"Nur keinen Haydn und Mozart"
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Der Dirigent und Musik-Verleger Sergej Kussewitzky machte sich in seinen frühen Jahren besonders für die junge russische Avantgarde stark. Er unterhielt ein eigenes Orchester, mit dem er wochenlange Wolga-Tourneen per Dampfer unternahm: 1910, 1912 und 1914.
Das Jahr 1914 wird gewöhnlich mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges identifiziert. Musikgeschichtlich scheint es im Vergleich mit dem gerade verflossenen, dem berühmt-berüchtigten Uraufführungsjahr von Strawinskys "Sacre du Printemps", eher harmlos zu sein. Für Oscar Bie, den prominenten Berliner Feuilletonisten, Musikkritiker und Verfechter einer Philosophie des reinen Genusses und des kostbaren Augenblicks, gilt das jedenfalls nicht.
Im Frühjahr 1914 wird der Kunstschriftsteller und Verfasser viel gelesener Bücher über Oper, Tanz und Musik, von dem es heißt, was er sage, wiege wie Gold, nach Russland eingeladen, um an einer mehrwöchigen Wolgareise mit großem Orchester und viel Musik teilzunehmen. Das Erlebnis beeindruckt Oscar Bie tief und wird ihn nachhaltig beschäftigen.
Veranstaltet wird die Reise von dem Dirigenten, Musik-Verleger und Mäzen Sergej Kussewitzky (1874- 1951). Er vergab Kompositionsaufträge und machte sich besonders für die junge russische Avantgarde stark. Internationales Aufsehen erregten seine langen Wolgatourneen in den Jahren 1910, 1912 und 1914, bei denen er mit seinen Musikern und einer kleinen Schar prominenter Solisten die russische Provinz bereiste.
Oscar Bie und Sergej Kussewitzky kannten sich schon aus Berlin, wo der russische Dirigent einige Jahre gelebt und um sich einen illustren Künstlerkreis geschart hatte. Sergej Kussewitzky hatte in Berlin bis 1909 ein großes Haus geführt. Fjodor Schaljapin, Fritz Kreisler, Arthur Nikisch, Leopold Godowski verkehrten dort. Auch Busoni gehörte zum Freundeskreis des gastfreundlichen Russen.
Der "geborene Dirigent"
Kussewitzkys Berliner Debüt mit den Philharmonikern fand am 23. Januar 1908 statt. Der international gefeierte Chefdirigent des Orchesters, Arthur Nikisch soll zu ihm gesagt haben: "Ich bin hingerissen. Wie konnten Sie in so kurzer Zeit ein solches Niveau des Dirigierens erreichen? Sie sind der geborene Dirigent. Alles ist da - die Technik, der Ausdruck, das Temperament."
Ein schwimmendes Orchester
Im Jahr 1914 unternimmt Kussewitzky wieder eine große Frühjahrs-Wolgareise. Er hatte für sein Unternehmen einen Raddampfer gechartert. Über 120 Mitarbeiter, darunter das 65-köpfige Orchester, soll Kussewitzky mitgenommen und auf dem Schiff untergebracht haben. Darüber hinaus ein Dutzend Presseleute, Korrespondenten deutscher, englischer und amerikanischer Musikzeitschriften, auf die er als Werbeträger für seine weiteren Unternehmungen setzte.
Den Gästen fehlte es an nichts, sie mussten weder auf ihre gewohnte Lektüre noch auf die feine Küche verzichten. In den Salons des Raddampfers war die Moskauer Gesellschaft unterwegs in die Provinz.
Per Schiff in die entlegensten Gebiete des russischen Reiches
Worum ging es Kussewitzky mit diesem kostspieligen Unternehmen überhaupt - außer für sich und sein neues Privat-Orchester Reklame zu machen? Vor allem wollte er die Menschen in den entlegensten Gebieten des russischen Reiches mit neuer, ihnen unbekannter Musik beglücken, ihr Leben verschönern und vertiefen.
Und gleichzeitig hoffte er, sein Know-how im gänzlich neuen Orchester-Tournee-Betrieb zu perfektionieren und Erfahrungen für zukünftige Auftritte und Reisen zu machen. Nicht weniger mag ihn die Vorstellung von einer schwimmenden Philharmonie, die immer neue Ziele ansteuert, beflügelt haben.
"Nur keinen Haydn und Mozart!"
Auf das Programm seiner Wolgatournee 1914 setzte Kussewitzky Beethovens Sinfonie "Eroica", dessen Coriolan-Ouvertüre, Wagners Parsifal-Vorspiel, Liszts "Mazeppa" und den "Don Juan" von Richard Strauss. Und überdies zwei jüngere russische Werke, die 2. Sinfonie von Sergej Rachmaninow und die c-Moll-Sinfonie op. 29 von Alexander Skrjabin.
Bei seiner Auswahl musste er auf die Wünsche einer mit klassischer Musik nur wenig vertrauten Hörerschaft Rücksicht nehmen. Oscar Bie schreibt:
"Das Publikum der Wolgastädte will keine alte Musik hören. Man schrieb dem Dirigenten: 'nur keinen Haydn und Mozart!' Das Land, das in der Architektur kaum eine Erinnerung an das Rokoko hat, nur schweres Barock und bürgerliches Empire, ist in der Musik konsequent."
Ein Schiff voller Flügel
Immer wieder holt unseren Berichterstatter der Alltag auf dem Musikdampfer ein. Da sind zum Beispiel die vier großen Bechstein-Flügel an Bord.
"Einer stand unten in einem abgesperrten Raum zum Üben, der hieß 'das Konservatorium'. Zwei standen im Salon zum Ohrenschmaus: tagelang ging zu je zwei Händen das Tschaikowsky-Konzert auf ihnen nieder. Der große Konzertflügel war fertig in einer Kiste auf Rollen vor dem unteren Schiffsausgang.
Ein Stimmer hütete ihn dauernd, ein ernster, zuverlässiger Mann und Altgläubiger. Nahte das Konzert, öffnete sich die Luke und heraus krochen zuerst die Kontrabässe auf den Rücken der Matrosen, dann Pauken, Harfe, Celli, Pulte, Podium und als Hauptpiece der Menagerie das edle Klavier. Auf Wagen wurden sie zum Saal geschafft, und kaum war der letzte Ton verklungen, riss der Diener den Spielern schon wieder die Celli aus der Hand und rollte das Klavier hinter die Kulissen. Sind die Instrumente alle an Bord? Dann können wir abfahren."
Das alles spielte sich zwei Monate vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs ab. Oskar Bies Erinnerungen an Kussewitzkys große Wolga-Reise erscheinen in einer exklusiven Buchausgabe mit Illustrationen von Robert Sterl erst sechs Jahre später.
Ein Riesenschauspiel
Rückblickend schreibt Bie: "Heut erscheint mir das alles wie ein Riesenschauspiel, in dem die alte und die neue Zeit, Asien und Europa unerlöst nebeneinander ruhten. Hier brach der Vulkan aus. Meine Wolgawelt liegt im Chaos. Die Städte brennen, die Datschen sind zerstört, der Fluss ist rot. Die Zukunft wächst dunkel. Die Musik wartet in jedem Einzelnen von uns."