Die Leichtigkeit der Stille

Von Stefan Keim |
Ein Konzertflügel wird geöffnet und nach genau 4'33 Minuten wieder zugeklappt, ohne dass ein Ton gespielt wird - dieses Stück zählt zu den bekanntesten des US-Komponisten John Cage. Ein Dortmunder Kunstverein und die Ruhrtriennale in Bochum wollen diese Stille nun erkunden.
"A piano is not required" - "Ein Klavier wird nicht benötigt", faxte John Cage einem Veranstalter, der sein berühmtes Stück "4'33" aufführen wollte. Es muss nicht immer ein Konzertflügel sein, der geöffnet und nach vier Minuten und 33 Sekunden wieder zugeklappt wird, ohne dass eine Taste gedrückt wird. Die Musik besteht aus den Geräuschen, die das Publikum macht, aus Husten, knarrenden Stühlen, vielleicht einem vorbeifahrenden Auto.

Nicht nur John Cages 100. Geburtstag wird in diesem Jahr gefeiert, sondern auch der 40. seiner berühmtesten Komposition. Der Hardware MedienKunstVerein nahm dies zum Anlass für seine Ausstellung "Sounds like Silence" im Kulturzentrum Dortmunder U.

Die Kuratoren Inke Arns und Dieter Daniels zeigen die vielfältige Aufführungsgeschichte von "4'33", vom Schlagzeugensemble bis zur vierhändigen Aufführung durch Harald Schmidt und Helge Schneider im Fernsehen. Pierre Huyghe hat versucht, die Geräusche während einer Aufführung in Notenwerte rückzuübertragen. Auf einigen Zetteln sehen die Besucher Möglichkeiten, Stille zu notieren. Überraschend witzig und vielseitig sind die Kunstwerke, die durch Cage angeregt wurden. Das geht von "Dr. Murkes gesammeltem Schweigen" von Heinrich Böll über "4'33" als Handyklingelton bis zu einem schweigenden Wecker. Er nimmt die Geräusche der Umgebung auf, verdichtet sie, spielt sie immer lauter ab, bis er plötzlich abbricht. Und durch die Stille wacht man auf. Ausprobieren kann man es leider nicht, denn der Wecker ist kaputt und steckt voller amerikanischer Ersatzteile.

Neben Werken von Nam-June Paik und Bruce Nauman können die Besucher in einem schalltoten Raum ihre eigenen Körpergeräusche erleben. Wie es John Cage im Keller der Harvard-Universität tat, als er auf der Suche nach der absoluten Stille war. Und Sonntag nachmittags gibt es schweigende Performer, die jeweils einen Zuschauer mit an einen Ort in der Dortmunder Innenstadt nehmen und dort "4´33" für diesen einzelnen Menschen aufführen.

"Ich bin hier, und es gibt nichts zu sagen." Mit diesen Worten beginnt die "Lecture on Nothing", die John Cage 1949 schrieb. Sie gilt als einer der wichtigsten Texte der experimentellen Literatur des 20. Jahrhunderts. Zugleich ist die "Lecture" eine Sprechpartitur, Wortmusik, die nicht dem Sinn des Gesagten, sondern einer vorgegebenen Struktur folgt. In der Ausstellung hört man sie von einem Gehörlosen rezitiert. Während einige Kilometer weiter, in der Bochumer Jahrhunderthalle, der legendäre texanische Regisseur Robert Wilson die "Lecture on Nothing" performt.

Der Abend beginnt mit Krach, einem fiesen, lauten Geräusch, das an den Nerven zerrt. Robert Wilson sitzt - ganz in weiß gekleidet - hinter einem Tisch, auf dem ein riesiges Buch liegt. Die Bühne ist übersät mit Zeitungen, auf Transparenten stehen Zitate aus John Cages "Lecture on Nothing". Ein Mann mit weiß geschminktem Gesicht schaut über eines dieser Transparente hinweg mit einem Fernglas ins Publikum, setzt es ab und lächelt. Seine zeitlupenartigen Bewegungen wiederholen sich in einer Endlosschleife. Während der laute Ton höher und unangenehmer wird.

Plötzlich Stille. Einige Minuten lang. Auch Robert Wilson sagt kein Wort. Jemand hustet, ein anderer lacht, irgendwo raschelt was. John Cage definierte solche Geräusche als Musik, es kommt nur auf die Wahrnehmung an. Dann spricht Wilson. Auch wenn John Cage beteuert, dass er nichts zu sagen habe, entfaltet seine "Lecture on Nothing" ein Konzept der Weltwahrnehmung, seine Philosophie. Es geht um Freiheit, die nur erreichen kann, wer sich nicht für persönlichen Besitz interessiert und im "absoluten, lebendigen Augenblick" lebt.

Robert Wilson steht auf, geht zur Rampe, zwinkert dem Publikum plötzlich zu. Die Zuschauer lachen. Der kleine Moment hat eine riesige Wirkung, weil Wilson sich zuvor kaum bewegt hat. Er legt sich in ein Bett. Die Lesung geht weiter, als Toneinspielung. Es ist die Stimme von John Cage, aus einer frühen Tonaufnahme. Wilson hat sich genau damit beschäftigt, wie Cage selbst seinen Text gesprochen hat. Kritiker haben ihm in den letzten Jahren vorgeworfen, seine Aufführungen seien zu glatt und perfekt. Das trifft auf die "Lecture on nothing" überhaupt nicht zu. Sie wirkt spontan, spielerisch, voller Leichtigkeit. Auf der Bühne nimmt Robert Wilson jede kleine Reaktion des Publikums wahr. Man sieht es an ganz kleinen Gesten, der Kopf ruckt ein paar Millimeter in die Richtung eines Husters, die Augen blitzen kurz auf.

Manche Sätze spricht er mit brüchiger Stimme, andere kraftvoll. Selbstironisch spielt er mit Pausen und Wiederholungen und steigert sich einmal herrlich absurd ins Pathetische. Und Robert Wilson scheint in der Beschäftigung mit John Cage, dessen Buch "Silence" ihm Mut zur künstlerischen Freiheit vermittelte, zu seinen Wurzeln zurückzufinden. "Lecture on Nothing" ist eine wunderbare Mischung aus Philosophie und Entertainment.


Service:

Die Ausstellung "Sounds like Silence" im Dortmunder U ist bis zum 6. Januar 2013 geöffnet.

Die "Lecture on Nothing" ist am 28. August auf der Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle zu sehen.


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