Die Liebe zur Mathematik, Musik und der Zahl 313

Moderation: Holger Hettinger |
2008 ist das Jahr der Mathematik. Sie sei vor allem eine Wissenschaft vom Unendlichen, betont der Wiener Mathematiker Rudolf Taschner. Darin liege ihre Faszination - ebenso wie im Rätsel der Folge der Primzahlen. In der Musik würde er Schubert allerdings immer den Vorzug vor einem Komponisten wie Schönberg geben.
Holger Hettinger: 2008 ist das Jahr der Mathematik. Na großartig, werden jetzt manche denken, die Welt der Mathematik, das sind Brüche, Kurvendiskussionen, Integrale, für Nicht-Mathematiker ungefähr so aufregend, wie Wandfarbe beim Trocknen zuzusehen. Von wegen, sagt Rudolf Taschner, der Wiener Mathematikprofessor möchte den Beweis antreten, dass Mathematik sehr wohl Faszinationskraft hat. Seine Vorlesungen und deren Erfolg geben ihm recht. Schönen guten Tag, Herr Taschner!

Rudolf Taschner: Ich begrüße Sie!

Hettinger: Herr Taschner, man liest oft von der Schönheit der Mathematik. Erklären Sie doch mal, worin liegt diese Schönheit für Sie begründet?

Taschner: Mathematik ist auch eine Wissenschaft wie viele andere, Biologie ist die Wissenschaft vom Leben, Geologie ist die Wissenschaft von Gesteinen und Mathematik ist die Wissenschaft vom Unendlichen. Das Unendliche ist also das Thema der Mathematik, und das Unendliche hat die Menschen doch immer fasziniert, und es liegt doch irgendein ästhetischer Reiz im Unendlichen. Wenn Sie die Schienen entlang betrachten, die dann im Nebel irgendwo verschwinden und sie sagen, das sind doch Parallele und die müssen einander irgendwo schneiden, nur, wo finde ich das? Und wenn Sie dann den Nebel dazu betrachten, dann haben Sie schon ein, wie soll ich sagen, fast romantisches, schönes Bild vor Augen.

Hettinger: Aber auf dem Weg dorthin zu dieser Erkenntnis, das ist doch eigentlich ein weiter Weg, da muss man doch heftige Knüppel überwinden.
Taschner: Ja, ja, da muss man unendlich laufen, das ist schon ziemlich viel, ja. Da haben Sie ganz recht.

Hettinger: Hat man als Mathematikprofessor auch so was wie eine, ja, ganz profan gesprochen, eine Lieblingszahl?

Taschner: Ja, ich habe eine kleine Lieblingszahl, das ist Fünf. Ich weiß gar nicht warum, aber Fünf gefällt mir einfach, und eine größere, das ist 313, das weiß ich aber ziemlich genau warum, weil das die Autokennzahl von Donald Duck ist.

Hettinger: Das lässt sich ohne größeren Formelaufwand herstellen. Die Autokennzahl von Donald Duck aus Entenhausen in den Comics ist eine relativ anschauliche Geschichte, nun gibt es aber doch auch in der Mathematik sehr geheimnisvolle, fast schon unergründliche Bereiche, Sie haben es eben angedeutet. Was fasziniert Sie in dieser Beziehung am meisten?

Taschner: Ja, wenn Sie mich so nach Lieblingszahlen gefragt haben, so muss ich eigentlich ganz genau sagen: Es gibt für einen Mathematiker keine Lieblingszahl, denn eine Zahl ist einfach nur eine Sprosse auf dem Schritt hinauf zur nächsten Zahl. Zahlen, die also sozusagen einfach dastehen und die man braucht, das ist eine Sache der Buchhalter, der Finanzbeamten und ähnlicher Menschen mit Ärmelschonern, aber die Mathematiker, das sind diejenigen, die sagen, Zahlen sind nur ein Weg hinauf, eben auf dem Weg, 1, 2, 3, 4 und dann ins Unendliche, oder ich betrachte die Primzahlen, von denen man nicht genau weiß, wie sie aufeinanderfolgen, 1913 ist eine, dann ist eine Riesenlücke, dann kommt 1931 und gleich darauf 1933, dann wieder eine Riesenlücke bis 1949. Warum sind solche Lücken da? Und dann kommt wieder gleich die nächste, 1951. Das ist ein tiefes Rätsel, und solche Rätsel, die können manchmal gelöst werden und manchmal bleiben sie ewig bestehen. Das ist einfach das Faszinierende an dem ganzen Geschäft.

Hettinger: Hm, ich glaube, ich bin da ein sehr handfester Typ, ich freue mich, wenn die Arbeit irgendwann gemacht ist, und das Problem, an dem ich sitze, gelöst ist. Das scheint bei den Mathematikern irgendwie nicht der Fall zu sein?

Taschner: Oh, manchmal passiert es schon, dass man sagt, jetzt habe ich etwas gefunden. Dann freut man sich, man lehnt sich zurück und dann, wenn man ein bisschen darüber nachdenkt, sagt man sich, aber da steckt doch ein weiteres Problem dahinter, und schon beginnt die Arbeit aufs Neue, und so sind das eigentlich Menschen, die nur vom Stress der neuen Probleme geplagt werden. Aber manchmal kann man sich davon erlösen und man geht durch den Park spazieren oder man trifft einen anderen Menschen, mit dem man sich gut unterhält und dann sind alle Probleme einfach wie weggewischt, obwohl noch nicht gelöst.

Hettinger: Klingt so ein bisschen nach großer Lust an Sisyphusarbeit.

Taschner: Ja, aber Sisyphus muss man sich als glücklichen Menschen vorstellen. Wenn Sie Camus gelesen haben, wissen Sie: Immer wenn er runtergeht und den Stein aufs Neue holt, weiß er, er ist stärker als die Götter, denn er kann immer wieder weiterarbeiten.

Hettinger: Die "FAZ", die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", nennt Sie ein Kommunikationsgenie, einen Geschichtenerzähler, einen Glücksfall für die Mathematik. Wie bringen Sie Ihrem geneigten Publikum die Faszination Mathematik nahe?

Taschner: Ja, das mit dem Geschichtenerzählen, das ist ganz richtig. Wenn man eine Geschichte um ein mathematisches Problem herum erzählt, also Archimedes in Alexandria, und er fragt sich, wie kann ich das Volumen der Kugel und das Volumen des Zylinders berechnen, weil seine Kollegen ihm das als Aufgabe gegeben haben. Und er kommt in Alexandria nicht auf die Lösung und er muss nach Syrakus zurück, und er bemüht sich und rechnet im Sand. Das sind Menschen, die sich sozusagen mit einem Problem beschäftigten, und Syrakus wird von den Römern belagert, und er muss sich von seinem Problem sich wegbegeben und Kräne konstruieren, um die römischen Schiffe in die Höhe zu heben, damit die Soldaten ins Meer hinabfallen. Das sind, wie soll ich sagen … Dieses Umfeld, dieser Kontext, der macht das Ganze irgendwie lebendig, und plötzlich sagt man sich, ja, warum hat dieser Mensch, der so geschickte Maschinen konstruiert, gesagt, all das war nur Spielzeug, im Gegenteil, das Wichtigste für ihn war das Abstrakte, zu wissen, wie kann ich das Volumen einer Kugel ausrechnen. Und die Antwort lautet: Eine Maschine, die kann man heute brauchen, morgen wirft man sie weg, aber das Volumen der Kugel, das ist im ganzen Universum immer das gleiche, egal wo ich bin, und das ist eine ewige Erkenntnis, wenn ich weiß, da steckt die Zahl Pi dahinter, und die Zahl Pi, die ist was Geheimnisvolles, 3,14159265358979323 und so weiter und so weiter. Und Archimedes hat ein Verfahren gefunden, wie man sie berechnet, und damit hat er etwas Ewiges gemacht, gleichsam etwas, was zeitlos ist.

Hettinger: Die Sehnsucht nach der Ewigkeit und die Lust an diesen komplexen Rätseln – ist der Mensch besonders nah bei sich selbst, wenn er mathematische Probleme löst?

Taschner: Das ist eine sehr gute Frage. Wann ist man nahe bei sich selbst? Höchstwahrscheinlich, wenn man ganz weit von seinen täglichen Sorgen entfernt ist. Was ist Schule? Schule im Griechischen bedeutet scole, und wissen Sie, was scole bedeutet? Weg vom Leben, lebensfern, ganz der Muße sich hingeben zu können, einfach dieses Leben, das einem so tagtäglich begegnet, wo man ans Einkaufen und ans Kochen und ans Abwaschen und an all diese alltäglichen und banalen Dinge denkt, einfach fallen lassen, und dann kommt man zu sich selbst, indem man eigentlich von diesem Lebensnahen sich entfernt. Die Verfremdung ist das Spannende, und die Mathematik ist doch das Verfremdenste überhaupt. Man reduziert alles auf abstrakte Zahlen, und die Zahlen selbst, die findet man nirgendwo. Haben Sie schon jemals die Zahl 5 oder die Zahl 313 als Zahl gesehen? Nur als Autokennzahl, aber als Zahl selbst? Wo findet man die?

Hettinger: Das klingt fast schon metaphysisch, so faszinierend ist das. Lassen Sie uns doch einfach mal ein paar ganz konkrete mathematische Probleme angehen. Warum haben – um ein bekanntes Rätsel zu zitieren – in einem Raum mit 50 Personen mit einer Wahrscheinlichkeit von 97 Prozent zwei Menschen am gleichen Tag Geburtstag?

Taschner: Das ist ein eigenartiges Paradoxon. An sich würde man ja sagen, na ja, ich bin überzeugt, wenn 366 oder 367 Personen in einem Raum sind, da bin ich ganz sicher, dass zwei gemeinsam Geburtstag haben, davon muss ich ja ausgehen, das nennt man das Schubfach-Prinzip. Wenn jeder Tag sozusagen ein Schubfach ist, und jeder Mensch sozusagen seinen Geburtstag in das jeweilige Schubfach hineinlegt, dann müssen bei 366 oder – wenn wir den 29. Februar mit hineinnehmen, dann sind wir bei 367 Menschen –, müssen zwei am gleichen Tag Geburtstag haben. Aber schon bei 50 ist die Wahrscheinlichkeit unglaublich hoch, dass trotzdem zwei dieser 365 oder 366 Schubfächer von zwei Personen belegt werden, außerordentlich hoch. Und warum ist das der Fall? Das kann man eigentlich nur durch Rechnung bestätigen. Man sieht es, wenn man das nachrechnet. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Zweiter denselben Geburtstag hat wie der Erste, ist erst noch sehr gering, und dann wird sie aber immer größer und größer. Das Paradoxon besteht höchstwahrscheinlich darin, dass, wenn man sich vorstellt, ich bin in einem Raum, wo 49 andere Personen mit mir zusammen sind, wer wird denn mit mir gemeinsam Geburtstag haben? Das ist selbstverständlich sehr unwahrscheinlich. Aber dass irgendwelche zwei dieser Personen gemeinsam Geburtstag haben, das ist eine ganz andere Frage. Man muss also von sich selbst irgendwie abstrahieren können. Das ist überhaupt die Gefahr der Wahrscheinlichkeitsrechnung, wenn man selbst beim Roulettetisch steht und spielt, dann möchte man ja selber gewinnen, aber man muss auf jeden Fall beim Roulette die Position des Croupiers einnehmen, der überhaupt nicht gewinnen möchte. Den interessiert auch gar nicht, wie die Kugel fällt, sondern der sieht einfach nur diese Wahrscheinlichkeiten, mit einer ungefähren Wahrscheinlichkeit von einem Siebenunddreißigstel kommt Zero, aber beim jeweiligen einzelnen Spiel ist es völlig irrelevant. Das macht diese Wahrscheinlichkeitsrechnung zum Teil so eigenartig, skurril und spannend.

Hettinger: Sie sind musikbegeistert, habe ich gelesen. Lassen Sie mich raten! Die Musik von Johann Sebastian Bach und den alten Niederländern ist Ihnen näher als beispielsweise Schubert oder Brahms. Stimmt das?

Taschner: Nein! Schubert ist sehr schön! Schubert ist so ein …Ich muss gestehen, Schubert ist mein Lieblingskomponist.

Hettinger: Ich hätte gedacht, Sie mögen so was Mathematisches wie Johann Sebastian Bach oder …

Taschner: Ja, natürlich, aber der heilige Johann Sebastian Bach, ich würde sagen, der ist vom Himmel herabgekommen, und Schubert ist von den Menschen hinaufgekommen zum Himmel. Schubert schreibt wirklich für die leidende Seele hier auf Erden, das ist zum Teil ja so, wenn Sie das Quintett betrachten, den zweiten Satz, also ehrlich gesagt, ich höre es fast ungern, weil es ist himmlisch schön, dass man so gerührt ist. Man darf diese Musik gar nicht richtig berühren, weil man ist meistens nicht in der richtigen Stimmung dafür. Schubert ist einer der unglaublichen, großen Komponisten, gleichzusetzen in der Reihe mit Mozart oder Haydn und natürlich auch mit Bach.

Hettinger: Sehen Sie mal, habe ich mich in Ihnen getäuscht. Ich dachte, dass so was Konstruktives Ihnen da mehr bedeutet, aber gut.

Taschner: Es gibt auch ganz schreckliche, konstruktive Komponisten, Schönberg zum Beispiel, und ich kann mit Schönberg ehrlich gesagt nichts anfangen. Ich habe auch keine Idee, warum gerade zwölf Töne im gleichen Abstand das Wesentliche sind. Das ist eine Art der Musikbetrachtung, die mir gar nicht liegt, weil ich glaube, dass die Tonalität irgendwie in uns eingenistet ist.

Hettinger: Die Musik und die Mathematik und die Zahl 313. Der Wiener Mathematikprofessor Rudolf Taschner setzt ganz auf die Faszinationskraft der Musik. Ich danke Ihnen sehr.

Taschner: Danke vielmals.