Die Linke in Spanien

Lieber Greta als Marx

22:43 Minuten
Luftaufnahme vom zentralen Platz Puerta del Sol in Madrid mit Zehntausenden Demonstranten während der Dämmerung.
Auf dem zentralen Platz Puerta del Sol in Madrid protestierten im Mai 2011 Zehntausende vornehmlich junge Menschen für soziale Reformen in Spanien. © AFP / Javier Soriano
Von Reinhard Spiegelhauer |
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Vor zehn Jahren richteten sich die Proteste junger Spanier vor allem gegen die Auswüchse des Kapitalismus und die Allmacht der Banken. Es folgte ein Marsch der Linken durch die Institutionen, der das Land verändert hat.
Ein Nachmittag im Mai an der Puerta del Sol in Madrid. Die Sonne scheint noch auf den Platz. Hier ist der Kilometer Null aller spanischen Straßen, hier ist die Uhr, deren Glockengeläut zu Silvester in ganz Spanien ein Fernsehereignis ist.
Menschen mit Einkaufstaschen laufen über den Platz, manche setzen sich an einen der beiden Brunnen, machen ein Päuschen. Ein Straßenmusikant bereitet sein Equipment vor.

Ein Platz als Symbol für Veränderung

Aufgrund der Corona-Pandemie sind relativ wenige Touristen unterwegs; die Straße, die am Rande des Platzes verläuft, ist seit einiger Zeit verkehrsberuhigt. Man sieht dem Platz nicht an, dass sich von dort aus das spanische Parteiensystem – und ein bisschen auch Spanien – verändert hat.
Ein älterer Mann steht vor einer Plakatwand, auf der die Aufschrift "Vive La Revolucia" zu lesen ist.
"Es lebe die Revolution" - eine Plakatwand am Eingang der U-Bahnstation Puerta del Sol während der Proteste in Madrid im Mai 2011.© AFP / Dominique Faget
Es geschah in der Nacht vom 15. auf den 16. Mai 2011, hier auf dem Platz an der Puerta del Sol:
"Niemand geht heute nach Hause", ruft er. Und per Megafon: "Zelte können wir aber nicht aufstellen, denn dann räumen sie sofort."
Aber die Platzbesetzung nimmt ihren Lauf. Sie beginnt mit ein paar Dutzend junger Leute, die sich auf Protestplakate legen, die sie am Abend bei einer Demonstration getragen haben. Ihre Aktion dokumentieren sie auf Youtube.

"Ihr vertretet unsere Interessen nicht"

Seit Wochen gibt es Demonstrationen in Madrid und in anderen großen Städten Spaniens. Denn viele Menschen fühlen sich von den Politikern der beiden großen Parteien im Stich gelassen. "Ihr vertretet unsere Interessen nicht", skandieren sie.
Man spricht von der "Bewegung der Empörten". Schon ein paar Jahre zuvor ist die Immobilienblase geplatzt, jetzt sind Banken- und Eurokrise dazu gekommen.
In Spanien liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei deutlich über 40 Prozent. Und die Politik tut nichts dagegen, finden viele.
Spanische Demonstranten sitzen vor ihren Zelten auf dem vollen Platz Puerta da Sol in Madrid.
Mehr als ein Happening - Demonstranten campieren 2011 fast vier Wochen lang auf dem Platz Puerta da Sol in Madrid.© AFP / Pierre-Philippe Marcou
Innerhalb weniger Tage entsteht ein großes Protestcamp. Und jeden Abend wird das Stadtzentrum von Madrid zu einer einzigen großen Kundgebung.
"Tausende von Menschen, dicht gedrängt, und die Leute schrien, hoben ihre Arme. Das war eine sehr, sehr mächtige Energie. Ein elektrisierendes Gefühl, alles um einen herum, ein Gefühl der Gemeinschaft. Sehr verschiedene Menschen, mit unterschiedlichem Hintergrund, aus allen Altersgruppen, sogar mit sehr verschiedenen politischen Vorstellungen, hatten sich gefunden, um gemeinsam gegen Korruption, gegen Ungerechtigkeit, gegen den sozialen Kahlschlag, gegen die politische Klasse zu demonstrieren, der als Folge der EU-Politik wahrgenommen wurde."

"Es ging da gerade los mit sozialen Netzwerken"

Eduardo Fernandez erinnert sich gut daran, wie es vor zehn Jahren war, hier auf dem Platz an der Puerta del Sol. 19 Jahre alt war er damals, und einer derjenigen, die den Stein mit ins Rollen brachten: mit der Internetplattform "Juventud Sin Futuro" – Jugend ohne Zukunft.
"In der Zeit ist es in Spanien gerade losgegangen mit sozialen Netzwerken – und wir haben mit unserer Kampagne viel Aufmerksamkeit erregt, mit unseren gelben und schwarzen Onlinplakaten."
Demonstranten mit einem Schild in Form einer Sonne und mit der Aufschrift "15M".
In Madrid demonstrieren 2016 Hunderte von Menschen zum fünften Jahrestag der "15M" Bewegung.© picture alliance / Pacific Press / Marcos del Mazo
An der Puerta del Sol beginnen die Demonstranten, sich zu organisieren. Eine Volksküche wird eingerichtet, ein Sanitätszelt, Freiwillige sammeln Müll ein – das Wichtigste aber:
Es bilden sich Plenargruppen, in denen über gesellschaftliche Vorstellungen und politische Forderungen diskutiert und abgestimmt wird. Diese Diskussionsform, sowie die in die Luft gehobenen Arme mit den zum "Ja" geschüttelten Händen werden Protestbewegungen wie Occupy wenig später übernehmen. Die "Bewegung des 15. Mai" ist entstanden.
"Das ist ein offener Prozess demokratischer Entwicklung, vorangetrieben von Menschen, die empört sind über Politiker, die nur ihre eigenen Interessen vertreten."

Menschen aller Altersgruppen demonstrieren

Es ist Widerstand gegen eine EU-Politik, die nur den Interessen der Wirtschaft folgt, so Eduardo Fernandez damals. Aber nicht nur junge Leute wie er wollen eine andere Politik. In Umfragen erklären sich drei Viertel der Befragten solidarisch. Zu abendlichen Unterstützerdemonstrationen kommen Menschen fast aller Altersgruppen.

Zum Beispiel die 68-jährige Rosa, gelernte Krankenpflegerin. Das Protestcamp müsse für die großen Parteien, Sozialisten und Volkspartei Ansporn für Veränderungen sein, für echte Demokratie.
Echte Demokratie – das ist eine zentrale Forderung der Bewegung. Zum Beispiel durch ein neues Wahlrecht, das nicht länger den beiden großen Parteien Vorteile bei der Sitzvergabe bringt.

Die Proteste von den Plätzen in die Parlamente tragen

Aber nach einem Monat Platzbesetzung und vielen abendlichen Demonstrationen verschwindet das Protestcamp. Eduardo Fernandez:
"Es wurden Kommissionen gebildet, manche utopischer und langfristiger – andere konkreter, wie zum Beispiel die zur Reform des Wahlgesetzes oder zu bestimmten Aspekten der Sparpolitik. Aber die Platzbesetzung war eigentlich kein Wert an sich. Tatsächlich bestand der nächste Schritt darin, die Proteste von den Plätzen in die einzelnen Stadtteile von Madrid zu bringen."
Ein junger Mann mit kurzen braunen Haaren steht mit schwarzem Puli vor einem Gebäude.
Eduardo Fernandez Rubiño - Aktivist des Spanischen Frühlings und Wegbegleiter von Ex-Podemos Chef Pablo Iglesias.© Privat
Im Kleinen, in Stadtteilversammlungen, gehen also Treffen und politische Arbeit weiter – allerdings weit weniger sichtbar. Ein halbes Jahr später holt ausgerechnet der konservative Mariano Rajoy mit seiner Volkspartei bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit.

Ende des Zweiparteiensystems in Spanien

Viele Forderungen der – bis vor Kurzem noch – Massenbewegung des 15. Mai, sind eher "links". Und doch: Vor allem enttäuschte Anhänger der Sozialisten sind damals zu Hause geblieben, sagt Eduardo Fernandez heute.
Tatsächlich hatte der sozialistische Ministerpräsident Zapatero im Jahr 2011 wegen der Schuldenkrise drastische Sparmaßnahmen durchgesetzt: 65 Milliarden Euro wurden gestrichen. Bei den Schulen, den Krankenhäusern, der Polizei – und bei den Renten. Eduardo Fernandez erzählt weiter:
"Aber der Wahlsieg der Konservativen hat nur übertüncht, dass sich ein politisches Erdbeben zusammenbraute, das zwar noch keine Ausdrucksmöglichkeit hatte, aber den Weg geebnet hat für das Ende des faktischen Zweiparteiensystems in Spanien."

Das Streichkonzert der Konservativen

Der Weg ist allerdings lang und steinig. Erst einmal kürzen die Konservativen unter Ministerpräsident Rajoy noch radikaler als zuvor die Sozialisten. Sie machen mit Arbeitsmarktreformen Entlassungen billiger, die Arbeitslosigkeit steigt bis auf 25 Prozent. Von den unter 25-Jährigen findet nicht einmal jeder zweite einen Job.
Menschen, denen die Banken in Zeiten der Immobilienblase Kredite geradezu aufgedrängt hatten, können diese nicht mehr bedienen. Inzwischen sind Hunderttausende Wohnungen zwangsgeräumt worden – während die Banken gerettet werden.
Ein Mann mit Bärtchen und Zopf in einer braunen Jacke steht vor einem Haus mit ernstem Gesichtsausdruck und einem Mikrofon in der Hand.
Pablo Iglesias, Chef der linken Podemos-Partei, fungiert lange Jahre als Ikone und Lichtgestalt der spanischen Linken.© picture alliance / NurPhoto / Jon Imanol Reino
Auch aus der Bewegung des 15. Mai heraus bildet sich in dieser Zeit eine "Interessengemeinschaft gegen Zwangsräumungen". Gegen Kürzungen im öffentlichen Bildungswesen protestiert eine "Grüne Welle". Die Demonstrationen der "Weißen Welle" richten sich gegen massive Kürzungen im öffentlichen Gesundheitswesen.

Die Weltverbesserung hat ihre Grenzen

Die "Bewegung des 15. Mai" tritt jetzt nicht mehr als eine große Bewegung auf – aber Aktivistinnen und Aktivisten engagieren sich auf unterschiedlichen Feldern weiter. Fernandez berichtet:
"Die Wahrheit ist, dass der Versuch, Dinge von der Straße aus zu ändern, irgendwie an Grenzen gekommen war. Und da kontaktierte mich Pablo Iglesias, wegen meiner Erfahrung mit digitaler Kommunikation aus den 15. Mai Zeiten. Ich sollte das Social-Media-Team aufstellen für eine Initiative, aus der später Podemos wurde.
Der Politikwissenschaftler Pablo Iglesias: Mitbegründer der linken Podemos-Partei, für manche Ikone, für andere Hassfigur. Podemos, zu Deutsch: "Wir können es" tritt 2014, kurz nach der Gründung zu den Europawahlen an – und holt auf Anhieb acht Prozent der Stimmen – gleichbedeutend mit fünf Sitzen im EU-Parlament.
Iglesias macht sofort Front. Podemos werde mit Gleichgesinnten aus Südeuropa zusammenarbeiten. "Wir wollen weder eine Kolonie Deutschlands noch der Troika sein." Mit dieser Kritik an der Austeritätspolitik spricht die Partei viele Wählerinnen und Wähler an. Sie absorbiert innerhalb kurzer Zeit auch die kommunistische Partei, die "Vereinigte Linke".

Angekommen im Establishment

Zu den spanischen Parlamentswahlen im Jahr 2016 kommt die fusionierte Partei zusammen mit einem katalanischen Ableger auf sagenhafte 17 Prozent der Stimmen. Die Sozialisten mit 22 Prozent scheinen in Schlagdistanz. Aber: Unidas Podemos und Pablo Iglesias hätten dann zwei Fehler begangen, sagt Wegbegleiter Eduardo Fernandez:
"Zum einen, sich zu sehr auf die ideologische Linke und ihre Wählerschaft festzulegen – denn die ursprüngliche Idee von Podemos war eine andere, offenere. Und der zweite Fehler: Die Besessenheit, die Sozialistische Partei übertrumpfen zu müssen."
Aber seit 2019 ist Unidas Podemos Juniorpartner in der spanischen Mitte-Links Regierung. Das Gewächs der Bewegung des 15. Mai stellt heute, zehn Jahre später, vier Ministerinnen und Minister.
Als Juniorpartner können die Linken weit weniger durchsetzen, als sie in den vergangenen Jahren gefordert haben – schon gar nicht während der Pandemie. Und schon seit Jahren gibt es auch Kritik an der einst schillernden Führungsfigur Pablo Iglesias, dem machiavellistische Machtbesessenheit nachgesagt wird.

Pablo Iglesias verlässt die Politik

Im Glauben an seine Strahlkraft hat er im März die Regierung verlassen, um bei den wichtigen Regionalwahlen in Madrid als Spitzenkandidat anzutreten. Doch damit hat er offenbar vor allem zur Mobilisierung der Konservativen und der Ultrarechten beigetragen, wie er nach einem enttäuschenden Wahlergebnis resümiert:
Iglesias legt alle Ämter nieder, zieht sich aus der Politik zurück. Aber die Bewegung des 15. Mai hat nicht alleine in Form von Pablo Iglesias und Unidos Podemos in die Parlamente gefunden.
In Barcelona ist mit Ada Colau eine Frau Bürgermeisterin, die aus der Bewegung gegen Wohnungsräumungen stammt. Madrid hatte von 2015 bis 2019 eine Bürgermeisterin, die von einem linksalternativen Bündnis getragen wurde. Manuela Carmenas Wiederwahl ist nur knapp gescheitert.
Ein Frau mit langen roten Haaren gestikuliert, vor einem großen grünen Stern stehend, mit der rechten Hand.
Pragmatisch statt dogmatisch - mit Mónica García erfährt die Bewegung der "Empörten" neuen Aufschwung.© picture alliance / Juan Carlos Rojas
Auch bei der Regionalwahl, nach der sich Pablo Iglesias jetzt aus der Politik zurückgezogen hat, waren ehemalige Weggefährten erfolgreich.
Podemos-Mitbegründer Íñigo Errejón kandidiert seit 2019 für die linksalternative Partei Más Madrid. Sie hat bei der Wahl mehr Stimmen als die Sozialisten bekommen und ist nun stärkste Oppositionspartei in der autonomen Region.
Spitzenkandidatin Monica Garcia ist inzwischen auch über Madrid hinaus bekannt. Pablo Iglesias habe als Teil der Bewegung des 15. Mai entscheidend dazu beigetragen, das Land zu verändern, sagt sie anerkennend nach seinem Rückzug.

"Der Aufstieg der grünen Kräfte in Europa"

Monica Garcia und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter könnte selbst bald noch mehr zur Veränderung beitragen. Das jedenfalls hofft Eduardo Fernandez. 2011 war er bei der Bewegung des 15. Mai dabei, später ist er für Podemos ins Regionalparlament eingezogen. Aber seit 2019 gehört auch er zu Más Madrid.
"Wir waren in der Bewegung des 15. Mai und waren dann bei der Geburt von Podemos dabei. Aber manchmal muss man den Ort wechseln, um seine eigentlichen Ideen weiter vertreten zu können. Wir schauen mit großer Hoffnung auf den Aufstieg der grünen Kräfte in Europa, denn wir glauben, dass sie am Ende mit Pragmatismus und Intelligenz die konkreten Dinge des Lebens ansprechen und die Themen, die für die Bürger wichtig sind."
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