Stefan Reinecke, geboren 1959, ist als Redakteur und Publizist in Berlin tätig. Seit 2002 arbeitet er für die Parlamentsredaktion der „taz“. Er ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher, darunter eine Biografie von Christian Ströbele (2016).
Zum Parteitag der Linken
Sie waren mutig. Sie engagierten sich. Sie setzten sich ein. Warum erlahmte ihre Kraft?, fragt Stefan Reinecke. © Getty Images / iStock / romeocane
Eine Grabrede
Todesursache: Selbstgerechtigkeit. Für den taz-Journalisten Stefan Reinecke ist die Linkspartei nicht mehr zu retten. Schuld daran sei nur sie selbst, sagt er in seiner Grabrede. Dabei hätten wir die Partei noch gebraucht.
Liebe Trauergemeinde, wir verabschieden uns heute von jemandem, der früh, zu früh, von uns gegangen ist. Sie stritt für Gerechtigkeit, Gerechtigkeit nicht in dem unverbindlichen Sinne von etwas, das doch nicht zu erreichen ist und unter dem alle verstehen, was ihnen passt. Nein, sie war radikal – sie wollte mehr Gleichheit für eine Welt, in die sich wachsende Ungleichheit wie Rost frisst.
Sie wollte mehr Egalität und mehr Solidarität in einem entschiedenen, ja biblischen Sinn. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus, Matthäus Evangelium Kapitel 25, Vers 40. Diese Idee von Gleichheit trieb sie an. Sie verlieh ihr Schwung und Überzeugungskraft. Sie war ihr Glutkern.
Sie wollte die Stimme der Armen sein
Sie engagierte sich für Arme. Sie setzte sich für die ein, die unter Mietwucher litten. Sie wollte die Stimme jener sein, die für andere Häuser bauen, die Haare schneiden und Alte pflegen. Sie wollte, dass die von dem Geld, das sie dafür bekommen, wenigstens einigermaßen leben können. Eher passt ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt – diese biblische Weisheit war ihr Credo. Deshalb sollten die Reichen mehr abgeben. Sie machte sich damit mächtige Feinde, die sie verachtete und die sie verachtete.
Sie war mutig. Wir stehen noch immer ratlos und fassungslos vor der Frage, warum sie nicht mehr ist. Es ist doch noch gar nicht lange her, da beflügelte sie kühne Hoffnungen. Es gab viel Beginnen, viel Elan. Warum erlahmte ihre Kraft? Wann begann sie so übellaunig zu wirken?
Das Ende der Glaubwürdigkeit
Vielleicht war es der Augenblick, als viele Geflüchtete an unseren Grenzen standen und sie nicht wusste, was sie sagen sollte, was selten geschah. Mal wollte sie barmherzig mit jenen teilen, die zu uns kamen und gleich am liebsten alle Grenzen auf der Welt niederreißen. Und dann fürchtete sie, dass die Habenichtse, die da kamen, den Armen bei uns die Wohnung und den Job wegnehmen würden.
Sie, auf deren Fahne doch in großen Buchstaben Moral stand, sie, die Robin Hood nacheiferte, wollte den Habenichtsen, die im Meer ertranken, die Tür weisen? Vielleicht haben wir sie da falsch verstanden. Aber sie wirkte zerrissen. Und da war ein Zug, den wir vorher nicht an ihr kannten: harte Selbstgerechtigkeit. Oder hatten wir das vorher bloß nicht wahrgenommen?
Statt Aufbruch folgte Angst
Das Gleiche wiederholte sich bei dem Menschheitsproblem unserer Zeit. Dem Klimawandel. Mal klang sie beseelt von heiligem Ernst und Zorn. Sie malte den Weltuntergang und die Apokalypse an die Wand und sah Rettung nur kommen, wenn wir alle umkehren und unser Leben radikal ändern würden. Und dann klang sie wie ein ängstlicher Bürger, der lieber verwaltet, was ist, der sich vor der Radikalität des Wechsels fürchtet und wegduckt.
Sie bekam einen bitteren Zug um die Mundwinkel und ein verhärmtes Antlitz. Sie sprach nicht mehr zu uns, sondern zu sich selbst. Und man hörte ihren Selbstgesprächen nicht gerne zu. Sie wirkte kompromisslos und wie jemand, der die Wahrheit gepachtet hatte. Sie verachtete die kleine Änderung und Verbesserung und träumte von kalten Sternen, die sie nie erreichen würde. Vielleicht war dies das unschöne Echo des hohen Tons, den wir am Anfang bei ihr bewundert hatten: der unbedingten Moral.
Sie wird fehlen
Sie wurde immer graugesichtiger, kraftloser und war mehr und mehr mit sich selbst beschäftigt. Sie hat sich nicht mit Grandezza verabschiedet, sondern mit einem Klagen. Und wir schauten auf sie mit einer Mischung aus Mitleid und einem Desinteresse, das wie ein Verband unsere bittere Enttäuschung verbarg. Ihr Ende war glanzlos. Es mag herzlos klingen, aber so hart muss man es sagen. Es ist ihre Schuld, dass sie nicht mehr unter uns ist. Wir hätten sie noch gebraucht.