Dr. Clemens Prokop, geboren 1957 in Regensburg, Direktor des Amtsgerichts in Regensburg, seit 2001 und bis Ende 2017 Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Verfechter des Anti-Doping-Gesetzes in Deutschland (2015), Mitglied der Anti-Doping- und der Rechtskommission des Weltverbandes IAAF, Vorsitzender der Anti-Doping-Kommission des Europäischen Leichtathletikverbandes (2002-2004); Mitherausgeber der Zeitschrift "Sport und Recht".
Schneller - höher - auf Bewährung
Am 4. August 2017 beginnen in London die Weltmeisterschaften der Leichtathleten. Vor zwei Jahren stand der Leichtathletik-Weltverband vor einem Scherbenhaufen. Was hat sich seitdem getan, fragen wir den Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes Clemens Prokop.
Deutschlandfunk Kultur: In drei Wochen ist es so weit. Dann beginnen in London die Weltmeisterschaften der Leichtathleten. Die einen faszinieren diese Wettkämpfe, die schon Kinder schätzen. Wer läuft schneller, wer springt höher, wer wirft weiter? Viele andere sind einmal mehr skeptisch. Geht da wirklich alles mit rechten Dingen zu? Das wird spätestens dann gefragt, wenn ein Rekord fällt.
Über den Spitzensport generell und die Leichtathletik im Besonderen, außerdem über die geplante Spitzensportreform in Deutschland spreche ich heute mit Dr. Clemens Prokop. Bis zum November ist er noch Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes. Dann hört der Direktor im Amtsgericht in Regensburg nach 17 Jahren im Amt auf, organisiert aber noch die Europameisterschaften im kommenden Jahr in Berlin. – Guten Tag, Herr Prokop.
Clemens Prokop: Guten Tag.
Deutschlandfunk Kultur: Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende – hören Sie deshalb nach so langer Zeit als Präsident des DLV auf?
Clemens Prokop: Nein. Zum einen, muss ich gestehen, wollte ich nie Sportfunktionär werden. Als ehemaliger selbst aktiver Athlet waren mir Funktionäre eigentlich immer so ein bisschen suspekt. Und ich wusste nicht so recht, was die eigentlich tun den ganzen Tag.
Jetzt aus der anderen Perspektive weiß ich, dass wirklich der Sport nur leben kann, weil Tausende von ehrenamtlichen Funktionären ihre Freizeit opfern und sich engagieren, dass unsere jungen Menschen überhaupt die organisatorischen Möglichkeiten haben, Sport zu betreiben. Insofern ist ein Dasein als klassischer Sportfunktionär eine sehr verantwortungsvolle, aber auch eine erfüllende Aufgabe.
Aber nach 17 Jahren, denke ich, ist es auf der einen Seite gut für Organisationen, dass wieder ein Wechsel stattfindet, auf der anderen Seite aber auch für mich, weil ich doch in diesen 17 Jahren meine gesamte Freizeit, meinen gesamten Urlaub, alles in den Dienst der Leichtathletik gestellt habe und jetzt auch ein bisschen Lust auf ganz andere Dinge wieder habe. Vieles, was auch darunter gelitten hat, möchte ich jetzt einfach nachholen – von der Kunst über die Kultur bis hin einfach zum Relaxen in der Freizeit.
Der Verband ist in "hervorragender" Verfassung
Deutschlandfunk Kultur: Sie spielen sogar Orgel, habe ich irgendwo gelesen, und haben dann auch mehr Zeit, ich sage mal, den "Zehnkampf der Musik" zu bestreiten. – Aber ist Ihr Haus, der DLV, bestellt?
Clemens Prokop: Ich glaube, ich übergebe den Verband in einer hervorragenden Verfassung. Wir haben im Leistungssport nach einer schwierigen Phase Anfang dieses Jahrtausends, als viele etablierte Athleten in den sportlichen Ruhestand getreten sind, es wieder geschafft, international Anschluss an die absolute Weltspitze zu schaffen.
Wenn ich nur dran denke: Heuer sind wir Team-Europameister geworden in der Mannschaft. Wir sind mit unserer Staffel auf den Bahamas Staffelweltmeister über vier mal hundert Meter geworden – also alles Dinge, die sich schon abzeichnen.
Jetzt aber auch die letzten Tage zum Beispiel im Speerwurf der Männer, dass die besten Speerwerfer der Welt aus Deutschland kommen, das zeigt, die deutsche Leichtathletik ist wieder im Leistungsbereich voll vertreten.
In wirtschaftlicher Hinsicht kann ich den Verband in einem Zustand übergeben, in dem er sich noch nie befunden hat. Wirtschaftlich geht es dem DLV so gut wie noch nie. Und ich glaube auch, dass das sportpolitische Gewicht des DLV schon hörbar und wahrnehmbar ist. Insofern, glaube ich, kann ich meinem Nachfolger oder meiner Nachfolgerin einen Verband übergeben, mit dem man auch in die Zukunft gelassen blicken kann.
Der Anti-Doping-Kampf ist effektiver geworden
Deutschlandfunk Kultur: Trotzdem stecken olympische Kernsportarten, natürlich auch die Leichtathletik, in einer tiefen Krise. Auf die Frage, wie ernst steht es um den Weltsport, meinte vor kurzem Dopingforscher Werner Franke: "Es ist grotesk, alles Satire. Wenn ich mir allein die lustige Zusammenstreichung der olympischen Ergebnislisten anschaue, dann kann ich nur sagen: Game's over."
Sie müssten ihm jetzt scharf widersprechen, sonst wäre ein Teil Ihrer Arbeit für die Katz.
Clemens Prokop: Ich glaube, was oft verkannt wird, ist, dass – wenn tatsächlich auch Dopingfehler in der Leichtathletik auftreten – das zeigt, dass hier was geschieht. Weil, wir müssen ja wissen, aus welcher Zeit kommen wir? Wir kommen aus einer Zeit, in der Doping im Sport generell eigentlich fast totgeschwiegen worden ist, indem man eigentlich bei der Aufklärung und Verhinderung von Doping relativ wenig gemacht hat. – Da hat sich Gravierendes verändert.
Und das Ergebnis dieser Maßnahmen ist natürlich , dass dann auch positive Ergebnisse gezeigt werden, dass Sanktionen verhängt werden. Aber ich sehe sie eigentlich als positiv, weil das zeigt: Gegen Betrüger wird erfolgreich gekämpft und es geschieht was. Und ich glaube, dass jeder gesperrte Betrüger eine Warnung für jeden anderen Sportler darstellt und sagt: Wenn ich wirklich gegen die Regeln verstoße, muss ich eben auch konkret damit rechnen, erwischt zu werden.
Deutschlandfunk Kultur: Na ja. Stimmt das so? Die Nachkontrollen von Peking 2008 ergaben, dass 7,1 Prozent positiv getestet wurden. In London 2012 waren es 9,5 Prozent. Jeder zehnte Athlet kämpfte mit unlauteren Mitteln.
"Ärgernis": unterschiedliche Standards der Dopingbekämpfung
Clemens Prokop: Das ist offensichtlich richtig, aber es zeigt trotzdem im Nachgang, dass die Methoden immer besser werden und dass die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, immer größer wird. Insofern sehe ich eigentlich gerade in dieser nachträglichen Aufdeckung ein ganz wichtiges Signal, nämlich zum einen, dass kein Sportler sicher sein kann, dass er – auch wenn er die Medaille erhalten hat – diese behalten wird. Und zum anderen, dass jeder Sportler weiß, dass auch langfristig verfolgt wird. Ich glaube, an beiden Aspekten zeigt sich, dass hier der Kampf gegen Betrug im Sport immer besser wird.
Deutschlandfunk Kultur: Gleichwohl, Herr Prokop, ist es fair, eng kontrollierte Athleten, zum Beispiel aus Deutschland, gegen Konkurrenz antreten zu lassen, die nicht so engmaschig überprüft wird?
Clemens Prokop: Nein, das ist natürlich nicht fair. Das ist auch ein großes Ärgernis, dass wir auf internationaler Ebene in den unterschiedlichen Ländern unverändert sehr unterschiedliche Standards in der Dopingbekämpfung haben. Hier gilt es wirklich zu handeln.
Meine Forderung in diesem Bereich war ja immer, dass wir Mindeststandards definieren in der Dopingbekämpfung und dass nur Athleten, die diese Mindeststandards erfüllen, auch teilnahmeberechtigt bei internationalen Meisterschaften sind. Weil, wenn wir dieses System rigoros umsetzen würden, dann würden ganz schnell die Länder auch in die entsprechenden Maßnahmen investieren, weil sie natürlich Interesse daran haben, dass ihre Top-Athleten international ihr Land möglichst gut vertreten.
Deutschlandfunk Kultur: Aber warum passiert da in der Kürze der Zeit so gut wie nichts? So ist jedenfalls mein Eindruck.
Das IOC könnte im Kampf gegen Doping mehr tun
Clemens Prokop: Weil dieser Druck eben noch unzureichend aufgebaut wird. Hier, glaube ich, sind die internationalen Sportorganisationen – allen voran das IOC – gefordert, einfach eine klare Kante zu zeigen. Ich denke, gerade das IOC hat sich ja in der Causa Russland nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert, sondern hat gezeigt, dass ein gewisses Lavieren eigentlich das Problem nicht gelöst hat, sondern in der öffentlichen Wahrnehmung und in der Wahrnehmung der Verlässlichkeit und der Glaubwürdigkeit des Sports eher schädlich war.
Insofern glaube ich, hier besteht ein echter Nachholbedarf, auch wenn ich immer wieder feststelle, es geschieht doch was. Da werde ich auch wieder ein positives Beispiel sagen. Gerade in der Causa Russland hat der Internationale Leichtathletikweltverband die russische Mannschaft komplett vom internationalen Geschehen ausgesperrt. Ich glaube, das ist ein Signal, das wir uns alle vor fünf Jahren überhaupt nicht hätten vorstellen können, dass zu so einer Maßnahme gegriffen wird.
Deutschlandfunk Kultur: Warum unternimmt das IOC, und Sie kennen Dr. Thomas Bach als IOC-Präsidenten, als deutschen Funktionär natürlich auch, warum geschieht da so wenig auf dieser Ebene?
Clemens Prokop: Da kann ich nur spekulieren, was die Motive am Ende sind. Es gibt Argumente vom IOC, die mich nicht überzeugen, wie zum Beispiel, man müsste immer auf den Einzelfall abstellen, man müsste das individuelle Verschulden der Athleten würdigen. Aber wie will man denn individuelles Verschulden überhaupt feststellen, wenn da kein System vorhanden ist, das überhaupt eine solche Feststellung ermöglicht oder wenn im Gegenteil sogar, wie in Russland, wohl der konkrete Verdacht besteht, in der Vergangenheit das System sogar aktiv beim Betrug zu Lasten des Sports mitwirkt? Wie soll unter diesen Rahmenbedingungen ein individuelles Verschulden überhaupt feststellbar sein?
Ich glaube hier, dass das IOC dem Sport einen schweren Schaden zugefügt hat, der Glaubwürdigkeit des Sports einen schweren Schaden zugefügt hat. Und ich bin froh, dass beispielsweise der Weltleichtathletikverband hier einen völlig anderen Weg gegangen ist.
Deutschlandfunk Kultur: Wir kommen gleich darauf zurück. Aber in London startet Usain Bolt zum letzten Mal. Als "Retter der Leichtathletik" bezeichnet ihn Lamine Diack, der frühere umstrittene Präsident des Weltverbandes. Der legte sogar seine Hand für ihn ins Feuer. – Glauben Sie eigentlich Usain Bolt und seinen hervorragenden Leistungen?
Clemens Prokop: Zum einen ist Usain Bolt sicherlich ein Jahrhunderttalent. Man kann seine Entwicklung verfolgen, aus der Jugend bis heute zum Ende seiner Laufbahn. An seinem Talent, glaube ich, lässt sich überhaupt nicht zweifeln. Die Frage ist, ob er seine wirklich völlig außergewöhnlichen Leistungen nur mit seinem Talent erzielt hat, ob – wie einmal auch kolportiert worden ist – die jamaikanische Süßkartoffel einen wichtigen Anteil bei dem Ergebnis hätte, ob hier einfach zu dem riesigen Talent auch sehr überlegene Trainingsmethoden hinzugekommen sind oder, was am Ende ja immer im Raum steht bei außergewöhnlichen Leistungen, ob unerlaubte Mittel zu Hilfe genommen worden sind. – Ich kann nur spekulieren und das hilft uns ja auch nicht weiter.
Deutschlandfunk Kultur: Sie legen also nicht die Hand für ihn ins Feuer.
Die grundsätzliche Frage bleibt doch: Ist ein sauberer dopingfreier Spitzensport heute überhaupt noch möglich? Bis 2015 war das nicht der Fall. Da endete das System des Senegalesen Lamine Diack, gegen den zum Teil noch ermittelt wird. Wie lang ist denn noch dessen Schatten und der seines Sohnes?
Beim Leichtathletik-Weltverband hat sich viel verändert
Clemens Prokop: Ich glaube, der Schatten ist deutlich kleiner geworden. Der Weltverband hat sich ja deutlich distanziert von ihm. Der Weltleichtathletikverband hat jetzt Strukturen aufgebaut, die ein solches System verhindern sollen, basierend auf den Maßstäben von erhöhter Transparenz, deutlicher Beschneidung der Machtfülle, Verteilung der Macht auf verschiedene Schultern und gegenseitiges Kontrollsystem. Ich glaube, hier ist der Leichtathletikpräsident Seb Coe wirklich beispielhaft vorangegangen.
Wann gibt es denn schon etwas dergleichen, dass ein Präsident eines internationalen Sportverbandes von sich aus seine Macht beschneidet und auf große Teile der Macht seines Vorgängers verzichtet? Ich glaube, insofern hat Lamine Diack auch etwas Positives bewirkt. Er hat nämlich hier wirklich zu einer Strukturreform beigetragen, die im Sport, glaube ich, momentan fast beispiellos ist.
Insofern ist sein Schatten eigentlich kleiner geworden. Aber natürlich ist der Skandal nach wie vor auch immer wieder Thema vieler Diskussionen und warnender Besprechungen.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben Sebastian Coe eben angesprochen. Bevor er an die Spitze des Leichtathletikweltverbandes gewählt wurde, war er acht Jahre lang Vize-Präsident des IAAF Councils. – Wie kann es möglich sein, dass er von korrupten Machenschaften nichts wusste und dass das Gremium Diacks Vetternwirtschaft geduldet zu haben scheint?
Clemens Prokop: Das kann ich auch nicht erklären. Auf der einen Seite muss man aber natürlich sehen, dass Korruption sehr stark auch von der verdeckten Begehung lebt. Ich glaube nicht, dass Korruption sich dadurch hervortut, dass möglichst in einem transparenten System sozusagen allen das Ausmaß der Korruption auf den Tisch gelegt wird.
Deutschlandfunk Kultur: Dann wäre es wohl keine Korruption.
Clemens Prokop: Richtig, dann wäre es ja eigentlich fast ein offenes System. Aber warum es für die engsten Mitarbeiter im Weltverband nicht erkennbar war – tatsächlich, angeblich, was alles abgelaufen ist, ich kann es nicht beurteilen. Dafür bin ich auch zu weit von dem eigentlichen Machtzentrum Diack immer entfernt gewesen.
Deutschlandfunk Kultur: Und Prof. Helmut Digel, wie bewerten Sie seine Rolle? Zumindest scheint festzustehen, dass der Ehrenpräsident des Deutschen Leichtathletikverbandes als Marketing-Kommissions-Chef des Weltverbandes eine zusätzliche Kompensation erhielt. Wie sauber steht dieser einstige deutsche Spitzenfunktionär aus Ihrer Sicht da?
Clemens Prokop: Helmut Digel verteidigt ja diese Struktur, die ihn da begünstigt hat. Ich denke, wir sollten die wohl laufenden Ermittlungen abwarten und dann auf der Basis der feststehenden Tatsachen entscheiden, wie es dazu kommen konnte, was wirklich vorgefallen ist.
Deutschlandfunk Kultur: Ist das eine Distanzierung des amtierenden DLV-Präsidenten?
Clemens Prokop: Es ist eine Distanzierung insofern, dass ich einfach momentan keinen Kenntnisstand habe, der mir ein abschließendes Urteil über diese Vorgänge ermöglicht.
Deutschlandfunk Kultur: Immerhin hat er zugegeben: "Ich muss konstatieren, dass ich zwei Jahrzehnte lang Teil einer Heuchelei war." – Das ist doch eigentlich ein Offenbarungseid.
Clemens Prokop: Das ist in der Tat richtig. Allerdings hat Helmut Digel immer auch wieder betont, dass er von diesen Machenschaften nichts mitbekommen hätte. Ich muss nochmal sagen: Ich war zu weit weg davon, um auf der Basis eigenen Wissens und eigener Erkenntnisse hier Beurteilungen vornehmen zu können.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Prokop, generell, ist das Feld nicht auch zuletzt deshalb verseucht, weil die Kommerzialisierung kaum noch zu überbieten ist? Daegu in Südkorea 2013, Moskau 2015, London 2017 und Doha 2019 mussten dafür bezahlen, um die Weltmeisterschaften zu erhalten. Von Eugene 2021 ist das nicht bekannt. Aber auch in diesem Zusammenhang ermitteln französische Polizei und amerikanisches FBI. – Darf ein Verband mit Großereignissen handeln?
Clemens Prokop: Es ist in der Tat eine schwierige Frage, weil natürlich, wenn große Begehrlichkeiten für Veranstaltungen bestehen, die Versuchung immer da sein wird, sozusagen für denjenigen, der die Veranstaltung vergibt, auch wirtschaftlich gesehen die optimalen Bedingungen zu erhalten. Ich glaube, das ist zunächst mal durchaus ein verständliches Unterfangen – auf der einen Seite.
Auf der anderen Seite besteht natürlich die Gefahr, dass letzten Endes entweder im legalen Maße solche Veranstaltungen quasi versteigert werden. Der Höchstbietende erhält dann die Veranstaltung. Oder die Gefahr wird noch viel größer, dass mit illegalen Mitteln Entscheidungsträger beeinflusst werden, dass mit illegalen Mitteln hier die Entscheidung beeinflusst wird.
Ich glaube deshalb, dass für die Zukunft der wirtschaftliche Weg kein Erfolgsmodell mehr sein wird, sondern ich glaube, dass für die Zukunft gerade internationale Verbände gut beraten sein werden, wenn die Vergabe der Veranstaltung nicht mehr im Sinne einer Ausschreibung erfolgen wird, sondern dass gezielt Städte als Veranstalter ausgesucht werden, die ein Höchstmaß an Qualität für den Sport bringen. Ich glaube, das ist der Maßstab.
Wenn es so wäre, dann wären viele Gefahren der Vergangenheit für die Zukunft gebannt.
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt sind neue Rekorde im Gespräch. Der Europäische Leichtathletikverband will für 2018 jedenfalls einen entsprechenden Antrag stellen, dass Dopingkontrollen lange vor und nach einem Rekord zur Bedingung für seine Anerkennung gemacht werden. – Rekorde also auf Bewährung oder wie bei einem Steuerbescheid, der zehn Jahre lang aufzubewahren ist?
Neue Rekordlisten sind ehrlicher
Clemens Prokop: Nein, so, glaube ich, kann man es nicht sehen. Man muss generell sagen, diese Zielrichtung der Idee, neue Rekordlisten einzuführen, geht ja künftig von einer Art Doppelt-Rekordliste aus. Da sind zunächst mal alle Rekorde der Vergangenheit, die jetzt nicht gelöscht werden, sondern fortbestehen, als sogenannte Altzeitrekorde.
Aber man muss ehrlicherweise, wenn man Leistungen vergleicht, und das ist die Aufgabe der Rekorde, sagen: Die Rahmenbedingungen, unter denen solche Leistungen erbracht werden, haben sich radikal verändert. Das Ziel soll künftig sein, dass man wirklich nur Leistungen vergleicht, die auch von den Rahmenbedingungen her vergleichbar sind. Das heißt, dass neben diese Liste der Altzeitrekorde, bei denen die Rahmenbedingungen höchst unterschiedlich waren, eben eine neue Rekordliste erstellt wird, bei der sichergestellt ist, dass eben zum Beispiel nur Leistungen anerkannt werden, wenn der Athlet eine gewisse Mindestanzahl an Trainingskontrollen aufweist. Ich glaube, es ist ein erheblicher Unterschied zu den Leistungen, die wir seit Jahrzehnten als Rekorde mitschleppen.
Insofern glaube ich, dass dieser Schritt, hier unter vergleichbaren Rahmenbedingungen erzielte Leistungen in eine neue Vergleichsgruppe, in einer neuen Rekordliste aufzustellen, ein Schritt in die richtige Zukunft ist, weil sie nämlich genau der Aufgabe gerecht wird, nämlich dass ich Leistungen vergleichen kann, aber eben auch die Vorbildwirkungen, die mit diesen Leistungen verknüpft sind, an Bedingungen knüpfe wie zum Beispiel, auch nachträglich keine positiven Dopingkontrollen, die sicherstellen sollen, dass diese Vorbildwirkung erhalten bleibt. Insofern stehe ich hinter diesem Gedanken.
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, ein Mike Powell, der einmal 8,95 m weit gesprungen ist im Jahr 1991, muss nicht nachweisen, ich war damals sauber? Ich weiß gar nicht, wie er das machen könnte. Dieser Jahrhundert- oder Jahrtausendweltrekord, egal, wie man ihn bezeichnet, bleibt bestehen. Parallel wird es eine neue Liste geben. – Hat dieser Antrag der Europäer beim Weltverband eine Aussicht durchzukommen.
Clemens Prokop: Das kann ich momentan nicht beurteilen. Erfreulich ist aber, dass auch der Weltverbandspräsident Seb Coe sich positiv zu diesem Vorschlag geäußert hat. So weit waren wir mit der Idee neuer Rekordlisten noch nie. Der DLV hatte ja in der Vergangenheit schon vorgeschlagen im Jahr 2000, generell neue Rekordlisten mit dem neuen beginnenden Jahrhundert einzuführen. Damals sind wir wirklich sehr deutlich am Weltverband gescheitert. Aber da hatten wir auch keine Unterstützung.
Dieses Mal ist mit der Idee neuer Rekordlisten schon der europäische Verband d’accord. Und der Weltverbandspräsident hat sich dem angeschlossen. Das heißt, es hat sich viel bewegt. Die Ausgangsposition ist so gut wie noch nie.
Deutschlandfunk Kultur: Medaillen braucht das Land, Siegertypen. Das steht ja wohl hinter der geplanten Spitzensportreform in Deutschland. Offensichtlich sind so etwas wie Leuchttürme vonnöten, nachdem es seit den Spielen von Barcelona 1992 einen ständigen Abwärtstrend gab. – Wie bewerten Sie, Herr Prokop, die anstehenden gravierenden Änderungen, auch wenn sie zum Teil noch auf Eis liegen?
Der Sport darf nicht auf Medaillen reduziert werden
Clemens Prokop: Ich möchte, bevor ich mich zu der Sache äußere, einmal noch meine Grundposition darstellen: Ich persönlich halte nichts davon, dass man den Sport auf Medaillen reduziert. Ich glaube, der Sport ist in seiner kulturellen Bedeutung viel mehr, als seinen Wert nach Medaillen auszurichten.
Deutschlandfunk Kultur: Ist das dem Bundesinnenminister auch bekannt?
Clemens Prokop: Meine Meinung zumindest dürfte ihm bekannt sein. Ich hoffe es. Ich glaube auch, dass da vielleicht irgendwann auch ein Umdenken einsetzen wird. Weil, ich muss es nochmal wiederholen, den Sport auf die Anzahl von Medaillen zu reduzieren, die Leistungsfähigkeit eines Sportsystems auf diese eine Frage zu reduzieren, ich glaube, das ist einfach zu kurz gesprungen. Der Sport hat so viel zu bieten. Er hat so viele positive gesellschaftliche, soziale Funktionen. Hier zu sagen, wir bemessen den Wert des Sports nur anhand dieses einen Kriteriums, wie gesagt, ich bin da sehr skeptisch und halte diese Reduzierung für falsch.
Aber natürlich erachte ich es aus Sicht des größten Geldgebers des deutschen Sports, des Staates, auch für legitim, dass er immer wieder eine Art Evaluierung durchführt, ob diese Mittel so optimiert eingesetzt werden, dass einfach das Verhältnis zwischen Einsatz der Mittel und Ergebnis möglichst erfolgversprechend ist.
Insofern halte ich eine Reform des Spitzensports grundsätzlich für richtig auf der Basis einer Evaluierung, die eben sagt: Wo haben wir in der Vergangenheit Schwachpunkte? Wo ist in unseren Strukturen und in unserer Organisation Verbesserungsbedarf? Insofern geht die Spitzensportreform, glaube ich, in diesem Inhalt, einer Art gesteigerten Evaluierung, in die richtige Richtung.
Über einzelne Details kann man sich sicherlich trefflich streiten. Bei diesem Leistungsanalysesystem PotAS zum Beispiel bin ich durchaus auch noch skeptisch, wie das funktionieren soll. Ich bin einfach skeptisch, dass sportliche Perspektiven im Sinne von mathematischen Formeln errechnet werden können. Da sehe ich eher die unkalkulierbare menschliche Eigenschaft als schwer mathematisch erfassbar an.
Deutschlandfunk Kultur: Sie sprechen mit PotAS die sogenannten Potenzialanalysesystematik an, kurz PotAS. Diese bezieht unzählige Faktoren in die Erfolgsaussichten des deutschen Spitzensports mit ein, selbst kleinste und manchmal absurdeste Details, wie etwa die Frage, ob ein Verband auf seiner Website eine Rubrik "Wissen" vorweisen kann.
Sie haben schon gesagt, ich halte nichts von diesem System, weil die menschlichen Unzulänglichkeiten, die menschlichen Zufälle keine Rolle spielen. – Haben Sie trotzdem Verständnis dafür, dass hier etwas objektiviert werden soll, was möglicherweise nicht objektiviert werden kann?
Clemens Prokop: Das ist wirklich eine ganz schwierige Situation. Weil, auf der einen Seite wollen wir ja subjektive Einschätzungen möglichst ausgrenzen, weil diese subjektiven Einschätzungen auf der Seite der Geldgeber natürlich schwer objektivierbar in dem Sinne sind, dass man eine vergleichende Gerechtigkeit bei der Geldverteilung herstellen kann. Insofern: Objektivierung der Kriterien ja. Auf der anderen Seite muss aber auch Spielraum sein für das nicht Kalkulierbare.
Davon lebt ja der Sport ganz entscheidend, weil, der Reiz des Sports für den Zuschauer lebt doch davon, dass immer wieder David gegen den Goliath siegt, dass im Sport das Unerwartete geschieht, dass hier plötzlich der Außenseiter den großen Favoriten schlägt. Das ist doch der Reiz des Sports. Und wenn ich das als Wesen des Sports begreife, dann muss ich auch in der Sportförderung anerkennen, dass eben auch immer wieder Sportler, denen man diesen Erfolg nicht zugetraut hätte, plötzlich dazu in der Lage sind.
Und dies, diese Besonderheit des Sports muss in dem System auch berücksichtigt werden. Da glaube ich, dass bei mathematischen Formeln dieses Unwägbare einfach am Ende zu kurz kommt. Und Sie haben zu Recht gesagt, in den bestehenden Kriterien sind viele skurrile Eigenschaften dabei. Ich könnte jetzt weitere auch noch sagen.
Deutschlandfunk Kultur: Welche zum Beispiel?
Clemens Prokop: Zum Beispiel, dass es für die Förderungsfähigkeit, für die Perspektive einer Sportart von Bedeutung sein soll, ob der Leiter der Leistungssportabteilung offiziell Vorstand des Verbandes ist oder nicht. Allein eine Zubilligung einer formalen Funktion soll hier die Perspektive im Sport verbessern. Da sehe ich keine Tatsachen, die einen solchen Schluss zulassen.
Deutschlandfunk Kultur: Es steht aber im Raum eine Zentralisierung. Olympiastützpunkte und Bundesstützpunkte sollen abgebaut werden. – Wie passt eine solche Zentralisierung in ein föderales System?
Zentralisierung im Spitzensport ist schwierig
Clemens Prokop: Die Zentralisierung im Sport ist wirklich ein ganz heikler Punkt. Weil, wir haben Sportarten, bei denen ist eine Zentralisierung sinnvoll und ergibt sich aus der Natur der Sache. Nehmen wir mal zum Beispiel Skispringen. Sie werden in Hamburg eben nicht Skispringen können. Wenn Sie als Sportler ein großer bedeutender internationaler Skispringer werden wollen, dann werden Sie wohl keine Alternative haben, als sich auf vorhandene Leistungssportzentren hinzubewegen.
Auf der anderen Seite gibt es Sportarten wie die Leichtathletik mit 47 olympischen Disziplinen, die gar nicht in sich zentralisiert werden können, im Gegenteil. Wenn wir hier quasi eine Abkoppelung des Hochleistungssports vom allgemeinen Sport vornehmen, würde die Vereinslandschaft, auf der eine Sportart wie die Leichtathletik ganz entscheidend aufbaut, zerstört. Weil, welcher Verein würde sich denn noch im Leistungssport engagieren, wenn er weiß, ab einer bestimmten Leistungsklasse müsste er seine Athleten dann in bestimmte Zentren abgeben?
Deshalb ist es so ein bisschen eine Gratwanderung. Es gibt eine Reihe von Sportarten, bei eine Zentralisierung sicherlich von der Sache her schon strukturell vorgegeben ist und bei denen es sinnvoll sein kann. Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele Sportarten, bei denen eine solche Zentralisierung eher kontraproduktiv sein kann.
Da muss man einfach einen praktikablen und vernünftigen Weg finden, der beiden Gesichtspunkten gerecht wird.
Deutschlandfunk Kultur: Grundsätzlich noch einmal die Frage: Warum muss sich ein Land wie Deutschland über planbare Medaillen definieren? Welcher Gedanke steckt dahinter?
Clemens Prokop: Zunächst ist es natürlich so, dass sportliche Erfolge sozusagen das Land einen. Der sportliche Erfolg verleiht einem Land nationale Identität, Zusammengehörigkeitsgefühl. Und ich denke, wir haben das zum Beispiel bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 in beeindruckender Weise erlebt, als ja immer wieder auch dann am Schluss bestätigt wurde, dass so ein Event und auch sportlicher Erfolg, der damit verbunden ist, eine ganz starke integrative Wirkung hat.
Natürlich ist der sportliche Erfolg auch Vorbild und Anreiz und Motivation für viele junge Menschen, sich auch zu engagieren, auch in den Sport zu gehen. Und ich glaube, der sportliche Erfolg hat vor allem am Schluss noch eine ganz andere Komponente, nämlich: Leistungssport ist ja der Traum, die eigenen Leistungsgrenzen zu verschieben. Wenn ein solcher Traum erfolgreich vorgelebt wird, dann, glaube ich, geht es in seiner pädagogischen Bedeutung über den Sport hinaus, weil man erkennt, dass einfach Talente und Anstrengungen einfach Grenzen öffnen, Möglichkeiten schaffen, an die man vielleicht selbst in diesem Umfang gar nicht geglaubt hat.
Aber ich gebe Ihnen Recht. Die Medaille ist am Ende doch nicht alles, die Medaille ist eben nicht der alleinige Maßstab, um diesen Traum auch vorzuleben. Ein vierter Platz kann genauso faszinierend sein wie der dritte Platz. Sprüche wie, Verlieren beginnt mit dem zweiten Platz, sind einfach Unsinn.
Ich will ein Beispiel sagen: Wir haben manchmal schon im Stabhochsprung der Männer die Situation gehabt, dass die ersten vier die gleiche Höhe übersprungen haben und dann eben nach Kriterien wie Fehlversuchen usw. die ersten drei Plätze vergeben wurden und dann jemand, wenn es das Glück nicht wollte, mit der gleichen Höhe, mit der jemand zum Beispiel Olympiasieger wurde, dann nur Vierter wurde. Hier zu sagen, der vierte Platz wäre nicht mindestens genauso gleichwertig wie der erste Platz, entspricht einfach nicht der gelebten Praxis.
Deutschlandfunk Kultur: Der Deutsche Olympische Sportbund spricht vollmundig von Sportdeutschland. Und die Kinder werden immer unsportlicher. Nicht selten fehlt eine dritte Sportstunde. Und so manche Sportanlage müsste dringend renoviert werden. – Das passt doch nicht zusammen. Und wenn doch, wie?
Clemens Prokop: Nun, der Olympische Sportbund bezieht sich natürlich immer vor allem auch auf die Zahlen der Mitgliederentwicklungen. Und die sind ja nun wirklich beeindruckend.
Auf der anderen Seite, glaube ich, ist es genauso richtig, dass wir mit der Freude an der Bewegung große Probleme haben, junge Menschen zu erreichen. Junge Menschen orientieren sich heute in vielen Fällen leider in anderer Weise.
Deutschlandfunk Kultur: Und möglicherweise nicht an Olympiasiegern, Herr Prokop.
Clemens Prokop: Ja, das ist richtig. Ich glaube, dass für viele junge Menschen heute eine ganz andere Orientierung stattgefunden hat, insbesondere stelle ich immer wieder fest, dass die modernen Kommunikationsmittel Reize für junge Menschen schaffen, die der Sport momentan ihnen nicht zu bieten vermag.
Hier, glaube ich, müssen wir wirklich dran arbeiten, weil, es geht ja nicht nur am Ende darum, über die Freude an der Bewegung viele Olympiasieger zu produzieren, sondern es geht einfach schlicht und einfach um die Frage der Gesundheit. Wer körperlich sich zumindest in Bewegung hält, ist insgesamt einfach ein leistungsfähiger und fröhlicher Mensch. Davon bin ich überzeugt. Deshalb müssen wir wirklich drauf achten, dass hier die Freude an der Bewegung für junge Menschen einfach ungebrochen ist und dort, wo es erforderlich ist, wieder gesteigert wird.
Hier, glaube ich, kommt dem Schulsport eine entscheidende Bedeutung zu, weil über diese Pflicht zur Bewegung ja sozusagen auch die Freude an der Bewegung, an der körperlichen Fitness erreicht werden sollte. Ich bin auch skeptisch, ob der Schulsport wirklich durchgängig dieser Herausforderung gewachsen ist.
Deutschlandfunk Kultur: Danke, Herr Prokop, dass Sie sich die Zeit genommen haben.
Clemens Prokop: Danke.