Die Legende vom "Jud Süß"

Von Beate Ziegs |
"Jud Süß" - eine Legende, an der seit über 200 Jahren gewoben wird und deren Spuren bis in die Gegenwart wirken. Künstlerische Phantasie und antisemitische Ausschlachtungsbegierden wechselten in dieser vielfältigen Rezeptionsgeschichte, allein die historische Wahrheit über Joseph Süß Oppenheimer blieb dabei weitgehend auf der Strecke. Zu einem der schlimmsten nationalsozialistischen Propagandastreifen wurde der 1940 von Veit Harlan gedrehte Film "Jud Süß".
1949 musste sich der Regisseur dafür vor Gericht verantworten. Am 23. April vor 60 Jahren wurde Harlan in erster Instanz von dem Vorwurf freigesprochen, an der psychologischen Vorbereitung des Holocaust mitgewirkt zu haben. Aus Joseph Süß, eine Oper von Detlev Glanert, die im Oktober 1999 am Bremer Theater uraufgeführt wurde. 1. Szene:

Ein Kerker in der Festung Hohenasperg bei Ludwigsburg, wo Joseph Süß seit dem 30. Mai 1737 gefangen gehalten wird. Die Bühne ist dunkel - bis das Licht plötzlich auf den Henker fällt.
Arie des Henkers: ""Süß – dein Genick!
Wie geschaffen –
für den Strick!"

Filmausschnitt Jud Süß: ""Da sitzt er nun, der unsägliche Jude. In monatelangen Verhandlun-gen hat er nichts weiter über sich vorbringen können als Lügen und Lügen und immer wieder Lügen!"
Ein Ausschnitt aus der Gerichtsverhandlung, wie sie in Veit Harlans Propagandafilm "Jud Süß" aus dem Jahre 1940 dargestellt wird.

"Jud Süß! wie hat dein Nahm so plötzlich sich mutiret, der vorher Excellentz, nun aber Filou heißt. Was für Verhängniß hat, o Mauschel dich gerühret,
Daß schon zu Grunde sinckt dein hoher Juden-Geist."

Aus einer 1737 anonym veröffentlichten Flugschrift mit der hämischen
Überschrift "Süßes Lob".

"Wie unglückselig war vor dich doch solche Stunde (...). Hingegen freuet sich das gantze Vatter-Lande. Und gratuliret dir zu deinem Selbst-Ruin."
Joshua Sobol: "”Ich nenne ihn "Joe". Ich werde jetzt keine Details darüber verraten, was ich schreibe und schon geschrieben habe. Aber mein moderner "Joe Süß" ist ein Israeli. Und - nun ja, er hat seine Gründe, warum er woanders lebt.""

Joshua Sobol, israelischer Dramatiker und Regisseur, berühmt für seine politisch zugespitzte Ent-Tabuisierung von Tabu-Themen.

Sein "Joe Süß" soll im August 2010 uraufgeführt werden – dort, wo sonst die Nibelungenfestspiele stattfinden: in Worms am Rhein.

Joshua Sobol: "”Ich denke, Joseph Süß steht ganz allgemein für den modernen, säkularen Juden. Nehmen Sie mich zum Beispiel: Ich fühle mich ihm sehr verbunden, wenn ich an die Momente in den Verhören denke, in denen ihm angeboten wurde, sein Leben zu retten, indem er sich taufen lässt. Und er sagte: "Nein, danke." Nicht, weil er religiös war. Es war vielmehr eine existentielle Entscheidung zu sagen: "Ich will nicht meinen Körper retten, indem ich meine Seele leugne beziehungsweise das, was ich zu sein meine. Keiner hat mir zu sagen, wer oder was ich bin." Insofern ist Joseph Süß für mich auch eine Art Vorläufer für das, wofür Israel steht. Und wenn man mich fragen würde, wer der spirituelle und existentielle Ahnherr Israels ist, würde ich antworten: Joseph Süß Oppenheimer.""

Schauplatz der Geschichte – der wirklichen Geschichte – ist das Herzogtum Württemberg zwischen 1732 und 1738. Es war ein für die damalige Zeit eher rückständiges Land, das überdies politisch gelähmt war durch die Auseinandersetzungen zwischen den aufstrebenden Katholiken – Herzog Carl Alexander war zu diesem Glauben übergetreten – und den konservativen, protestantisch-pietistischen Landständen, also zwischen expandierenden Manufakturen einerseits und der alten Agrar- und Ständeordnung andererseits. Juden spielten in diesen Konflikten vorerst keine Rolle.

Wie auch, hatten die Württemberger sie doch kraft Regimentsordnung 1498 des Landes verwiesen. Allenfalls als Finanziers des Adels waren sie noch geduldet. Als die Geldquellen für seine andauernden militärischen Eskapaden und vor allem für seinen höfischen Prunk zu versiegen drohten, holte sich auch der 1733 an die Macht gekommene Carl Alexander einen Juden an den Hof: Joseph Ben Issachar Süßkind Oppenheim.

Die ursprünglich in Oppenheim ansässige, weit verzweigte und nicht nur unter Juden angesehene Familie nannte sich auch "Süß" oder "Sieß". Den in Stuttgart schon bald nach der Verhaftung geläufigen Schimpfnamen "Jud Süß" hingegen hatte es vorher nicht gegeben. "Dieser Name", schreibt der Reutlinger Historiograph Hellmut G. Haasis in seinem Buch Joseph Süß Oppenheimer.

"Dieser Name, heute nicht mehr auszurotten, verfälscht die ganze Gestalt."

Joseph Süß Oppenheimer wurde 1698 oder 1699 im kurpfälzischen Heidelberg geboren. Er kam keineswegs "aus dem Dunkel des Ghettos", wie es auch in neueren Publikationen noch immer heißt, sondern wuchs in wohlhabenden Verhältnissen auf. Zu den Stationen seines Lebens gehörten Amsterdam, Wien und Prag. Geschäftliche Mittelpunkte waren jedoch die alte Handels- und Messestadt Frankfurt sowie die aufblühende Residenz Mannheim, wo er sich aufwändige Haushaltungen leistete.

Und von wo aus er Kontakte zu hochgestellten christlichen Persönlichkeiten wie etwa zum Hause Thurn und Taxis und zum Mannheimer Hof pflegte, die ihn schließlich auch mit dem in Stuttgart residierenden Herzog Carl Alexander zusammenbrachten. Mit der Ernennung zu dessen Hoffaktor eröffnete sich ihm ein weites Tätigkeitsfeld als Hof- und Heereslieferant, Schatullverwalter und Münzpächter.

Soweit schien sogar im weltfremden und provinziellen Württemberg alles in Ordnung. Dass Süß als Jude obendrein die Würde eines Geheimen Finanzienrats und Kabinettsfiskals erhielt – und sich zudem seinem herrschaftlichen Amt gemäß kleidete.

Das war jedoch etwas "Unerhörtes". Etwas, das im lutherischen Kirchenstaat mit seinen schroffen Standesunterschieden und der strikten Herabsetzung der Juden zu Knechten und Gottesmördern nicht sein durfte.

"Du hast dich mit eingemischet, wie der Mäuse-Dreck in den Pfeffer. Denn eigentlich gehöret kein schelmischer Jude in vornehme Gesellschafften und Assembléen."

Auch dieses Zitat entstammt einem anonymen zeitgenössischen Pamphlet. Als Günstling des Herzogs bewegte sich Joseph Süß auf gefährlichem Terrain. Und tatsächlich: Als Carl Alexander am 12. März 1737 plötzlich starb, war es auch um seinen Hofjuden geschehen. Noch am selben Tag wurde er verhaftet, zum Sündenbock für die absolutistische Machtpolitik des Herzogs gemacht und in einem geheimen Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt.

Joshua Sobol: "”Ich glaube, tief in seinem Innersten hat er die Gefahr gespürt, in der er durch sein Verhalten lebte. Es ist wie ein Tanz auf dem Seil oder als würde man am Rande eines Abgrunds entlang gehen. Man kann sich nicht erlauben einzuschlafen, sondern muss ständig wachsam sein. Auch die israelische Psyche ist von dem Gefühl geprägt, dass unsere Existenz noch immer sehr unsicher ist. Für uns sind die USA – aber nicht nur die – wie der Herzog: Wenn Israel im Stich gelassen würde wie Joseph Süß im Stich gelassen wurde, weiß ich nicht, ob Israel in der Lage wäre zu überleben.""

Es ist der 4. Februar 1738. Ein sonniger Tag. Um 10 Uhr 30 wird ihm der Strick um den Hals gelegt. Henkersknechte schieben und zerren ihn die 49-sprossige Leiter zum Galgenberg hinauf. Dort steht ein ei-serner Käfig, der in einem weithin leuchtenden Rot angestrichen ist.

Er wird nicht gehenkt, sondern erdrosselt. Anschließend hebt man seinen Körper in den Käfig und wartet eine Viertelstunde, ob er sich noch regt. Als das nicht der Fall ist, wird der Strick durch eine Kette ersetzt, der Käfig verschlossen und an der Kette hochgezogen. Süß darf nicht frei hängen, wie andere zum Tode Verurteilte, sondern wie ein Vogel im Käfig.

"Wurtemberg! komm her und schaue
Dieses rare Keficht an,
Schau, wie hier die Schelmen-Klaue
Sich so artig schmiegen kann."

Erst 1744, sechs Jahre nach der Hinrichtung, lässt der eben erst für mündig erklärte Herzog Carl Eugen als eine seiner ersten Amtshandlungen den Käfig abhängen und das Skelett am Fuße des Galgens verscharren.

Mindestens 12.000 Zuschauer hatten der Hinrichtung beigewohnt, vie-le waren extra für dieses Spektakel angereist – und doch sind keine seriösen Augenzeugenberichte überliefert. Die herzogliche Regierung hatte Stillschweigen angeordnet. So beschlagnahmte der Scharfrichter ein Gedicht, in dem das Herrscherhaus vorsichtig mit dem Tod Oppenheimers in Verbindung gebracht wurde, und ließ es auf dem Pranger verbrennen. Die Prozessakten sind erst seit 1919 zugänglich.

Hellmut G. Haasis hat sie für seine Süß-Biographie ausgewertet. Akribisch belegt er, dass das Gericht in allen Punkten der Anklage wie Hochverrat, Majestätsbeleidigung, Ämterhandel oder Münzfälschung die Beweise schuldig blieb und am Ende nicht einmal versuchte, das Todesurteil zu begründen. Erfolgreich machte es statt dessen alle Appellationsversuche, auf die Joseph Süß einen Rechtsanspruch hatte, zunichte. Es verstieß sogar gegen die württembergische Verfassung und missachtete das so genannte "Absolutorium", mit dem Carl Ale-xander seinen Hoffaktor von der persönlichen Verantwortung für die im Dienste des Herzog erledigten Aufträge freigesprochen hatte.

Ganz abgesehen davon, dass Joseph Süß ohne Haftbefehl festgenommen und sein Vermögen noch vor dem Urteilsspruch beschlagnahmt worden war – und man ihm als kurpfälzischem Schutzjuden eigentlich gar nicht den Prozess hätte machen dürfen.

"Somit ist nach damaligem Recht das Todesurteil als ungültig zu betrachten."

Folgert Haasis und betont, dass Joseph Süß Oppenheimer keineswegs das Opfer eines bedauerlichen Justizirrtums war, sondern das Opfer eines kaltblütigen Justizmords.

Barbara Gerber: "Zuerst soll König Friedrich von Württemberg Anfang des 19. Jahrhunderts von "Justizmord" gesprochen haben. Ob der Jud-Süd-Prozess aus der üblichen Gerichtspraxis der frühen Neuzeit heraus fällt, ist strittig."

Die Hamburger Historikerin Barbara Gerber.

Barbara Gerber: "Mit Sicherheit kann man sagen, dass der Geheimprozess gegen Süß Oppenheimer ein politischer Prozess war. Und am Ausgang des politischen Prozesses stand der politische Mord."

Mit ihrem Buch "Jud Süß. Aufstieg und Fall im frühen 18. Jahrhundert" hat Barbara Gerber eine der bedeutendsten Studien zu Joseph Süß Oppenheimer verfasst und überdies einen Beitrag zur historischen An-tisemitismusforschung geleistet, indem sie die Figur des "Jud Süß" gleichsam als Spiegel für die Kontinuität und Wirkungsmacht juden-feindlicher Stereotype nimmt.

Barbara Gerber: "Die Diffamierung Süß Oppenheimers als "Jud Süß" diente seinen Zeitgenossen vor allem dazu, Hofkritik, Absolutismuskritik, Zeitkritik in ungefährliche Bahnen zu lenken. Dem politisierten Judenbild entspricht nämlich die Ent-Politisierung des Denkens und Redens gegenüber den Herrschenden. "Jud Süß", nicht der Herzog, wird als absoluter Herrscher portraitiert, Absolutismus als Juden- und Satansregiment verteufelt. Denn in der Judenfeindschaft konnte man sich ja mit fast allen einig sehen. Auflösungserscheinungen der christlichen Ständeord-nung werden "fremden Judenwölfen" und "christlichen Judengenos-sen" zugeschrieben. Die Diffamierung diente auch der Abweisung vermeintlich unredlicher Wege des Aufstiegs, des Aufstiegs durch Geld."

Hauptsächlich auf judenfeindlichen Traktaten beruht auch die Novelle "Jud Süß" des schwäbischen Dichters Wilhelm Hauff aus dem Jahre 1827. Sein Großvater war als württembergischer Landschaftskonsulent ein Verfechter ständischer Rechte gewesen. Hauff übernimmt diese Position. Zwar kritisiert er, dass Süß als einziger für die Machenschaften des Herzogs und der Landstände zur Rechenschaft gezogen wird, vergleicht ihn aber gleichzeitig mit dem Teufel, der sterben muss, um die alte Ordnung wiederherzustellen.

Nebenbei dichtet Hauff dem Finanzienrat eine Schwester an. Lea verkörpert die verführerisch-schöne und vor allem "edle Jüdin", die zwar als Gegenpol zum verruchten Bruder daherkommt, aber dennoch keine Überlebenschance hat, sondern sich nach der Hinrichtung von Süß ertränkt.

Der in Königsberg geborene Freidenker, Sozialist und Schriftsteller Albert Dulk machte Hauffs erfundene Schwester zur Titelfigur seines Dramas Lea, das 1848 uraufgeführt wurde. Dulk, der aktiv an der Revolution teilnahm, trat mit seinem Stück für die Emanzipation der Juden ein und versuchte eine Ehrenrettung Oppenheimers, indem er ihn zum jüdischen Märtyrer stilisierte.

Barbara Gerber: "Ab Mitte des 19. Jahrhunderts etwa verstärkt sich diese Lesart von Süß als Sündenbock oder auch als Märtyrer und Heiligen. So Kohn mit seinem Roman "Ein deutscher Minister", der 1868 erschien. Süß wird hier – völlig aus der Luft gegriffen – als segensreich tätiger Reformpolitiker beschrieben, der die Folter abschafft, der das Volk vor neuen Steuern bewahrt und gegen adlige Standesprivilegien kämpft, dem es um die Politik der nationalen Einheit geht. Süß wird außerdem zum keuschen Joseph, ja zum Heiligen. Am Ende stirbt er für Gott und Vaterland."

Trotz antijüdischer Ausschreitungen während der Märzrevolution von 1848 und fortbestehender Ressentiments vor allem in den südlichen Ländern des Deutschen Bundes, hatte sich seit dem Zusammentreten des ersten frei gewählten Parlaments in der Frankfurter Paulskirche der bestimmende Diskurs zugunsten der jüdischen Minderheit gewendet. Mit der Reichsgründung von 1871 wurde die Gleichstellung der Juden Gesetz.

Diese Entwicklung ließ auch Joseph Süß Oppenheimer in einem besseren Licht erscheinen. So bemühte sich der württembergische Historiker und Pfarrer Manfred Zimmermann in einer 1874 erschienenen biographischen Abhandlung um ein objektives Portrait.

Eine Absicht, die jedoch zum Scheitern verurteilt war, weil Zimmermann nur zensierte Akten zur Verfügung gestellt wurden. Der erste, der uneingeschränkt aus dem Fundus schöpfen konnte, war der in Königsberg geborene Schriftsteller Curt Elwenspoek. 1926 veröffentlichte er eine mit viel Sympathie für Joseph Süß verfasste Schrift, über die es im Untertitel heißt:

"Erste Darstellung auf Grund sämtlicher Akten, Dokumente, Überlieferungen."

Was ein Irrtum ist, weil Elwenspoek eine Menge Material übersah. So kommt das Verdienst der ersten wissenschaftlichen Biographie Selma Stern zu.

Sie war eine der ersten deutschen Historikerinnen. Seit 1920 arbeitete sie an der Berliner "Akademie für die Wissenschaft des Judentums" und legte den Grundstein für die deutsch-jüdische Geschichtsschrei-bung. 1941 floh sie mit ihrem Mann in die USA. 1960 übersiedelte sie in die Schweiz, wo sie bis zu ihrem Tod 1981 lebte.

1929 präsentierte Selma Stern mit ihrer Studie "Jud Süss: Ein Beitrag zur jüdischen und zur deutschen Geschichte" der deutschen Öffentlichkeit eine völlig neue Gestalt: den "ersten emanzipierten Juden vor der Emanzipation" als Sinnbild eines neuen menschlichen Typus. Doch änderte die Publikation nichts an der überwiegend negativen Lesart der Figur.

Das gelang auch Lion Feuchtwanger mit seinem Ansatz nicht, den er in seinem Roman "Jud Süß" von 1925 verfolgte.

"Ich sah ihn gleichnishaft den Weg beschreiten, den unser aller Ent-wicklung geht, den Weg von Europa nach Asien, von Nietzsche zu Buddha, vom Alten zum Neuen Bund."

Wie schon bei Hauff, ist auch bei Feuchtwanger die Figur des "Jud Süß" rein fiktional. Anstelle der Schwester Lea gibt es nun eine Tochter namens Naemi, die sich das Leben nimmt. Aus Manfred Zimmermanns zweifelhafter Abhandlung übernimmt Feuchtwanger unter anderen die Behauptung, Joseph Süß sei ein uneheliches Kind gewesen.

Und die Mär, als einziger Richter habe Johann Daniel Harpprecht dem Todesurteil widersprochen. In Wirklichkeit wurde es einstimmig gefällt.

Ungeachtet solch gravierender Fehler, errang mit Feuchtwangers "Jud Süß" der Stoff erstmals internationale Bedeutung. Der britische Dramatiker Ashley Duke arbeitete den Roman 1929 in ein erfolgreiches Bühnenstück um; Paul Kornfelds deutsche Dramatisierung wurde ein Jahr später am Theater am Schiffbauerdamm in Berlin uraufgeführt, 1933 eine hebräische Fassung am Habinah-Theater in Tel Aviv. Auch die englische Filmadaption "Jew Süss" von 1934 war ein Erfolg.

Trotzdem kann sich auch Feuchtwangers Deutung der Figur als Metapher für die Versöhnung zwischen westlichem und östlichem Denken nicht durchsetzen. Im Gegenteil.

"Jetzt haben Sie diesen dicken Film gedreht, diesen Spitzenfilm, in ganz großer Aufmachung","

schreibt Lion Feuchtwanger 1941 in seinem "Offenen Brief an sieben Berliner Schauspieler".

""Man wird mit Aug und Ohr nachprüfen können, wie Sie alle dazu beigetragen haben, die Geschichte eines Juden, von dem Sie alle wussten, dass er ein großer Mann war, ins genaue Gegenteil zu verkehren."

Gemeint sind die Hauptdarsteller in Veit Harlans Film "Jud Süß", darunter Ferdinand Marian als Joseph Süß Oppenheimer, Heinrich George als Herzog Carl Alexander –

– und Werner Krauß, der gleich vier Rollen übernommen hatte: Oppenheimers verschlagenen Sekretär Levy, einen heruntergekommenen alten Mann, den Schächter Isaak.

Das Schächten hatten die Nazis 1933 unter Androhung von KZ-La-gerhaft gesetzlich verboten …
- sowie den Kabbalisten Rabbi Loew als die okkulte und tödliche Kraft hinter den kriminellen Machenschaften des Harlanschen "Jud Süß".

Etwa 20 Millionen Deutsche – ein Drittel der Reichsbevölkerung – haben den Film bis Kriegsende gesehen. Auf ausdrückliche Anordnung von Heinrich Himmler gab es Pflichtvorführungen für die Erschiessungskommandos der SS sowie für die Wachmannschaften von Konzentrations- und Vernichtungslagern.

Laut Barbara Gerber markiert der Film eine rezeptionsgeschichtliche Zäsur.

Barbara Gerber: "Bis dahin schwankt die "Jud Süß"-Darstellung und –Gestaltung zwischen anitjüdischer und projüdischer Stellungnahme zur sogenannten "Judenfrage", die ja im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer Haupt-frage des gesellschaftlichen und politischen Lebens aufgebauscht worden ist. Der nationalsozialistische antisemitische Propagandafilm dagegen konnte als Aufruf zur so genannten "Endlösung" der Judenfrage verstanden werden. Vor allem durch die Judenszenen des Film: also die Szenen in der Frankfurter Judengasse, wo Juden als Parias erscheinen, die Szene Einzug der Juden nach Stuttgart, Juden erscheinen als Parasiten."

Filmausschnitt "Jud Süß": """Zu Horden ziehen die Juden in die Stadt. Die Bevölke-rung ist in hellem Aufruhr!" – "Wie die Heuschrecken kommen sie über unser Land."

"Unter den Szenen, die von der Bevölkerung besonders beachtet werden, wird der Einzug der Juden mit Sack und Pack in die Stadt Stuttgart genannt."

Heißt es im geheimen Lagebericht des Sicherheitsdienstes der SS vom 18. November 1940.

"Im Anschluss gerade an diese Szene ist es wiederholt während der Vorführung des Films zu offenen Demonstrationen gegen das Judentum gekommen. So kam es zum Beispiel in Berlin zu Ausrufen wie >Vertreibt die Juden vom Kurfürstendamm! <"

1949 musste sich Veit Harlan vor dem Hamburger Schwurgericht dafür verantworten, als psychologischer Wegbereiter des Holocaust gewirkt zu haben. Gemäß Kontrollratsgesetz Nummer 10 lautete die An-klage "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Am 23. April 1949 wurde Harlan jedoch freigesprochen, weil nicht erwiesen sei, so der Vorsitzende Richter Walter Tyrolf, dass einem Juden aufgrund des Films Leid zugefügt worden war.

Im Dezember desselben Jahres hob der Oberste Gerichtshof der für Hamburg zuständigen britischen Zone das Urteil auf, weil der Film sehr wohl als ein (Zitat) "nicht unwesentliches Werkzeug [der] zur Vernichtung der Juden dienenden Hetze" anzusehen sei. Daraufhin behauptete Veit Harlan, er habe sich in einer Art Befehlsnotstand befunden. Walter Tyrolf folgte dieser Argumentation und sprach Harlan auch in zweiter Instanz frei. Den Vorwurf der Anklage, der Film verleumde die Juden indem er so tue, als basiere er auf historischen Tatsachen, wies Walter Tyrolf mit den Worten zurück:

"Es mag sein, dass eine geschichtsgetreue Wiedergabe des Süß Oppenheimer diesen in einem noch schlechteren Licht erscheinen lassen würde. Die Person des Süß Oppenheimer stellt sich als verbrecherische Persönlichkeit größten Ausmaßes dar, unter deren Druck das württembergische Volk jahrelang in Angst und Schrecken lebte."

Harlans "Jud Süß" darf in Deutschland nur unter Vorbehalt gezeigt werden, d. h. nur in geschlossenen Veranstaltungen und mit didaktischer Begleitung. Das Stuttgarter Haus der Geschichte ging im Dezember 2007 das Risiko ein, dem Film eine Sonderausstellung zu widmen. Sämtliche Vorführungen waren weit im voraus ausgebucht. Bis zum Ende der Ausstellung im August 2008 hatten mehr als 20.000 Besucher den Streifen angesehen.

"Jud Süß" zieht also noch immer – und sei es, um den Einfluss Harlans auf den deutschen Film zur Zeit des Nationalsozialismus wie auch auf das Leben seiner Kinder und Enkel zu reflektieren. Das beabsichtigt Felix Moeller mit seinem Dokumentarfilm "Harlan" – Im Schatten von "Jud Süß", der am 23. April, also auf den Tag genau 60 Jahre nach dem ersten Freispruch für Veit Harlan, in den Kinos anläuft.

Derweil dreht Oskar Roehler in deutsch-österreichischer Koproduktion an einem Film über den Schauspieler Ferdinand Marian und dessen Auseinandersetzung mit seiner Rolle als "Jud Süß" in Harlans Propagandafilm. Grundlage des Films ist die Marian-Biographie "Ich war Jud Süß" des Medienwissenschaftlers Friedrich Knilli, die bereits 2000 erschienen ist.

Knilli wirkte auch schon beratend bei dem Spielfilm "Joseph Süß Oppenheimer" mit, den das ZDF 1984 ausstrahlte und nach Angaben des Senders die "Korrektur eines gefälschten Geschichtsbildes" darstellen sollte.

Was ein Ding der Unmöglichkeit ist, solange Feuchtwangers Roman mit all seinen historischen Irrtümern zugrunde gelegt wird. Das gilt auch für Detlev Glanerts Oper "Joseph Süß" und die zahlreichen Musik- und Theaterstücke, die seit den 80er Jahren vermehrt auf die Bühne gebracht wurden.
"Es wird so voller Scartequen von meiner Persohn in der Welt herum fliegen, dass man zuletzt nicht wissen wird, wer ich gewesen."

Diese Prophezeiung, die Joseph Süß Oppenheimer 1738 von einem anonymen Verfasser in den Mund gelegt wurde, hat sich bewahrheitet: Es ist die Legende, die fasziniert, während die Identität des als Rezeptionsgegenstand benutzten und oft missbrauchten Menschen immer mehr zur Leerformel wird. Dass sich in den letzten Jahren zunehmend auch die wissenschaftliche Forschung mit der historischen Person auseinandersetzt, hat an dem Prozess ihrer Enthistorisierung bislang wenig ändern können.

Allerdings steht hinter dem Lebensweg des Joseph Süß Oppenheimer keine schnell abrufbare, historische Wahrheit, sondern ein komplexes politisches, soziales und ökonomisches Zeitgefüge. Und je komplexer dieses Gefüge durch weitere Forschungsergebnisse wird, desto
größer ist beim breiten Publikum das Bedürfnis nach möglichst einfachen Erklärungen.

Denn das ist das Wesen aller Legenden: durch stereotype, vorwiegend auf der emotionalen Ebene wirkende Bilder befriedigende Deutungen von Geschichte zu liefern. Überhöhungen, Verbrämungen, Verschlüsselungen – was ist die Kälte der Wissenschaft, der nackten Historie gegen die Wirkungsmacht simplifizierender Vorstellungen?

Der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann spricht Legenden und Mythen deshalb eine "Wahrheit höherer Ordnung" zu, die nicht einfach nur stimme, sondern darüber hinaus auch normative Ansprüche stelle und formative Kraft besitze. Und auch in der modernen Geschichtswissenschaft werden Legenden inzwischen als reale gesellschaftliche und politische Phänomene begriffen, die Identität und Sinn stiften können.

Was aber ist die "Wahrheit höherer Ordnung" in der Legende vom "Jud Süß"? Warum droht die historische Person hinter ihrer Fiktionalisierung zu verschwinden? Die Hamburger Historikerin Barbara Gerber meint:

Barbara Gerber: "Ich erkläre es mir mit dem fortbestehenden Antisemitismus. Oppenheimer war ein früh assimilierter Jude. Er griff der Assimilation als breiterer Erscheinung um fast drei Jahrzehnte vor. Er gehörte nicht mehr zur jüdischen Ghetto-Ordnung, er gehörte nicht zur christlichen Ständeordnung, und seine Zugehörigkeit zur höfischen Gesellschaft war umstritten. Er entsprach so wenig dem judenfeindlichen stereotypen Judenbild, dass er noch heute vorurteilhafte Wahrnehmungen und Vorstellungen herausfordern kann. Geschichtsfälschung und antisemitische Typisierung ist ja manchmal selbst bei Wiedergutmachungsversuchen zu beobachten. Ich denke auch projüdische Deutungen oder gar Positivklischees führen auch nicht an die historische Wahrheit heran, wenn es denn um die historische Wahrheit geht."


Zum Beispiel im Oktober 1998, als in Stuttgart ein Platz nach Joseph Süß Oppenheimer umbenannt wurde. Oberbürgermeister Wolfgang Schuster in seiner Einweihungsrede:

Wolfgang Schuster: "Das Schicksal von ihm ist uns Mahnung, jeder Form von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit vorzubeugen. In diesem Sinne freue ich mich, dass wir nun gemeinsam diesen Platz einweihen können."


Es gehe um die Rehabilitierung eines Modernisierers, so Schuster weiter, der mit seinen richtungweisenden finanz- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen das Land und auch die Stadt vorangebracht habe.

Nur liegt der Platz, der Joseph Süß Oppenheimer ehren soll, im Hinterhof eines großen Kaufhauses. Sein Zentrum ziert die breite Zufahrt zu einem unterirdischen Parkhaus. Der damalige Landesrabbiner von Württemberg, Joel Berger, trug diese Peinlichkeit mit Fassung.

Joel Berger: "Ich bin Angehöriger des Volkes von Joseph Süß Oppenheimer. Ich will nicht unzufrieden sein."
Auch Joshua Sobols moderner "Joe Süß" hat seinen Weg gefunden, mit den täglichen Antisemitismen umzugehen. Auch mit solchen, die als gut gemeinter Akt politischer Korrektheit daherkommen.

Joshua Sobol: "”Im Gegensatz zu Joseph Süß Oppenheimer, legt mein Joe Süß keinen Wert auf Luxus und auch nicht auf die Leute um ihn herum. Er hat seinen Respekt vor ihnen verloren. Diejenigen, die mit ihm zu tun haben, halten ihn deshalb manchmal für die Personifizierung des Teufels. Und irgendwie ist er ja auch teuflisch, denn wenn er etwas will, kennt er keine Grenzen, um es zu tun oder zu bekommen. Am Ende zahlt Joe dafür mit seinem Leben. Es gibt also auch bei mir kein Happy End. Aber ernstzunehmende Stücke gehen nie glücklich aus.""