Die Logik des Meeres

Von Michael Böhm |
Seit dem 16. Jahrhundert feiert die Logik des Meeres ihren Aufstieg, als englische Piraten wie Francis Drake, Henry Morgan oder Walter Raleigh straflos spanische Schiffe kaperten. Denn was an Land als Diebstahl oder Raub galt, war auf hoher See außerhalb jeder Norm: Recht war nur Recht nur am rechten Ort.
Das offene Meer aber ist ortlos, ist frei. Es gibt dort nur die Gegenwart des tiefen Blaus, das keine Vergangenheit kennt, außer den flüchtigen Fahrspuren der Schiffe. Für die Piraten gab es daher weder Gesetz noch Eigentum – aber immer Hoffnung auf schnellen Gewinn.

Vor 450 Jahren trat somit erstmals ein neuer Typus in die Wirtschaftswelt: Der "Merchant-Adenture", der abenteuerliche Kaufmann: halb Dieb, halb Unternehmer, ausgestattet mit brutalem Wagemut. Und er hatte Erfolg: 1588 besiegte die englische Flotte die spanische Armada, England wurde die neue Seemacht und es verlegte seine Existenz gedanklich auf das Meer: Denn aus dem Geist des Ozeans entstand eine neue Idee der Freiheit.

John Locke, der englische Philosoph fasste sie in Worte: "Der Mensch befindet sich in einem Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes", schrieb er im "Second Treatise on Government", der kapitalistischen Gründungscharta. Doch diese Grenzen waren bestimmt durch das, was zu seiner Zeit als vernünftig galt. Die neue Freiheit war die des "Merchant-Adventures", der verwegen über die Meere segelte.

Sie verhieß ein Freisein "von" allem Althergebrachten, war abstrakt, verneinend, negativ: Sie untergrub die Tradition, nach der Eigentum soziale Pflichten mit sich bringe, sie erledigte das mittelalterliche Zinsverbot, sie setzte das fließende Geld dem festen Boden gleich und legitimierte es von nun an als Ware. Diese Freiheit war eine andere, als die des Festlands: jene, die an den konkreten Ort gebunden war, die Gewachsenes bejahte und respektierte – eine Freiheit, die positiv war, da sie immer eine Freiheit "zu" etwas bedeutete.

Doch auch Hegel ahnte die Bedeutung der maritimen Logik: "Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester Grund und Boden Bedingung ist", schrieb er, "so ist für die Industrie das nach außen sie belebende natürliche Element das Meer". Tatsächlich ging die industrielle Revolution von England aus: befördert von der Idee des freien Meeres auf dem sich Erwerbssucht Gefahr aussetzt. Hierdurch drängte die Ökonomie aus Haus, Boden und Familie; hierdurch verloren traditionelle Bindungen ihre zwingende Kraft; hierdurch entkoppelte sich das freie Unternehmertum von ethischen Verpflichtungen. Und die neue maritime Freiheit geriet zum universalen Modell.

Doch als das industrielle Projekt im 19. Jahrhundert auf das Festland übergriff, regte sich dort die gebundene Freiheit. Es entwickelte sich ein anderer Kapitalismus: Mit einem Versicherungsprinzip, das persönliches Risiko auf die Gemeinschaft verteilt und nicht wie "Lloyd's", der Seeversicherer nur spekulativ verwaltet. Mit einem Finanzsystem, in dem Banken und nicht Börsen die Wirtschaft finanzieren. Mit einem Staat vor allem, der auch die Wohlfahrt der Gesellschaft im Auge behält und nicht nur die Gewinnerwartung des Einzelnen.

Das Festland bremste die industrielle, maritime Logik. Elektrischer Strom und Automobil beschrieben nach der Dampfmaschine die Konjunkturzyklen der Moderne – aber immer gingen sie aus von England und den USA, den maritimen Mächten.

Doch der vierte Zyklus, die "digitale Revolution", untergrub seit den 1960er-Jahren das Gleichgewicht zwischen Land und Meer – und wieder startete er in einer seefahrenden Nation, den USA. Der Ostblock geriet dadurch zu Fall und seither schickt sich die maritime Logik an, die ganze Welt zu umfassen. Denn vor allem das Internet ist, was für Piraten stets das freie Meer gewesen war: ein Raum, ein Unort, charakterisiert allein durch seine Ströme.

So scheint eine Epoche der Entortung einzusetzen: Mit Waren- und Finanzflüssen, die sich rund um den Globus ergehen, die Firmen zu internationalen Netzwerken entorten, die heimische Löhne, Steuern, Sozialleistungen drücken; was dazu führt, sich mit Krediten zu verschulden, was dazu einlädt, mit ihnen zu spekulieren, was "Blasen" zeitigt und Krisen – und was den "Merchant-Adventure" überall heimisch werden lässt: Er heißt heute Investmentbanker.

Michael Böhm, Publizist, geboren 1969 in Dresden, studierte Politikwissenschaft in Berlin und Lille und lebt als freier Publizist in Berlin. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften, so unter anderem für "Du – Das europäische Kulturmagazin". Sein letztes Buch "Alain de Benoist – Denker der Nouvelle Droite" erschien 2008 in der Edition Antaios.