauben. Sein Werk überzeugt durch seine rastlose und innovative Sprache mit wundervollem Drive: die gute Laune, das Überschäumende und die Sozialkritk machen sein Werk unvergleichlich.
Elternhaus und Kindheit
Dickens' Vater John arbeitet in einem Marine-Zahlungsbüro und lebt über seine Verhältnisse. Von seiner Mutter Elisabeth hat Charles das Talent zur detailtreuen Beobachtung und Imitation geerbt. In jungen Jahren ist Charles klein und kränklich. Später ist er überzeugt, dass jene frühe Kränklichkeit von unschätzbarem Nutzen für ihn gewesen sei, weil er dadurch eine Neigung zum Lesen entwickelt. Sein Vater hat eine kleine Bibliothek mit Werken von Roderick Random, Peregrine Pickle, Don Quixote, Gil Blas, Robinson Crusoe, Tausendundeine Nacht und persischen Märchen.
Als John Dickens 1822 durch die Marinebehörden von Portsmouth nach London versetzt wird, verschärfen sich die finanziellen Probleme der Familie. Das Leben in der Hauptstadt ist teuer, daher beschließen die Eltern, ihren Sohn von der Schule zu nehmen. Charles soll in der Schuhcremefabrik eines Verwandten eigenes Geld verdienen und zum Lebensunterhalt beitragen. Sechzig Stunden pro Woche muss er schuften.
Das London der 1830er Jahre
1824, als Charles 12 Jahre alt ist, zieht die Familie in das Londoner Arme-Leute-Viertel Somers Town. Ihre finanziellen Verhältnisse stabilisieren sich, deshalb darf Charles wieder die Schule besuchen. Im Mai 1827 tritt er eine Lehrstelle in einer Anwaltskanzlei an und wird Gerichtsstenograf. Aus dieser Tätigkeit heraus entwickelt er die Idee als Gerichts- und Parlamentsreporter Texte über brisante Themen wie Arbeiteraufstände oder Armengesetzgebung für lokale Zeitungen zu schreiben.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind Bücher für viele unerschwinglich. Der Abdruck in Zeitschriften macht Literatur verfügbar und Dickens hat keine Bedenken gegen die sich so entwickelnde Konsum- und Massenliteratur. Sein Sinn für Publizität, aber auch seine Weigerung, sich auf eine bestimmte Leserschicht festzulegen beflügeln seine Arbeit und er schreibt auf Drängen eines Verlags einen Fortsetzungsroman.
Die 1840er sind geprägt von Hungersnöten. Es sind die "hungry forties", wie man sie nennt. Das hat mit der nordeuropäischen Kartoffelfäule, den Korngesetzen und den hohen Einfuhrzöllen auf Korn. In England gibt es einen großen Zuzug aus Irland und Schottland - eine starke Migrationsbewegung, die soziale Probleme mit sich bringt. Es ist eine Zeit des Umbruchs, der Erneuerung. Die Industrialisierung ist auf ihrem Höhepunkt. Große Veränderungen stehen an, die Dickens in seinem Roman, 'Dombey and Son' schildert, begleitet und kritisch hinterfragt.
Literarischer Schaffensdrang
1836, einen Tag nach seinem 24. Geburtstag, erscheinen Dickens' Londoner Skizzen, in denen er die Atmosphäre und Menschen auf den Londoner Straßen portraitiert. Die Londoner Skizzen sind Dickens erster großer literarischer Erfolg. Für eine Monatszeitschrift schreibt er die Pickwick Papers und je nachdem, wie seine Leser auf die monatlichen Folgen reagieren, führt Charles Dickens von Monat zu Monat neue Charaktere ein oder lässt andere wieder verschwinden. Die Pickwickier mit dem charakterlich von Grund auf guten Protagonisten Sam Weller erfreut sich wachsender Beliebtheit. Mit seiner für die Londoner Unterschicht typischen Weltanschauung verleiht Sam Weller den einzelnen Episoden einen sozialkritischen Unterton. Sams Sprache und seine flotten Sprüche gehen als sogenannte "Wellerismen" bald sogar in den allgemeinen Sprachgebrauch über.
Dickens' Romane verarbeiten oft die sozialen und gesellschaftlicher Themen seiner Zeit. Oliver Twist ist seine Antwort auf das New Poor Law, die neue Armengesetzgebung von 1834. In dieser Gesetzgebung werden menschenunwürdige "work houses" für die Ärmsten der Armen bereit gestellt.
Das urbane Proletariat zu Beginn der Industrialisierung verarmt und lebt dort unter unmenschlichen Bedingungen. Die Preise für Grundnahrungsmittel schießen in die Höhe, die Verelendung von Millionen von Menschen und die Entwürdigung der in die Städte ziehenden Kleinbauern führt zum Abstieg einer ganzen Gesellschaftsschicht.
Herzensgüte und Mitgefühl
Mit Oliver Twist konfrontiert Dickens seine Leser mit der düsteren, schattenhaften Atmosphäre sozialer Missstände in Armenhäusern, Verbrecherslums und einer sarkastischen Rhetorik. Dickens beleuchtet in seinen Romanen die inhumanen Arbeitsbedingungen in den Fabriken und sieht darin, wie Karl Marx, eine Entfremdung des Menschen. Als Mittel gegen die Entfremdung fordert er allerdings nicht die Veränderung der Produktionsverhältnisse durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, sondern die Vermenschlichung der sozialen Beziehungen durch Herzensgüte und Mitgefühl.
Mit dem Roman 'Dombey and Son' gelingt Dickens der finanzielle Durchbruch. Allein die monatlichen Fortsetzungen des Romans bringen ihrem 36-jährigen Autor neuntausend britische Pfund, was einer Summe von rund 1,3 Millionen Euro entspricht. Er kann sich über Mangel an Arbeit nicht beklagen und sein Schaffensdrang und Ehrgeiz treiben ihn immer weiter an. Mit dem beruflichen Erfolg kommt auch der gesellschaftliche Aufstieg und er wird Mitglied einiger renommierter Londoner Clubs, wo er mit bekannten Künstlern und Gelehrten verkehrt.
Dickens arbeitet unermüdlich, er veröffentlicht neue Zeitschriften, hält diverse Lesungen und schreibt 'A tale of two cities'. Mit diesem Roman läutet Charles Dickens die dritte und letzte Phase seines Schaffens ein. Die Romane, die er fortan schreiben wird, fallen insgesamt deutlich düsterer aus als seine frühen Romane. Die Französische Revolution dient ihm in 'A tale of two cities' als Beispiel dafür, wie ein menschenfeindliches Klassensystem unweigerlich zu dessen eigenem Untergang führt.
Eindrücke in Übersee
Am 4. Januar 1842 brechen Charles Dickens und seine Frau Catherine von Liverpool mit dem Schiff in Richtung USA auf. Begleitet werden beide lediglich von einer Zofe. Die inzwischen vier Kinder - sie sind knapp ein bis vier Jahre alt - bleiben in England zurück. Dort werden sie von einer befreundeten Familie betreut.
Dickens ist vor seiner Abreise fasziniert von dem amerikanischen Experiment: Ein Land, das nicht von Königen und Adeligen regiert wird. In der neuen Welt angekommen, wird er begeistert in Empfang genommen. Von der Hauptstadt Washington ist er allerdings enttäuscht, weil diese Stadt einer Baustelle gleicht, im Gegensatz zu Großstädten wie Boston oder New York. Er folgt einer Einladung in den Senat, von dem er alles andere als beeindruckt ist. Die Politiker scheinen nur am Geld interessiert zu sein und das ist auch sein größter Vorwurf: dass Amerika eine Nation sei, in der es vor allem ums Geldmachen gehe.
Auf das Ausmaß an öffentlicher Aufmerksamkeit ist das Ehepaar Dickens nicht vorbereitet. Die Aufdringlichkeit der Menschen, die sie jeden Abend sehen wollen, ist ein regelrechter Kulturschock für ihn: "Ich kann nichts tun, was ich tun will, nirgendwohin gehen, wohin ich gehen möchte, und nichts sehen, was ich sehen will. Wenn ich die Straße betrete, folgt mir eine ganze Volksmenge. Wenn ich daheim bleibe, wird das Haus durch Besucher in einen Jahrmarkt verwandelt."
Familienvater und Ehemann
"Wenn mein Vater an einer seiner langen Geschichten schrieb und von der Ausarbeitung der Handlung und der Entwicklung der Figuren vollkommen gefesselt war, lebte er zweifellos zwei Leben: eines mit uns und eines mit seinen Phantasiegestalten. Und ich bin mir sogar sicher, dass die Kinder seines Geistes für ihn manchmal viel realer waren als wir," sagt eine seiner Töchter über ihn. Hatte er vormittags hart gearbeitet, war er manchmal ziemlich gedankenverloren, wenn er zum Mittagessen erschien. Oftmals kam er herein, nahm sich auf mechanische Art etwas zu essen und kehrte in sein Zimmer zurück, um die liegengelassene Arbeit abzuschließen, wobei er die ganze Zeit über kaum ein Wort sprach.
Obwohl Dickens ein Familienmensch ist, muss seine Frau Catherine angesichts seiner Liebe zur Literatur zurückstecken. Sie erleidet 1851 einen Nervenzusammenbruch. Sein Vater John Dickens stirbt an den Folgen einer Blasenkolik. Zwei Wochen später stirbt Dora, seine jüngste Tochter im Alter von acht Monaten. Dickens selbst ist 40, seine Frau 38 Jahre alt. Ihr Leben an der Seite dieses Mannes ist für Catherine kein Vergnügen und sie gerät in einen Zustand körperlicher und seelischer Erschöpfung. Infolge diese Krise verlässt Charles Catherine 1858. Nachdem sie aus dem gemeinsamen Haus in Gad’s Hill ausgezogen ist, sehen sich die beiden nie wieder. Catherine zieht gemeinsam mit dem ältesten Sohn, dem 21-jährigen Charley, in ein von Charles Dickens gemietetes Haus in London und erhält einen jährlichen Unterhalt von 600 Pfund, das entspricht etwa 80.000 Euro.
Insgesamt dreizehn Romane hat Charles Dickens veröffentlicht, seit er 1836 mit dem Bücherschreiben begonnen hat. Von nun an will er sich auf seine öffentlichen Lesungen konzentrieren, doch sein Gesundheitszustand verschlechtert sich. Nach seiner letzten öffentlichen Lesung am 15. März 1870 in London, beginnt er die Arbeit an seinem nächsten Roman, 'The mystery of Edwin Drood'. Er hat gerade mal die Hälfte des Romans verfasst, als Dickens einen Schwächeanfall erleidet. Er stirbt am 9. Juni 1870.
Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2020. Hier erhalten Sie das Skript als PDF.