Der Autor Uli Hufen über russische Romanzen:
Aljoscha Dimitriewitsch, Alexander Wertinskij und Wadim Kosin gehören zu den größten Sängern russischer Romanzen im 20. Jahrhundert. Ihre Hits sind für russische Ohren genauso unsterblich wie die von Edith Piaf oder Charles Aznavour für französische.
Doch Dimitriewitsch, Wertinskij und Kosin brachen im Laufe des Lebens nicht nur verschiedenen Damen und Herren das Herz, sondern auch mit dem eigenen Vaterland. Das Ergebnis waren tragische Biografien - und große Kunst. Die Lange Nacht der russischen Romanzen feiert diese drei untröstlichen Meister.
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Ursprung der russischen Romanzen
"Die Ursprünge der russischen Romanzen liegen in Westeuropa. Das kommt von den italienischen Canzonettas. Mit klassischen Liedern hat das nichts zu tun, mit Schubert oder Hugo Wolf. Romanzen sind populäre, städtische Lieder, die Texte sind nicht von großen Dichtern wie Goethe. Und selbst wenn sie von so jemandem sind, dann kommt die Musik nicht von Schubert, sondern von irgendeinem Amateur." (Konstantin Kasansky)
Über Konstanin Kasansky
Konstantin Kasansky stand 1984 in New York neben Aljoscha Dimitriewitsch auf der Bühne. In den 60er-Jahren war Kasansky ein Star der bulgarischen Popmusik, 1970 kam er nach Paris. Heute lebt Kasansky am Montmartre. Konstantin Kasansky spielte jahrelang mit den Dimitriewitschs und anderen Stars der russischen Zigeunermusik in legendären Pariser Cabarets wie dem "Rasputin", dem "Zarewitsch" oder dem "Scheherazade". Vor allem aber produzierte er in den 70er-Jahren mehrere LPs in Paris, die zum Schönsten gehören, was die russische Musik jener Jahre zu bieten hat.
Uli Hufen über Konstantin Kasansky:
Romanzen sind weder russische Volkslieder noch russische Kunstlieder, sondern moderne, an westlichen Vorbildern geschulte leichte Unterhaltungsmusik. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts tauchen in Moskau und Petersburg erstmals professionelle Romanzeninterpreten auf, die Roma sind. Sowohl Einzelsänger, als auch die ersten sogenannten Zigeuner-Chöre.
Von Anfang an sind die Übergänge allerdings fließend: Das Repertoire wird gemischt, russische Sänger singen Zigeunerromanzen, Roma singen russische Romanzen. Die berühmten Zigeunersänger des 19. und frühen 20. Jahrhunderts leben wie ihre russischen Kollegen in den großen Städten und sind hoch angesehen. Sie ziehen keineswegs in jenen mythischen Kibitka-Wagen durchs Land, die Alexander Puschkin in die russische Folklore eingeführt hatte. Der Erfolg der Zigeunersänger und -chöre ist so groß, dass der Begriff Zigeunerromanze zum Ende des 19. Jahrhunderts fast zu einem Synonym für russische Unterhaltungsmusik wird.
Nach der Revolution 1917 spaltet sich die Entwicklung der russischen Unterhaltungsmusik genau wie die gesamte russische Kunst in einen in- und einen ausländischen Zweig. Sänger wie Alexander Wertinskij, Jurij Morfessij oder die Poljakows verlassen Russland, während in Moskau und Leningrad neue Stars wie Wadim Kosin geboren werden.
"Und statt Romanzen sagte man oft einfach: Zigeunerromanzen. Das lag nicht daran, dass die von Zigeunern geschrieben wurden. Aber im Text ging es um Zigeuner oder es wurden bestimmte Attribute des romantischen, freien Zigeunerlebens genannt: die Kibitka, die Troika, 7-seitige Gitarren. Dazu kam eine bestimmte Art des Gesangs, der Interpretation, in der es nur Extreme gab: entweder weinen oder tanzen." (Maxim Krawtschinskij, Experte für russische Musik)
"Man hat mich um eine Romanze gebeten. Ich kann sie nicht singen, weil meine Schwester sie immer gesungen hat. Walja ist vor vier Monaten gestorben. Darum: eine andere Romanze!"
New York 1984. Zwei Jahre vor seinem Tod ist Aljoscha Dimitriewitsch zum ersten Mal im Leben nach New York gereist. Sein Publikum in New York spricht wie er selbst Russisch: Es sind russische Emigranten. Wie die sich fühlen, weiß Dimitriewitsch genau, er ist selbst einer. Auch, wenn Aljoscha Dimitriewitsch nur ein paar Jahre in Russland verbracht hat, vielleicht sieben, vielleicht acht, als Kind. Denn seit den späten 20er-Jahren lebt der Klan der Dimitriewitschs in Paris. Doch egal ob in Paris oder jetzt in New York: Für sein Publikum ist Aljoscha Dimitriewitsch der Inbegriff uralter russischer Traditionen. Aljoscha Dimitriewitsch singt Romanzen. Russische Romanzen. Zigeunerromanzen.
"Sie haben einen Vorteil: Sie sind jung. Und sie sind nicht im Cabaret erfolgreich, sondern in Restaurants: "Poisson d'Or - Der Goldene Fisch". Und sie entsprachen eher den Vorstellungen über Zigeuner von Leuten, die Puschkin und Tolstoj gelesen hatten." (Konstantin Kasansky)
Der Unterschied zwischen Restaurant und Cabaret ist, dass die Cabarets erst abends um 11:00 aufmachten, zu Essen gab es da nichts, höchstens Kaviar. Ins Cabaret ging man nach dem Essen, um das Programm zu sehen. Das Programm ging meist bis 3 Uhr Nachts oder sogar bis in den frühen Morgen hinein.
Das Publikum bestand zum Teil aus Franzosen, zum Teil auch aus russischen Emigranten. Am auffälligsten, zumindest in den 20er-Jahren waren aber Amerikaner, die sich auf Grund der günstigen Wechselkurse in Paris wie Millionäre fühlen durften. Auch die Leute, die die russischen Cabarets eröffneten, hatten mit Russland oft wenig zu tun.
Joseph Kessel, ein Freund der Dimitriewitschs, beschrieb diese Welt 1927 in seinem Roman "Ab Mitternacht":
"Auf diese Weise miteinander vermengt, ausgehungert, verkleidet, vermittelten sie - Gardeobersten, Professoren, adlige Damen, Prostituierte, improvisierte Artisten, berühmte Zigeuner - bald aus aufrichtiger und ganzer Seele, bald mit schmierigem Komödiantentum, den mit Geräusch, Licht und Champagner überschütteten Paaren den barbarischen, verzweifelten und manchmal erhabenen Atem, den das grenzen- und gestaltlose Russland in den Gesängen, Tänzen und Herzen seiner unglückseligen Kinder niedergelegt hatte."
Die Dimitriewitschs bezaubern das Champagner-selige Publikum mit leidenschaftlichen russischen Romanzen. Romanzen wie "Rasstavajas, ona govorila" - "Zum Abschied sagte sie".
"Wir, die Boheme, trafen uns in einer kleinen Kellerkneipe unter dem Rat der Stadt, wo es billigen Wein und Käse gab. Tagelang debattierten wir hier und taten sonst praktisch gar nichts. Ich saß da Tag und Nacht - ein großer Kerl im Frack, verächtlich und arrogant, immer mit einer Blume im Knopfloch, ein Snob durch und durch. Ein Bürgerschreck!"
"Aus Angst vor dem Publikum und meinem eigenen Gesicht schminkte ich mich stark: bleiweiß, dazu schwarze Tusche und ein knallroter Mund. Um meine Unsicherheit und Erregung zu verbergen, sang ich in einem geheimnisvollen, mondscheinartigen Halbdunkel, aber weiter als bis in die fünften Reihe hörte man mich nicht. Dabei gab es nur 300 Plätze in dem kleinen Theater. Das leicht zu beeindruckende und der Romantik verfallene weibliche Publikum nahm mich über die Maßen begeistert auf und ertränkte mich in Blumen. Ich musste das Theater durch den Hintereingang verlassen."
Seine Lieder erzählen häufig spannende Geschichten, wie kleine Novellen haben sie eine klar erkennbare Handlung und streben auf ein Finale zu. Die Sujets entsprechen dem Milieu, aus dem der Sänger kommt und für das er schreibt: die großstädtische Boheme. Und sie erfüllten ein offenbar starkes Bedürfnis: Mit dramatischen Geschichten über das Großstadtleben, über zerstörte Beziehungen zwischen Männern und Frauen, über Sünden und Drogen lieferte Wertinskij hochfeinen Eskapismus mitten im Krieg. Palmen, exotische Schauplätze und Figuren, nicht unähnlich vielen frühen Stummfilmen.
Einer seiner größten Hits trägt den Titel "Lilowyj Negr" - "Der lilafarbene Neger". Darin fragt sich ein enttäuschter Liebhaber, wo die untreue Verflossene wohl abgeblieben ist, ob sie noch immer mit dem Malaien – dem Südostasiaten - zusammen ist oder mit dem Portugiesen oder ob sie doch in einer Absteige in San Francisco gelandet ist, wo ihr ein lilafarbener Neger den Mantel reicht. Mit Liedern wie diesem gibt Wertinskij dem alten Genre Romanze ein neues Gewand für ein neues Jahrhundert.
1918 wird aus der Oktoberrevolution ein Bürgerkrieg. Die neuen Machthaber und ihre Rote Armee kämpfen gegen eine bunte Koalition von in- und ausländischen Gegnern, für die sich der Sammelbegriff die Weißen eingebürgert hat. Wertinskij ist in Südrussland auf Tour und folgt den Weißen, die immer weiter in Richtung Krim gedrängt werden. Ab 1925 wohnt er dann in Paris, ist aber in diesen Jahren überall in Europa, in Nordafrika und der Levante unterwegs. Wertinskij ist ein Star im Europa jener Jahre. Im Herbst 1934 geht Alexander Wertinskij in die USA und wohnt dort bei Marlene Dietrich, der er auch ein Lied widmete: Möglicherweise hat Marlene Dietrich ihn deswegen aus ihrem Haus geworfen: Wertinskij zeichnet in "Marlen" das witzige Porträt einer männerverschlingenden Dame, von der sich besser fern hält, wer noch alle Tassen im Schrank hat.
"Und dann betrat ein großer Mann in engem Frack ohne jede Ankündigung die Bühne. Mit einem beinah leeren Gesicht, einem Gesicht scheinbar ohne Augen, mit weißlichen, grauen Haaren. Hinter ihm tauchte ein kleiner Begleiter auf und setzte sich an den Flügel. Der Mann trat nach vorne und sagte ohne jede Ankündigung sehr deutlich und doch leise: "In der Moldauischen Steppe"." (Alexander Galitsch)
Alexander Wertinskij war zurück.
"Der Pianist spielte das Intro und der Mann mit dem ausdruckslosen, leeren Gesicht sang die ersten Zeilen: Und wir erkannten einen großen Meister mit einem erstaunlich schönen Gesicht, glänzenden, gewitzten Augen, mit ausdrucksstarken, beweglichen Gesten und Bewegungen, die nur Jahre harter Arbeit ermöglichen und die nur Leuten mit großem Talent gegeben sind." (Alexander Galitsch)
Über Alexander Galitsch:
Alexander Galitsch war selbst ein berühmter Interpret russischer Lieder, die sich zunehmend auch kritisch mit dem Sowjetregime auseinandersetzten. Deshalb emigrierte der am 20. Oktober 1918 in Jekaterinoslaw geborene Galitsch – dessen realer Name Ginsburg war – 1974 zunächst nach Norwegen und dann nach Paris, wo er am 15. Dezember 1977 unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen ums Leben kam.
Im April 1944 betritt Alexander Wertinskij erstmals ein russisches Tonstudio und nimmt insgesamt 15 Lieder auf. Kurz darauf beginnt er Konzerte zu geben, zwischen 2.000 und 3.000 Konzerten sind es bis zu seinem Tod. Aber er darf zwar singen, doch die Presse schweigt ihn tot. Im Radio wird er nicht gespielt.
Welche Logik hinter den bizarren Entscheidungen der sowjetischen Kulturbürokratie steckt, ist im Detail nicht mehr nachzuvollziehen. Aber es war wohl so, dass Wertinskij weiterhin als verdächtig galt. Eine einzige Auslandsreise konnte in den 30er- und 40er-Jahren leicht zu zehn Jahren Lagerhaft führen. Wertinskij aber hatte mehr als 20 Jahre im seit 1945 feindlichen Westen gelebt.
>> Sondersendung zum 75. Geburtstag von Wadim Kosin im Magadaner Fernsehen auf Youtube
"Wie seltsam es im Leben zugeht: Man hebt dich in den Himmel, über dich wird geredet, in Zeitungen geschrieben, dir werden Gedichte und Lieder gewidmet, zu deinen Ehren verdrehen die Künstler zuweilen sogar die Realität. Und dann kommt ein Moment und: kein Wort mehr über dich, Grabesstille." (Wadim Kosin)
"In meiner Jugend lernte ich die Armut kennen: Ich hatte nur einen Anzug und wenn ich wusste, dass abends ein Konzert anstand, bügelte ich ihn morgens und setzte mich dann den ganzen Tag über nirgends hin. Ich wollte natürlich wie alle jungen Leute in Restaurants herumsitzen und im Theater, aber ich konnte mir das nicht erlauben."
Wadim Kosin begann in den 20er-Jahren, in Kinos zu singen. Ab 1935 ist er Liebling von Millionen. Als im Juni 1941 die Deutsche Wehrmacht in der Sowjetunion einmarschiert, tut Wadim Kosin, was alle großen Stars jener Jahre tun: Er gibt unaufhörlich Konzerte an der Front.
Dann, auf dem Schlachtfeld zeichnet sich der Sieg der Sowjetunion schon deutlich ab, nimmt Kosins Schicksal eine tragische Wendung. Doch auf paradoxe Weise ist es diese Wendung, die aus dem großen Sänger Wadim Kosin einen Mythos machen wird.
"Protokoll Nr 7, NKWD der UdSSR: Kosin Wadim Alexejewitsch wird wegen antisowjetischer Agitation, Verführung Minderjähriger und Unzucht mit Männern zu 8 Jahren Arbeitslager verurteilt. Die Strafe beginnt am 12. Mai 1944. Das Privateigentum wird konfisziert."
Bis heute spekulieren Kosins Fans darüber, was der eigentliche Anlass für seine Verhaftung war. Vier Versionen werden immer wieder genannt: Kosin habe während des Krieges vor polnischen Kriegsgefangenen in Chabarowsk gesungen, er habe dem Geheimdienstchef Lawrentij Berija die Geliebte ausgespannt, er habe sich geweigert, Lieder über Stalin zu singen und er habe lautstark protestiert, weil seine Verwandten nicht aus dem belagerten Leningrad gerettet wurden. Als Kosin aus der Lagerhaft 1952 frei kommt, beschließt er in Magadan zu bleiben.
"Er hätte heimkehren können, wenn er gewollt hätte. Vielleicht nicht nach Moskau, aber nach Leningrad. Aber er hatte wohl auch Angst. Als er das erste Mal entlassen wurde, lebte Stalin noch. Außerdem wartete er darauf, dass man ihn rief: Er war ja ein großer Sänger und wollte nicht wie irgendein Gefangener mit dem Sack über der Schulter zum Bahnhof gehen." (Maxim Krawtschinskij, Experte für russische Musik)
Die Parteizentrale in Moskau hatte Kosin vielleicht vergessen, das russische Publikum aber keineswegs. 1955/56 reist er auf einer Tournee mit anderen Künstlern des Magadaner Theaters neun Monate kreuz und quer durch den fernen Osten und Sibirien. Die Truppe gibt mehr als 200 Konzerte.
Etwa um diese Zeit, Mitte der 50er-Jahre, sorgt eine technische Revolution für neuen Schwung in Kosins Karriere. In sowjetischen Kaufhäusern tauchen die ersten Tonbänder auf. Kosin ist begeistert. Zu Hause in Magadan nimmt er sich fortan immer wieder auf. Und die Aufnahmen dokumentieren: Unbedrängt von Zensur und Theaterleitung entwickelt Kosin sein Repertoire stetig weiter, schreibt Lieder zu Texten alter und neuer Dichter.
Dann, Kosin war wohl schon über 80 Jahre alt, passierte ein Wunder. Seit mehr als 40 Jahren hatte es keine neuen Schallplatten von ihm gegeben. Jetzt aber begann die Perestroika und eines Tages trug der Wind der Veränderungen Kosin Erstaunliches zu. In den USA waren zwei Langspielplatten erschienen. Mit seinen Liedern.
Als Wadim Kosin dann im Dezember 1994 stirbt, hinterlässt er viele Tonbänder, ein altes verstimmtes Klavier, hunderte Konzertplakate, Bücher, Briefe aus aller Welt und zwei Katzen namens Tschunja und Bulldozer.
50 Jahre hatte er in Magadan verbracht, 50 Jahre lang hatte die offizielle Sowjetunion ihn tot geschwiegen. Doch am Ende hatte er die Sowjetunion überlebt.
Produktion dieser Langen Nacht:
Autor: Uli Hufen, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Regie: Rita Höhne, Sprecher: Daniel Minetti, Alexander Radszun, Joachim Schönfeld, Ton: Martin Eichberg, Webvideo- und Webproduktion: Jörg Stroisch
Über den Autoren Uli Hufen:
Uli Hufen wurde 1969 in Weimar geboren, ging nach dem Fall der Mauer 1990 in den Westen und studierte Slawistik und Osteuropäische Geschichte in Köln und St. Petersburg. Seit vielen Jahren ist er als Autor tätig, berichtet für verschiedene Medien – unter anderem den WDR und den Deutschlandfunk - über Russland und die postsowjetischen Staaten.
http://www.ulihufen.de