Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Christiane Neumann
Redaktion: Dorothea Westphal
Drei Kulturen, drei Sprachen, eine Heimat
29:52 Minuten
Wer in Südtirol Gedichte oder Romane schreibt, hat die Wahl zwischen drei Sprachen: Italienisch, Deutsch oder Ladinisch. In der Literatur zwischen Vinschgau, Ahrntal und Bozen geht es oft um Heimat, Identität und Muttersprache.
Vom Balkon des Bauernhauses, in dem eine der interessantesten zeitgenössischen Dichterinnen Italiens mit ihrem Mann wohnt, blickt man über das ganze Gadertal - Val Badia auf Italienisch. Und so heißt es auch auf Ladinisch, der alten Sprache, die in diesen Dolomitentälern noch von einigen gesprochen wird.
Das Haus steht in Ciaminades, einer Siedlung, kurz bevor das malerische Tal am Grödnerpass endet. Vom Brenner ist es etwa eine Stunde bis hierher. Für sie, sagt Roberta Dapunt, sei es wichtig, dass man sich kulturell bewegen könne: "Das heißt für uns Ladiner: Zuerst einmal aus dem Tal fahren, und dann Richtung Süden oder Norden."
Mehrsprachigkeit im Alltag
Also nach Innsbruck und München oder Bozen und Verona. Dapunts Muttersprache ist Ladinisch. Aber mit Deutsch und Italienisch ist sie ebenfalls aufgewachsen. Die Mehrsprachigkeit war Alltag für sie. Die Entscheidung für Italienisch als Schriftsprache habe sie bereits vor vielen Jahren getroffen, berichtet sie.
In dem mehrstöckigen Bauernhaus, das schräg an den Hang gebaut ist, ist es angenehm kühl. Rundherum Nadelbäume und Wiesen. Auf dem Grundstück stehen wuchtige Bronzeskulpturen. Dapunts Ehemann Lois Anvidalfarei ist ein bekannter Bildhauer. Das Gehöft hat er von seinen Eltern übernommen.
Bis vor Kurzen haben er und seine Frau den Hof noch selbst bewirtschaftet. Inspiration für ihn als Künstler und für sie als Schriftstellerin, wie sie erzählt:
"Es war für mich berührend, diese Bekanntschaft mit den Eltern von Lois, mit einem Glauben, den ich nicht hatte, den ich nicht habe. Ein Glaube, der eine Logik hat, wo wirklich jede Aktion, vom Essen bis zum Mähen und Heumachen, mit einem Gebet angefangen wurde und auch beendet. Und dieser immer gleiche Rhythmus im Alltag, und dann in den Monaten, und dann in den Jahreszeiten, und dann noch in den Jahren. Darüber habe ich geschrieben."
Schreiben über Krankheit und Sterben
Dapunt war Mitte 20, als sie zu ihrem Mann auf das Gehöft zog. Damals hat sie angefangen, die harte bäuerliche Arbeit in Versen zu beschreiben. Auch Krankheit und Sterben - wie in dem erfolgreichen Gedichtband "Le beatitudini della malattia". Ihr Schwiegervater war an Alzheimer erkrankt. Sie pflegten ihn jahrelang im Haus, bis zum Tod. Dann erkrankte die Schwiegermutter.
"Die Krankheit Wunder" lautet der deutsche Titel dieses beeindruckenden Buches über die Pflege von Angehörigen. Roberta Dapunt hatte damit in Italien großen Erfolg. Sie bekam zahlreiche Anfragen für Vorträge und Lesungen in Pflegeheimen und Krankenhäusern. Das Thema Altersdemenz ist in einer Großstadt genauso präsent wie in diesem schmalen Dolomitental.
Südtirol ist heute eine der wohlhabendsten Regionen Italiens. Das hat mit dem Ski- und Wandertourismus zu tun, mit den Weinbergen und Obstplantagen zwischen Meran, Bozen und den Dolomiten. Die Mehrsprachigkeit - Italienisch, Deutsch und eben auch Ladinisch - macht die Region auch kulturell zu einer Region des Übergangs zwischen den mediterranen Kulturen und denen nördlich der Alpen.
Geprägt von kulturellen Konflikten
Der Schriftsteller Josef Oberhollenzer ist Lehrer für Deutsch, Geschichte und Erdkunde. Geboren wurde er 1955 in St. Peter im Ahrntal. Über die Sprache, die dort gesprochen wird, sagt er: "Ein deutscher Dialekt, aber ein so alter Dialekt, teilweise mit Althochdeutsch noch, dass wir in Südtirol nur teilweise verstanden werden."
Josef Oberhollenzer schreibt seit Jahren über die Geschichte seiner Heimat. Der Roman "Sülzrather" schaffte es 2018 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Mit "Zuber" setzte er die Südtiroler Generationenerzählung, die nach dem Ersten Weltkrieg beginnt, bis in die Gegenwart fort - über ein Jahrhundert, das auch in Südtirol von großen kulturellen Konflikten geprägt war, wie er erzählt: "Das Problem für die Leute hier war vor allem, dass in den Schulen nur Italienisch gesprochen werden durfte. Und die Kinder mussten dann heimlich, es gab es die sogenannten Katakombenschulen, das Hochdeutsche lernen."
Als die Provinz 1918 von Österreich abgetrennt wurde und an Italien fiel, sollten die überwiegend deutschsprachigen Bewohner teilweise unter Zwang zu Italienern werden. Oberhollenzer beschäftigt sich in seinen Romanen mit solchen kulturellen Verwerfungen und schildert die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen dieser selbstbewussten Region.
"Wir leben nebeneinander her"
Ihre wechselhafte und zwiespältige Geschichte hat Spuren hinterlassen. Seitdem Südtirol den Status einer autonomen Region hat, sind die Divergenzen eher untergründig spürbar. "Wir leben nebeneinander her", sagt Oberhollenzer – sprachlich und kulturell. Doch die Südtiroler Autorinnen- und Autorenvereinigung SAAV versuche, dem etwas entgegenzusetzen, indem sie alle drei Sprachen zusammenbringe.
Ein Tropfen auf den heißen Stein, denn: "Gleichzeitig ist doch immer wieder diese Trennung. Auch politisch. Dass es die Südtiroler Volkspartei gibt, wo nur Deutschsprachige dabei sein dürfen. Und daneben gibt es die italienischen Parteien. Es gibt immer noch diese Trennung, obwohl man es nicht merkt. Und Gottseidank, es gibt nicht mehr diesen Hass."
Gerade in den vergangenen Jahren ist über Südtirol besonders viel geschrieben worden. Die Bestsellerautorin Francesca Melandri beispielsweise, eine Römerin, hat lange in Bruneck gelebt und in ihrem Roman "Eva schläft" die Kämpfe um die Autonomie der Region in den 1960er-Jahren literarisch verarbeitet.
Die wechselvolle Geschichte, die Sprachenpolitik, der Kampf um Autonomie spielen also auch in der Literatur eine große Rolle. Bereits in den 1920er-Jahren hatte der Diktatur Mussolini die Provinz Südtirol in "Alto Adige" umgetauft, Dörfer bekamen italienische Namen. In Bozen - Bolzano auf Italienisch, Bulsan auf Ladinisch - ließ er nicht nur ein monumentales "Siegestor" errichten, sondern auch einen ganzen neuen Stadtteil, in dem er Familien aus Süditalien ansiedelte.
"Eine gewisse sprachliche Unsicherheit"
Aus Bolzano stammt auch Maddalena Fingerle. Gut Deutsch spricht die 29-jährige aber erst, seit sie vor zehn Jahren nach München gezogen ist. Ihr Großvater war deutschsprachig, von ihm stammt auch ihr Nachname. Aber die deutsche Sprache hatte sich innerhalb der Familie verloren, wie sie erzählt: "Ansonsten haben die Deutschsprachigen Dialekt gesprochen, und das habe ich gar nicht verstanden. Das hat eine gewisse sprachliche Unsicherheit bei mir verursacht."
Im vergangenen Jahr hat Fingerle eine der wichtigsten Auszeichnungen für junge Literatur in Italien, den Calvino-Preis, bekommen. Für ihr Buch "Lingua madre", in dem es um Mehrsprachigkeit und kulturelle Identität geht.
Der am Leben verzweifelnde, komisch-tragische Held Paolo Prescher wechselt zwischen den Sprachen hin und her und ist auf der Suche nach sich selbst, nach Heimat und Zugehörigkeit. Ein auf die ambivalente linguistische und emotionale Situation Südtirols zugeschnittener Roman, wo der Alpendialekt, das Hochdeutsche, das Italienische - und in fünf Tälern eben auch noch das Ladinische - miteinander konkurrieren.
Raus aus den engen Tälern
In Maddalena Fingerles Buch spielt auch die Mobilität eine große Rolle, die für diese Region charakteristisch ist. Viele verlassen Südtirol, um in Großstädten wie Mailand oder München zu studieren, aber auch, um der tatsächlichen oder gefühlten Enge der Täler zu entrinnen – und kehren doch immer wieder zurück, wenn auch manchmal nur in Gedanken oder eben in ihren Büchern.
Sabine Gruber ist eine dieser Südtirolerinnen, die in räumlicher Distanz zu ihrer Heimat lebt. Die Schriftstellerin wohnt seit fast drei Jahrzehnten in Wien. Geboren wurde sie in Lana in der Nähe von Meran. Obwohl sie aus einer deutschsprachigen Familie stammte, besuchte sie, was damals völlig unüblich war, einen italienischen Kindergarten.
Für die bis in die 1960er- und 1970er-Jahre hinein politisch gewollte Zweiklassengesellschaft findet die Schriftstellerin klare Worte: "Ich nenn' es jetzt mal - grob formuliert - die Apartheidspolitik der Südtiroler Volkspartei." Ihr intuitiver Widerstand als Kind gegen die kulturelle Separierung hat Sabine Gruber später dazu gebracht, darüber Bücher zu schreiben. In "Stillbach oder Die Sehnsucht" hat sie 2011 einen der erfolgreichsten Romane über ihre Heimatregion veröffentlicht. Anhand der Lebensläufe dreier Frauen skizziert sie die Konfliktlinien zwischen den kulturell ganz unterschiedlich geprägten Bevölkerungsgruppen.
"Ich bin italienische Staatsbürgerin, ich lebe in Wien, zahle hier meine Steuern. Aber ich bin weder Österreicherin noch Italienerin. Und eigentlich bin ich Europäerin. Es gibt in Europa mittlerweile so viele Menschen, in denen sich verschiedene Identitäten vereinen. Nationalität ist ja sowieso nur ein Konstrukt."
Schreiben auf Ladinisch
Für eine solche europäische Identität scheint Südtirol wegen der Vielfalt der Kulturen und Sprachen prädestiniert. Sabine Gruber hat zwar ihren Hauptwohnsitz in Wien, der Literaturszene ihrer Heimatregion ist sie aber eng verbunden. Auch bei der "Südtiroler Autorinnen- und Autorenvereinigung" wirkt sie mit.
Deren Vorsitzende hat zum Kasknödel-Essen nach Klausen eingeladen: Semmelknödel mit Käse, ein typisches Gericht in dieser Alpenregion. Rut Bernardi wurde 1962 in St. Ulrich geboren - "Urtijei" in Gröden; eines der fünf Täler, in denen die ladinische Sprache, die eng mit dem Rätoromanischen verwandt ist, heute noch gesprochen wird.
Das Problem, wenn man wie sie auf Ladinisch schreibt: Es gibt nur einen kleinen Kreis von Leserinnen und Lesern. Bei den paar Tausend Muttersprachlern in fünf Dolomitentälern lässt sich von Veröffentlichungen in dieser Sprache nicht leben.
Rut Bernardi ist es gelungen, Literaten und Künstler aus den drei Sprachgruppen in Aldo Adige für ein gemeinsames Projekt zu gewinnen: "Mir wäre wichtig, dass die Südtiroler endlich sehen, dass es gute ladinische Literatur gibt, Literatur auf Ladinisch geschrieben."
Und so arbeitet auch sie - wie viele Südtiroler Literaten - daran, dass die drei Kulturen und Sprachen die Menschen in Alto Adige zusammenbringen.
(DW)
Literaturliste:
Bernardi, Rut: "Lyrik und Prosa kreuz und quer - Lirica y prosa da piz a canton", Kleine Literaturen Europas, aus dem Ladinischen übertragen von Rut Bernardi und Hans-Georg Grüning, Verlag Hermagoras, Klagenfurt 2011, 308 Seiten, 25 Euro
Balzano, Marco. "Ich bleibe hier", aus dem Italienischen von Maja Pflug, Diogenes, Zürich 2020, 286 Seiten, 22 Euro
Dapunt, Roberta: "Die Krankheit Wunder", aus dem Italienischen von Versatorium, Folio, Wien 2020, 163 Seiten, 20 Euro
Dapunt, Roberta: "Synkope/Sincope", aus dem Italienischen von Alma Vallazza und Werner Menapace, Folio, Wien/Bozen 2021, 20 Euro, Erscheinungstermin: 21.09.2021
Fingerle, Maddalena: "Lingua Madre", Italo Svevo Edizioi, 2021, 17 Euro (deutsche Übersetzung in Vorbereitung)
Gruber, Sabine: "Stillbach oder Die Sehnsucht", C.H. Beck, München 2011, 279 Seiten, 19,95 Euro
Gruber, Sabine: "Die Zumutung", C.H. Beck, München 2003, 222 Seiten, 18,90 Euro
Oberhollenzer, Josef: "Sülzrather", Folio, Wien/Bozen 2018, 20 Euro
Oberhollenzer, Josef: "Zuber oder Was werden wir uns zu erzählen haben", Folio, Wien/Bozen 2020, 213 Seiten, 22 Euro