Die Lehre vom gesunden Gang

Wie geht Gehen?

Von Peter Kolakowski |
Audio herunterladen
Gehen verbessert unsere Gesundheit enorm. Ein Wundermittel. Als Kleinkind erlernt, verläuft es wie ein Reflex und ist rhythmisch wie ein Uhrwerk. Falsches Gehen, Laufen oder Joggen kann aber auch krank machen.
Wenn ein guter Gehstil Gesundheit und auch seelisches Wohlbefinden verbessert, und zwar mit jedem Schritt, wäre es da nicht an der Zeit, einmal für eine kurze Strecke dem eigenen Gang zu folgen, um zukünftig gesünder zu gehen? Entspannter. Aufmerksamer. Näher bei sich und seinem Körper. Und dabei ganz natürlich aufgerichtet. Wie ein, ein.... ein Engel?
Kunsthistorikerin Brigitta Werner weiß, was himmlische Engel und irdische Models gemeinsam haben: das aufrechte Gehen.
"Das haben wir auch, stark verkürzt, hier bei den engelhaften Models. Nur, dass die Schuhe tragen und den Fuß gar nicht auf die Sohle oder Ferse absenken können. Die Damen sind in dauernder Aufrichtung, weil sie auf dem Vorfuß stehen und gehen. Das ist aber auch wichtig, dass die Ferse wieder abgesenkt wird, sonst wird das Ganze ungesund."

Der menschliche Fuß – ein Wunderwerk

Unverfälschtes, engelgleiches Gehen mit dem Mittel- oder Vorfuß zuerst findet sich vor allem im klassischen Ballett. Nirgendwo sonst im Körper konzentrieren sich auf so engem Raum so viele verschiedene Muskeln, Knochen, Gelenke, Bänder und Sehnen wie in unseren Füßen. Kein Tier verfügt über solch komplexe und hochflexible, geschmeidige Fortbewegungsextremitäten wie der Mensch. Das wissen im Sport besonders Sprinter, Dauerläufer, Jogger oder Turner zu schätzen. Um das Wachstum von Knochen- und Knorpelzellen anzuregen, brauchen der Körper, die Gelenke und die Knochen gleichwohl einen gewissen Stoßreiz, um Knorpel und Knochenzellen zu aktivieren und um gesund zu bleiben.
Nur: Wie stark darf dieser sein? Das wollen wir von Professor Wolfgang Potthast wissen. Er arbeitet am Institut für Biomechanik und Orthopädie der Deutschen Sporthochschule, ist Leiter der Abteilung für klinische und technologische Biomechanik und hat die Professur für Biomechanik inne. Wo ist denn nun die Grenze zwischen heilsamer Erschütterung und schädlichen Stößen?
Eine schwer zu beantwortende Frage. Denn hier widersprechen sich die derzeit vorliegenden Studien. Während einige nur einen geringen ungünstigen Einfluss auf das Skelett und die Gelenke nachgewiesen haben, kommen andere Studien zu dem Ergebnis, dass die Schläge im Hacken-, Fersen- oder Rückfußgang sehr wohl gesundheitliche Beeinträchtigungen oder Schäden hervorrufen.

Kleine Kinder gehen meist auf dem Vorfuß

"Ein Balletttänzer, ein Stepptänzer würde niemals auf der Hacke aufkommen, sondern immer auf dem Vorderfuß." Und zwar nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Alltagsleben. Sagt Helga Wilms, aufrechter Gangstil, ehemalige Tänzerin:
"Ich habe mal Ballett getanzt und da war das Standard, dass man auf dem Vorfuß auftritt. Wie die kleinen Kinder es machen."
Im Klosterschwimmbad in Bornheim bei Bonn neigt sich der Kinderschwimmkurs seinem Ende zu. Wie kleine Ballerinas und Ballerinos bewegen sich die Fünf- bis Siebenjährigen über den klatschnassen Fliesenboden oder springen wild um ihre Schwimmlehrerin Simone Wirtz herum. Die allermeisten: im Vorfußgang und mitunter leicht tänzelnd, dabei ausgesprochen sicher und achtsam im Gangbild. Nur wenige setzen die Ferse zuerst auf. Es sind meist die älteren Kinder, die sich schon dauerhaft an Schuhe gewöhnt haben und so zu Hackengängern wurden.
"Es gibt ganz kräftige Füße, wo man genau sieht, dass die ein Kind kräftig durchs Leben tragen und dass die Kinder damit ganz viel springen, hüpfen und klettern. Und dann gibt es ganz zarte, unausgeprägte Kinderfüßchen, die auch manchmal ziemlich platt aussehen und man sieht, dass kein Fußgewölbe ausgeprägt ist, die Zehen sind ganz schmal, nicht kräftig. Leider merkt man das auch oft in den Bewegungsmustern des ganzen Körpers. Dann kommt man ganz schnell zu Schuhen und sieht, ob ein Kind flexible und weite Schuhe anhat, in denen ein Fuß arbeiten kann oder ob die in so einen starren, festen Schuh gepresst werden, wo der Fuß nichts mehr tun kann und keine Aufgabe mehr hat. Und dann leider auch keine Muskulatur ausbildet, weil sie einfach nicht gebraucht wird", sagt Simone Wirtz.

Gibt es den gesunden Schuh?

So kümmern die Kinderfüße zuerst in sogenannten Lauflernschuhen vor sich hin. Dabei können die Kinder meist schon laufen, und das ganz ohne Schuhe. Schuhe funktionieren nach Meinung einiger Experten wie Umerziehungsapparaturen, die Heranwachsende zwangsläufig zu Hackengängern machen.
Natürlich kommt man an Schuhen nicht vorbei. Wir brauchen sie zum Überleben. Schuhe schützen uns vor Nässe, Kälte und Verletzungen. Und Schuhe sind natürlich auch allseits geschätzte und schmückende Kleidungsstücke.
Aber bitte nicht zu oft und zu lange Schuhe tragen! Sondern so viel wie möglich ohne Schuhe gehen. Am besten barfuß oder in Socken. Denn Schuhe, die allermeisten jedenfalls, verändern die natürliche Anatomie und das Gangverhalten. Sie sind nicht nur überwiegend industriell gefertigte Massenware für ein höchst individuelles Körperteil, Schuhe bilden mit ihrer Sohle auch eine Barriere zum Boden und verändern so das Schwerkraftempfinden und das Gleichgewicht.
Schuhe sind immer auch zu eng. Immer! Vor allem vorne. In der sogenannten Zehenbox. Der Fuß hat aber eine V-Form und braucht deshalb auch beim Gehen die möglichst natürliche, unmittelbare Sensorik und Haptik von Sohle und Zehen zum Boden, vor allem die des großen Zehs, für eine optimale Koordination des ganzen Körpers. Gestauchte Zehen und Sohlen bedeuten auch weniger Gleichgewichtsempfinden und Körpergefühl. Kurzum: Schuhe sind unserer Gesundheit nicht zuträglich. Es ist ein lebenslanger Dauerlauf in zu engen Korsetts.

Barfußlaufen aktiviert die Tiefenmuskulatur

Tanja Niederstein ist Physiotherapeutin und schult ihre Patientinnen und Patienten unter anderem in verschiedenen Laufstilen - barfuß. Auch im Vorfuß- oder Mittelfußgang.
"Füße sind unser Fundament, darauf baut sich alles auf. Die Haltung, im Kniegelenk, im Hüftgelenk, Wirbelsäule, bis zu den Kiefergelenken hoch. Wir haben unter den Füßen genauso viele sensible Nervenenden wie an den Händen. Wir erfühlen unseren Boden. Füße werden nur dahingehend versorgt, dass man Einlagen bekommt, aber die Muskulatur wird nicht aktiviert."
Heißt das etwa, nur noch ohne Schuhe zu gehen? Wohl kaum möglich!
"Ich möchte nicht die ganze Welt dahingehend reformieren, dass alle barfuß laufen sollen. Aber jeder Gang, den man barfuß macht, ist doch mehr, als wenn ich jedes Mal meine Schlappen anziehe, meine Turnschuhe, meine schönen Schuhe oder so. Wir nehmen uns jedesmal ein ganzes Sinnesorgan, wenn wir die feste gepolsterte starre Sohle haben. Wie ist meine Raum-Lage-Wahrnehmung? Es gibt mehr Sicherheit, wenn ich den Boden spüre. Ich habe viele Leute, die einen Barfußspaziergang mit mir gemacht haben und dann anschließend Muskelkater zwischen den Schulterblättern hatten. In der Tiefenmuskulatur. Diese Aufrichtung ist auch so wichtig für die inneren Organe. Auch dieses ständige Gequetsche der Lungen, da ist gar nicht dieses Entfalten der inneren Organe möglich. Das schädigt auch!"
Die Tiefenmuskulatur, die beim Barfuß- und vor allem beim Vor- oder Mittelfußgang aktiviert wird, stützt nämlich das Skelett und hält es so schön aufrecht.

Neuer - alter Trend: Barfußschuhe

Der Schwimmkurs im Klosterschwimmbad Bornheim ist zu Ende, die Kinder haben Schuhe und Sandalen angezogen und stapfen nun allesamt im Hackengang nach Hause. Ihre Schuhe verhindern jetzt den natürlichen Vorfußlauf, den sie vorher noch ganz selbstverständlich praktiziert haben. Schwimmlehrerin Simone Wirtz trägt keine herkömmlichen Schuhe, sondern sogenannte Barfuß- oder Minimalschuhe. Ultraweiche Sohle, biegsames Obermaterial und vorne viel Platz für die Zehen. Optimal für den Vorfuß- oder Ballengang.
"Wenn man anfangen muss, Schuhe anzuziehen, denn draußen lässt es sich ja manchmal nicht vermeiden, dass man Schuhe braucht, auch zum Schutz der Füße, dann bitte Schuhe, die vorn schön weit sind, dass die Zehen nicht zusammengequetscht werden, dass der Fuß arbeiten kann, dass die Sohle möglichst dünn ist, dass man schön abrollen kann, dass der Schuh keine Sprengung hat, das heißt keinen Absatz, ein kleines Kind hat in den meisten industriell hergestellten Schuhen einen Absatz drin von einem halben bis einem Zentimeter, den man so gar nicht wahrnimmt. Aber die ganze Körperstatik ändert sich, wenn die Ferse immer ein Stück höher ist als der Vorfuß. Dadurch verkürzt sich die Wadenmuskulatur, das zieht sich bis in die Hüfte."
Mittlerweile bieten auch große Sportschuhhersteller Minimal- oder Barfußschuhe an. Die Hersteller sind teilweise wieder weggegangen von den dick gepolsterten, gedämpften Hightech-Schuhen mit hoher Sprengung. Denn dass mehr Dämpfung auch besser vor harten Hackenaufschlägen schützt, erwies sich als Trugschluss. Im Gegenteil. Mit einer Dämpfung tritt der Läufer oder Geher sogar bis zu dreimal stärker auf, als wenn er barfuß ginge, hat der Evolutionsbiologe Prof. Daniel Lieberman von der Harvard Universität bei einer Studie mit Sportlern festgestellt. Weil Läufer mit Schuhdämpfung die Hackenschläge als weicher empfinden, schlagen sie umso stärker mit dem Fuß auf, um mehr und sichereren Bodenkontakt zu spüren. Tanja Niederstein, Physiotherapeutin und Fußexpertin:
"Man hat jahrzehntelang Laufschuhe immer dicker und dicker gemacht. Jetzt geht man dazu über, die immer dünner zu machen. Ich muss auch leider sagen: Beim Nordic Walking gab's auch viele, viele Jahre die Anwesiung große Schritte zu machen, mit der Ferse aufzusetzen. Mittlerweile rudern die auch zurück. Die machen jetzt auch kleinere Schritte, setzen mit dem ganzen Fuß auf. Und dann das Thema Einlagen, die werden schnell verschrieben, und es wird dann schnell besser. Präventionskurse haben immer damit zu tun, dass jeder selbst aktiv werden muss und zwar über einen langen Zeitraum."
Der seit rund 20 Jahren andauernde Trend, auch mehr gesunde Schuhe auf den Markt zu bringen, Barfuß- oder Minimalschuhe, ist allerdings nicht so neu. Das zeigt die einzigartige Ausstellung "Step by step - Schuhdesign im Wandel" im Deutschen Ledermuseum in Offenbach am Main. Schon vor über 100 Jahren wurden im Zuge der Jugend- und Reformbewegung, die eine stärkere Hinwendung zu mehr natürlicher Lebensweise propagierte, sogenannte Zehenkammerschuhe entwickelt.
Die Leiterin Dr. Ines Florschütz und Kuratorin Leonie Wiegand zeigen auf drei Etagen jahrhundertealte und feinste Schuhmacherkunst bis in die Neuzeit. Darunter auch Barfußschuhe.
"Die Barfußschuhe, die wir ausstellen, die sind auch ganz neu. Die haben wir explizit für diese Ausstellung gekauft, aber unsere Idee ist ja Kombinationen mit historischen Schuhen zu machen. Das Barfußschuhpaar haben wir also zusammengebracht mit einer Zehenkammersandale. Diese Zehenkammerschuhe sind um 1900, 1910 auf den Markt gekommen. Sie müssen sie sich so vorstellen, dass, wenn man jedem Zeh eine Kammer anbietet, dass er dann die größtmögliche Bewegungsfreiheit hat und das sehr gesundheitsfördernd ist für den Fuß."

Vorfuß- oder Rückfußlauf – ein wissenschaftlicher Streit

Geht der Mensch aber wirklich von Natur aus als Vorfuß-, Mittelfuß- oder doch eher als Hackengänger durchs Leben? Bis heute wird darüber unter Biomechanikern, Sportwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, Barfußläuferinnen und -läufern, Bewegungstherapeuten und Evolutionsbiologen heftig gestritten. Dr. Rainer Lüders, Arzt für Schmerztherapie und Vorfußgänger:
"Was ist denn der richtige Gang? Da fehlt noch die wissenschaftliche Aufarbeitung, ob das was sich im Sport niederschlägt auch für den Alltag gilt, das wissen wir noch gar nicht. Was beim Vorfußgang wichtig ist, dass er nicht nur Einfluss hat auf das Bewegungssystem und Organe, sondern dass es auch auf emotionaler Ebene Effekte haben kann, was wissenschaftlich noch nicht belegt ist, aber wir wissen auf jeden Fall, dass die Veränderung von Körperhaltung auf die Gemütslage des Menschen Einfluss hat. Und hier scheint der Ballengang deshalb einen Effekt zu haben, weil zum Beispiel auch die Fußreflexzone des Herzens im Vorfußbereich liegt und in der Hacke, mit der wir in der Regel auftreten, die Genitalien. Also wenn man sich überlegt, welchen Effekt das auf emotionaler Ebene haben kann.... Ich denke, hier wird nicht geforscht, weil Forschung entsteht immer da, wo Profit entstehen kann. Und hier gibt es keinerlei Profit wie zum Beispiel durch ein Medikament."
Klar ist: zu harter Fersenauftritt, zu enges und zu dickes starres Schuhwerk und eine damit einhergehende Fehlstellung der Füße und Beine kann über Jahre hinweg nicht nur die Füße krank machen. Nicht nur Platt-, Senk- und Spreizfüße, Hallux Valgus oder Fersensporn fördern. Sondern auch andere Krankheiten.
"Da kommt es bei Gangveränderungen durchaus zu Belastungsproblemen der unteren Extremitäten, es kann aber auch so weit führen, dass es die untere Wirbelsäule und auch den Nacken betrifft. Also bis hoch in den Schultergürtelbereich. Nackenschmerzen, Kopfschmerzen. Also der Fuß spielt bis in den Kopf eine Rolle und insbesondere natürlich das Gangverhalten", sagt Dr. Rainer Lüders.

Weltweites Zentrum für den Vorfußgang

Lüders Kollege, der Kieler Allgemeinmediziner Dr. Hans-Peter Greb, forscht und lehrt seit über 40 Jahren über verschiedene Gehstile. An seiner Gang- und Gehschule Godo in Kiel bildet Greb Ganglehrer aus, vornehmlich für den Vorfußgang. Der Arzt geht nur einer einzigen Frage nach: Was macht eigentlich eine Bewegung, die wir täglich Tausende Male ausüben, mit unserem Körper und unserem geistigen Wohlbefinden? Was machen Stoßkräfte von 50 Kilogramm je Schritt im Hacken- oder Rückfußgang mit dem Skelett- und Muskelapparat, mit unseren Gelenken, unseren Organen, unserem Gehirn? Während einige Studien keine oder nur ganz geringe negative Auswirkungen nachgewiesen haben, nennt Greb unter anderem Gelenk- und Knochenschäden, die auf den Hackengang zurückzuführen sind.
"Jeder Doktor, jeder Orthopäde, jeder Physiotherapeut, Papa und Mama, alle glauben, sie müssten ihren Kindern sagen, du musst anständig abrollen. Und das daraus entstehende Modell ist ein Hackengänger, das heißt ein marschierender Mensch. Man kann ihn auch hören, wenn er abends zurückkommt und über einem wohnt, dann denkt man, die Decke fällt einem auf den Kopf, weil der da oben wieder so brutal geht. Und da bin ich auf die Quelle gestoßen, die jeder Einzelne von uns durchgemacht hat, um zum Hackengänger zu werden. Das ist der Mutterleib. Als wir noch gar nicht auf der Welt waren, da haben wir immer schon den Stoß, die Imprägnierung mitten in unser Wachstum hinein, als Embryo, empfangen."
Noch ignorieren die konservativen Schul- und Sportmediziner, die meisten Krankengymnasten, Rehasporttrainer und auch Sportlehrer Grebs Studien über die Auswirkungen unterschiedlicher Gehstile und verschließen sich damit einer erfolgreichen bewegungstherapeutischen Maßnahme.
Ute Böthers, Physiotherapeutin, Sport-, Tanz- und Gymnastiklehrerin, Fotografin, 83 Jahre jung mit zwei ungleich langen Beinen, ist überzeugte Vorfußgängerin: "Das ist die Lösung. Ich kann ausgleichen, wenn ich mit dem Vorfuß auftrete, weil ich zwei verschieden lange Schritte einmogeln kann, dann hinke ich nicht mehr und dann hören meine Rückenschmerzen auf." Solche Beispiele finden sich auch in den Büchern von Dr. Hans-Peter Greb unter den Titeln: "Der Ballengang" und "Mit dem Herzen gehen."

Gangschulung fördert die Balance

Warum aber werden nicht wenigstens schon Kinder im Sportunterricht dazu angeleitet, mehr barfuß und im Vorfuß- oder Mittelfußgang zu laufen, statt in den neuesten Sneakers? Um so auch ihr ganz natürliches Geh- und Gleichgewichtsgefühl zu schulen?
Dr. Rainer Lüders: "Man weiß aus Untersuchungen, dass barfußlaufende Kinder 40 Prozent weniger Fußdeformitäten haben, das hat auch einen Einfluss auf die Muskulatur, auf die Statik und die Fehlstatik, die sich dadurch ergeben kann."
Warum bieten auch Sportvereine, Rehakliniken oder Physiotherapeuten bislang so gut wie keine Geh- und Gangschulungen an? Das achtsame Gehen und Laufen wie auch Fußgymnastik sollten zu jedem Setting einer Sportstunde dazugehören. Wie bei einer Gymnastikanleitung im Jahr 1958, die auf einer Schallplatte festgehalten wurde: "Fußübungen im Gehen. Auf den Zehenspitzen gehen, auf der Außenkante. Und wieder auf den Zehenspitzen."
"Gangschule ist viel mehr als nur gehen: Es geht um den ganzen Körper, um das Gleichgewicht, das Reagieren auf den Boden, auf die Umwelt; wenn ich dies das und jenes am Körper trage, habe ich meinen Schwerpunkt wieder woanders. Das verfällt gerade ganz enorm und das finde ich traurig, ich weiß nicht, warum das nicht praktiziert wird. Ganganalysen finden dann beim Einlagenmacher statt, der die Leute auf ein Laufband schickt. Das ist völlig neben der Spur. Man sollte vielmehr schauen, wie die im Alltag gehen", sagt Physiotherapeutin Tanja Niederstein.

Das Abrollen – physikalisch-anatomischer Unsinn

Dabei kann schon heute von jedem Arzt im Rahmen sturzprophylaktischer Bewegungstherapien auch Gang- oder Gehschulung verschrieben werden. Nur: Es fehlt an speziellen Angeboten und am Wissen. Man beschränkt sich in Sportkursen allenfalls auf das "richtige Abrollen".
Da stehen sie nun, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Sportvereinen und Fitnessstudios, die Patientinnen und Patienten in orthopädischen Kliniken, in Reha- oder Präventionssportkursen, und versuchen krampfhaft und mit angespanntem Körper und angehaltenem Atem, was gar nicht möglich ist. Denn eine Rollbewegung setzt immer eine Rundung voraus. Das Abrollen, das seit Jahrzehnten kolportiert wird, ist nichts anderes als physikalisch-anatomischer Unsinn.
Bevor nun jedoch zahlreiche kritische Reaktionen auf dem Fuße folgen, machen wir Gehversuche im Bewegungslabor von Professor Wolfgang Potthast mit einem anderen Begriff: "Sie haben völlig recht! Dieser Begriff, diese Terminologie, ist unscharf. Die stimmt nicht. Es ist eigentlich eher eine Abklappbewegung oder Ablegbewegung."

Gangschulungen werden kaum angeboten

Im orthopädischen Rehazentrum am Meer in Bad Zwischenahn in der Nähe von Oldenburg werden Gangschulungen schon seit Langem praktiziert. In der Rehabilitation leider immer noch keine Selbstverständlichkeit. Semina Onnen ist dort Leiterin der Physiotherapie-Abteilung und erläutert, wann es unumgänglich ist, Patientinnen und Patienten im richtigen Gehen zu schulen:
"Nach Hüft-, und Knieoperationen, nach Krebserkrankungen, vor allem Polyneuropathie. Wir bieten aktuell die Gangschule in Gruppen an. Wir gucken uns jedes Gangbild barfuß an, weil durch dieses Barfußgehen so viel sichtbar wird, weil alles vom Boden aus nach oben hoch geht."
Schließlich lässt sich am Gang viel ablesen: Krankheiten, Befindlichkeitsstörungen, Gemütsverfassungen. Eine Fülle wertvoller Informationen für Diagnose und Behandlung für alle therapeutisch Arbeitenden: Physiotherapeuten, Ärzte, Psychologinnen, professionell Pflegende, Krankengymnastinnen, Podologen, Sportlehrer und Reha- und Präventionstrainer.

Linderung bei Osteoporse

Doch kaum einer sieht bislang genau hin. Das geht auch zulasten der Menschen mit orthopädischen Erkrankungen wie etwa Osteoporose - Patienten also, die besonders sturzgefährdet sind, erklärt Dr. Hans-Peter Greb:
"Ich kann mit dem Vorfußauftritt in jedem Fall eine größere Sicherheit, eine größere Sanftheit, eine größere Bewegungsfähigkeit, vor allem in den osteoporosegefährdeten Lendenwirbeln haben, sodass weder gefallen wird, noch diese starke Belastung durch den Fersenauftritt stattfindet, bei der man sich durchschnittlich 50 kg in das eigene Gerüst tritt."
So berichtet auch Jutta Teinert davon, dass sich mit ihrer Osteoporose vieles verbessert habe, seit sie auf dem Vorfuß geht: "Der Rücken ist besser geworden und vor allen Dingen die Füße, seitdem ich auf dem Vorfuß gehe. Es ist auch viel besser für die Knochen und die Gelenke."
Aber auch bei Bandscheiben- oder Gelenkschäden bis hin zu allgemeinen Gleichgewichtsstörungen im Alter könnte ein anderer Gangstil eine Therapie in großen Schritten voranbringen. Denn 70 Prozent der Informationen, die das Gehirn benötigt, um eine sichere Bewegung in Gang zu setzen und sich im Raum zu bewegen, kommen von den Nerven unserer Füße.

Das Vorfußgehen zahlt sich aus

Aber was sagen diejenigen, die es ausprobiert haben? Die Reaktionen sprechen für sich: Eine ältere Dame mit Gangunsicherheit hat das Vorfußgehen im Rahmen einer Reha-Maßnahme ausprobiert und spricht von beträchtlichen Fortschritten. "Mein Gleichgewichtsgefühl hat sich verbessert, meine Gangsicherheit hat sich gebessert." Und: "Es tut einfach gut."
Auch die 76-jährige Ursula Sill ist begeistert. Sogar ihrem praktischen Arzt konnte sie das Vorderfußgehen nahebringen, der habe "Bauklötzchen gestaunt. Er hat sich das angeguckt und gemeint, er würde das in Zukunft auch mal probieren."
Und eine dritte: "Ich würde jedem raten, das zu Hause wirklich mal auszuprobieren: auf Socken oder barfuß laufen und darauf zu achten, was passiert, wenn man auf dem Hacken auftritt oder auf dem Vorfuß. Man kann es deutlich hören und spüren."
Mehr zum Thema