Unsere Liebe und Faszination zur Renaissance, die Sehnsucht nach einer glanzvollen Zeit – woher kommt sie? Wenn wir an die Renaissance denken, erscheint vor unserem geistigen Auge unvergleichliche Schönheit, Kunstwerke, die heute zweifellos zu den bedeutendsten aller Zeiten gehören: Weist die Renaissance nach der dunklen Epoche des Mittelalters hinaus ins Licht? Der Beginn eines goldenen Zeitalters?
Das "goldene Zeitalter" ist ein Mythos
"Es gab kein goldenes Zeitalter", erklärt der Historiker Volker Reinhardt, Experte für die italienische Renaissance und Professor an der Universität Fribourg: "Wir müssen uns bewusst sein, dass es eine krisengeschüttelte Zeit ist, eine demografisch, was die Bevölkerung angeht, geschrumpfte Zeit, eine ökonomisch reduzierte Zeit, in der der Tod umgeht."
Der Historiker Bernd Roeck ergänzt: "Ich würde niemanden raten, einen Urlaub in der Renaissance anzustreben. Da ist es im Corona-Hotspot gemütlicher."
Das Bild eines glanzvollen Zeitalters hält sich hartnäckig in unseren Köpfen. Aber was die meisten nicht wissen: Die Renaissance ist eine Erfindung.
Die Historiker sind sich bis heute längst nicht einig über diese Epoche. Weder von wann bis wann wir sie datieren noch ihre Definition. In Reinhardts Augen müssen wir die ganze Epoche "überhaupt erst entdecken", so sehr sei sie "überlagert von Legenden, Mythen, Projektionen späterer Zeiten".
Eine Epoche des Buches
Zeit also, die Renaissance neu in den Blick zu nehmen. Unbestritten ist, dass sich im Bereich der Kunst und des Wissens im späten Mittelalter einiges bewegt: Kolumbus segelt um die Welt und landet in Amerika. Der Mensch rückt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Und dieser Mensch ist gesprächig. Er tauscht Ideen, verbreitet Wissen und Praktiken. Er erfindet den Buchdruck. Danach scheint alles erlaubt, nichts mehr undenkbar.
Gemälde einer schmunzelnden Frau mit Petrarca-Gedichtband von Andrea del Sarto (1486-1531)© üicture alliance / Fine Art Images / Heritage Images
Wenn wir an die Renaissance denken, haben wir zuerst Malerei und Architektur vor Augen. Doch sie ist eine Epoche des Buches; die bis heute prägenden Impulse der Renaissance gehen von Büchern aus. Sie werden produziert, verbreitet, gelesen – und zum ersten Mal gedruckt. Die Literatur der Renaissance ist sinnlich, wild und heftig. Oft genug trieft es, schreit es und knallt es.
Erotik, Macht und ein Loblied auf die Nase
In dieser Langen Nacht begeben wir uns auf eine Reise in die literarische Welt der Renaissance in Italien. Auf einen Ritt durch 300 Jahre kulturellen Wandel. In der ersten Stunde sind wir zu Gast bei Hof, speisen an festlichen Tafeln und philosophieren über die Liebe. Wir lernen die antiken Vorbilder und großen Nachahmer kennen und treffen auf Francesco Petrarca und seinen Freund Giovanni Boccaccio.
In der zweiten Stunde reisen wir mit ihm nach Florenz. Dort entdecken wir eine chaotische Welt. Die Pest macht uns zu schaffen. Wir beobachten die Medici bei ihren Machtkämpfen, spazieren am Arno mit Universalgenies wie Michelangelo oder Leonardo da Vinci und begegnen wortgewandten Frauen.
In der dritten Stunde diskutieren wir mit Giovanni Pico della Mirandola über die Würde des Menschen, hören ein Loblied auf die Nase und ein kleines Epos über die Krätze. Es zieht uns an den Gardasee, wo wir dem damaligen Literaturpapst begegnen.
Weiter gen Osten erwartet uns die Traumstadt Venedig. Sie ist das Zentrum des Buchdrucks in Italien. Hier vertiefen wir uns in erotische Gedichte und ausgefallene Rezepte.
Und wie nach jeder schönen Reise, freuen wir uns am Ende auf zu Hause und schauen, was die Renaissance mit uns gemacht hat, was sie uns gebracht hat. Wie wird sie wohl noch unsere Zukunft beeinflussen?
Ein Philosoph der Renaissance: Giovanni Pico della Mirandola© picture alliance / Mary Evans Picture Library
Leider war die Literatur der Renaissance für das deutsche Publikum lange Zeit weitestgehend unbekannt. Es haben schlichtweg die Übersetzungen gefehlt. In dieser Langen Nacht können wir erstmals umfangreich in die Literatur der Renaissance eintauchen und gleichzeitig mit alten Mythen aufräumen. Am Ende entscheiden Sie einfach selbst, ob die Renaissance ein goldenes Zeitalter gewesen ist.
Remix der Antike
Bestimmend für die Literatur der Renaissance ist die Orientierung an der Antike: Wenn die Zeitgenossen von Wiederbelebung sprechen, dann meinen sie ganz allgemein das, was wir als Humanismus verstehen. Dazu zählen Grammatik, Rhetorik, Geschichte, Ethik und Poetik. Sie werden humanistisch genannt, weil sie den Menschen "vervollkommnen". Das Ich blickt in den Spiegel und denkt über sich nach.
Aber die Antike wird nicht einfach kopiert, sondern angeeignet und weitergedacht. So entstehen etwa Gedichte und Prosa, die völlig an der römischen Klassik orientiert sind, im Stil und Wortschatz identisch sind, die aber so nie in der Antike vorgekommen wären.
"Das ist ja das Tolle, was sie da machen", begeistert sich Tobias Roth, der gerade das Buch
"Welt der Renaissance" mit Schriften und Übersetzungen herausgebracht hat, "dass sie nicht Museen bauen und rote Kordeln spannen, sondern, dass sie das Zeug anfassen und gebrauchen und für ihren täglichen Bedarf zurecht modeln und sich da selbst wahnsinnig stark einbringen."
Liebesqual und Ironie
Einer derjenigen, die sich früh für die Antike begeistern, ist der Dichter Francesco Petrarca, der im 14. Jahrhundert lebt. Petrarca gilt noch heute als einer der größten Dichter Italiens und geradezu als Gründungsvater der Renaissance. Seine Werke, sein Lebensstil haben das Bild eines Gelehrten geprägt.
Petrarca ist es, der die Rede vom düsteren Mittelalter erfindet als einer Zeit der undurchdringlichen Dunkelheit. Denn was Petrarca entgegen strahlt und worauf sich seine Sehnsucht richtet, ist die Welt der Antike. Obwohl er auch viele andere Texte geschrieben hat, ist er heute vor allem für seine Liebesgedichte weltberühmt, insbesondere seine "Fragmente volkstümlicher Dinge":
"Zerstreut im Wind die goldnen Locken waren, / Zu tausend süßen Knoten aufgewunden, / Und mildes Licht ward ohne Maß entbunden / In Augen, die damit so karg nun sparen. / Und Mitleid schien ihr Blick zu offenbaren; / Ich weiß nicht, ob ich's wahr, ob falsch erfunden. / Der Liebeszunder drinnen ich empfunden, / Was Wunder, wenn ich schnelle Gluth erfahren? …"
Petrarca-Ausgabe von 1568© picture alliance / Sven Hoppe
Nicht nur in Italien selbst, auch in Frankreich und England sind Petrarcas Liebesgedichte stilbildend in der Dichtkunst, ein regelrechter "Petrarkismus" entsteht. Da bleibt es nicht aus, dass der Petrarkismus Spott erntet und Gegenstand von Persiflagen wird. So wie es der für seinen absurden Humor berühmt-berüchtigte Zeitgenosse Francesco Berni in einem Gedicht gemacht hat:
"Das dünne, struppigstarre Silberhaar, / das ohne Kunst umfließt das Goldgesicht; / die kraus gelockte Stirne, deren Licht / erleuchten Liebe und Tod so wunderbar; / der Augen trübe Perlen leuchten zwar, / doch halten sie die Gegenstände nicht …"
Die Ironie, die sich hier und in anderen Texten äußert, ist für Volker Reinhard "ein wichtiger Schlüssel zur Renaissanceliteratur", wenn auch eine zumeist "affirmative Ironie, eine letztlich den Eliten, den Adel, den Lebensstil bestätigende Ironie", die "Schrulligkeiten, Absonderlichkeiten, letztlich in ein Spektrum aristokratisch vertretbarer Handlungsweisen einordnet".
Derber Witz und weltliche Skepsis
Wie witzig Renaissancetexte sein können, das beweist auch ein Freund Petrarcas: Giovanni Boccaccio. Dieser begründet die prosaische Erzähltradition in Europa. Mit ihm wird zum ersten Mal so etwas wie ein Selbstgefühl der Renaissance greifbar. Sein berühmtestes Buch ist das "Decamerone", das erste große Prosawerk in italienischer Sprache. Dieses handelt von einer eingeschworenen Gemeinschaft, die sich vor einer Pestepidemie in Florenz aufs Land rettet. Dort vertreibt sie sich die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten - der eigentliche prosaische Kern des Buchs.
Die Rahmenhandlung von Boccaccios "Decameron": Gemälde von Franz Xavier Winterhalter aus dem Jahr 1837.© picture alliance/Heritage Images/Fine Art Images
Die Figuren agieren zum Teil als eigenständige Persönlichkeiten und haben ein Selbstbewusstsein, das weit über das Selbstverständnis des mittelalterlichen Menschen als Teil der Kirche hinausgeht. Die 100 Geschichten sind voll heiterer Derbheit, abenteuerlicher Erotik und weltlicher Skepsis. Zusammen bilden die Geschichten einen Schatz, aus dem sich bis heute Literaten, Erzähler und Filmemacher bedienen. Darunter auch Pier Paolo Pasolini, der 1971 einige Geschichten aus Boccaccios Werk für die Leinwand adaptierte:
Neben diesen (womöglich auch in Deutschland) so bekannten Autoren wie Petrarca und Boccaccio lernen wir in dieser Langen Nacht auch zahlreiche in Deutschland eher unbekannte Renaissanceschriftsteller kennen, wie etwa Baldassare Castiglione, der mit seinem Hofmann unser Bild des Gentleman prägte, Pietro Bembo, der gewissermaßen der italienische "Goethe und Luther zugleich" ist, Jacopo Sannazaro, der das wohl bestbezahlte Gedicht der Menschheitsgeschichte verfasste, Pietro Aretino, der seinerzeit für seine pornografischen Gedichte berüchtigt war, oder Annibale Caro, von dem uns das erwähnte Loblied auf die Nase überliefert ist. Außerdem entdecken wir ungeahnte schriftstellerische Brillanz bei Künstlergrößen, die wir bisher nur als Maler kannten: Michelangelo Buonarroti und Leonardo da Vinci.
Und schließlich erfahren wir, dass entgegen dem gängigen Klischee am Glanz der Epoche auch Frauen einen beträchtlichen Anteil haben. Es gibt bildende Künstlerinnen, wie die Adlige Sofonisba Anguissola, die ihre Familie und Freunde porträtiert und in Spanien Hofmalerin wird, oder Artemisia Gentileschi, die in ihren Bildern Frauen von ungewöhnlicher Ausstrahlung, mutig, entschlossen und tatkräftig zeigt. Andere wirken als Mäzeninnen, wie Isabella d’Este.
Renaissance und Feminismus
Einige Frauen erlangen beachtlichen Ruhm als Autorinnen. Etwa die Dichterfürstin Vittoria Colonna. Zu ihren Lebzeiten wird sie die Göttliche genannt und nach ihrem Tod "die größte Dichterin Italiens". Als Humanistin legt Vittoria Wert auf Selbstbestimmung und Vollendung der weiblichen Persönlichkeit. Bestimmte Ansätze feministischen Denkens lassen sich demnach bereits in der Renaissance feststellen.
Vittoria Colonna (1490-1547) von Sebastiano del Piombo (1485-1547)© picture alliance / Fine Art Images
Oder Veronica Gambara, die gewitzt über die Beziehung zwischen Mann und Frau schreibt: Die zahlreichen Liebschaften Jupiters werden abgelöst von den zahlreichen Liebschaften der Venus. Erstaunlich ist der rhetorische Kniff, das geliebte Gegenüber über die mythologischen Figuren zu erhöhen:
"Zwar für Adonis, mehr noch für Mars, fing die schöne Venus Feuer,/ doch hätte sie dich, mein Herr, erblickt, entflammte ungeheuer / sie nur für dich, da du beide übertriffst …"
Suche nach Gott und Aufwertung des Ich
In der Renaissance ist die Liebe und die Betrachtung des Schönen letztendlich eine Suche nach Gott. Aber auch dem Hässlichen und dem Ekel widmet sich mancher Text aus dieser Zeit – kaum einer so lustvoll und intensiv wie Angelo Polizianos Epos "Silva in scabiem", der Wald aus Krätze.
Viele Hundert Verse Icherzählung über die Krätze. Krätze, die nicht enden will; Krätze, die alles überzieht; Krätze, die triumphiert:
"Auch ein scharfes Auge sieht kaum den Fleischfresser, wie sein emsiger Schlund den Eiter durchtauchend Brocken verseuchten Blutes einschlürft, heraufwürgt und ausspeit."
Zwar mit Gott in ihrer Mitte, aber den Ambivalenzen und Rätseln des Lebens zugewandt, stellen Gelehrte und Künstler in der Renaissance nach und nach verstärkt ihr Ich in den Mittelpunkt. Das ist neben Schriften, die oft in Dialogform verfasst sind, auch in der Zunahme von Selbstporträts zu beobachten. Dazu gehört, den Zweifel zuzulassen und verschiedene Standpunkte zu verhandeln. Im Gespräch lässt sich Überzeugungsarbeit leisten.
In dieser Kultur der Offenheit liegt womöglich auch eine Lehre aus der Renaissance für unsere heutige Zeit, vermutet der Historiker Bernd Roeck:
"Wenn wir eine Lehre aus der Entstehung der modernen Welt nehmen können, mit all ihren Segnungen technischer und medizinischer Art - Abgründe hatte sie wahrlich auch -, da kann man schon sagen, es hatte sehr viel mit der Offenheit der Gesellschaften zu tun und den konkurrierenden Möglichkeiten, Wissenschaft zu betreiben, frei zu diskutieren und zu kommunizieren."
Produktion dieser Langen Nacht:
Autorin: Corinne Orlowski
Regie: Beate Ziegs
Sprecher / Sprecherinnen: Frederic Böhle, Cathlen Gawlich, Markus Hoffmann, Nina West, Hanns Zischler
Redaktion: Monika Künzel
Webdarstellung: Constantin Hühn
Über die Autorin: Corinne Orlowski, geboren 1990 in Brandenburg an der Havel, studierte Literatur- und Ethnologie in Berlin und Wien. Sie arbeitet als freie Autorin und Kulturjournalistin sowie als Cutterin und Koordinatorin im Berlinale Talents Team. Im Januar 2019 erschien ihr Interviewband "Vor dem Palast" im Suhrkamp Verlag, mit Gesprächen über den Theaterregisseur, Autor und Künstler Einar Schleef. Anlässlich der Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung 2020 hat sie die Ausgabe "Nachwendekinder" des Literaturmagazins metamorphosen herausgegeben.
Zum Weiterlesen:
Tobias Roth: "Welt der Renaissance"
Galiani, Berlin 2020
640 Seiten, 89 Euro
Bernd Roeck: "Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance"
C.H. Beck, München 2019
1304 Seiten, 44 Euro
Volker Reinhardt: "Die Macht der Seuche. Wie die Große Pest die Welt veränderte"
C.H. Beck, erscheint am 27. Januar 2021
256 Seiten, 24 Euro