Die Looser in der Laube

Von Ulrike Gondorf |
"Wir sind immer oben" widmet sich den Abgehängten und Ausgegrenzten der Gesellschaft - und das mit viel Kraft, Humor und Zärtlichkeit. Schauplatz ist eine Kleingartenlaube, in der Sven und seine Freunde einen Plattenladen mit illegalen CDs eröffnen wollen. Dieser Uraufführung des Jungdramatikers Dirk Laucke lässt das Essener Schauspiel zur Spielzeiteröffnung mit einer Neuinszenierung der "Orestie" von Aischylos eines der ältesten Stücke folgen.
2500 Jahre Theatergeschichte fasste das Schauspiel Essen in dieser Spielzeiteröffnung zusammen: Einer Neuinszenierung der "Orestie" von Aischylos, die zu den ältesten überlieferten Stücktexten gehört, folgte eine Uraufführung. "Wir sind immer oben". Der 26-jährige Dirk Laucke, mit "alter ford eskort dunkelblau", in der letzten Saison gleich zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gekürt, hat für Essen ein neues Stück geschrieben: "Wir sind immer oben".

"DIY!" heißt die Devise, an die Sven und sein Freund Stamm sich klammern: Do it yourself. Es wird ihnen auch nichts anderes übrig bleiben. Denn dass jemand anderes etwas für sie tut, ist unwahrscheinlich. Laucke wirft wieder einen Blick auf die Abgehängten und Ausgrenzten, auf die, die am Rand der Gesellschaft zurückgeblieben sind.

Eine Laube in einer Kleingartenanlage gleich neben der Plattenbausiedlung ist der Schauplatz des Stücks. Alle Zeichen stehen auf Abstieg: Tine, die ihr Mann "auf einem Mount Everest von Schulden" hat sitzen lassen, braucht viel billigen Sekt, um durch den Tag zu kommen. Sven und Stamm werden auch nirgends gebraucht, und als ihnen ein Neonazi dumm kommt, fliegt ihnen plötzlich ein Stein aus der Hand, der den Typen - wie sich herausstellen wird - tödlich trifft.

Da hat, sollte man meinen, niemand etwas zu lachen: weder die handelnden Personen noch das Publikum. Das Gegenteil ist der Fall: Dirk Laucke zeigt, wie viel Kraft und Phantasie, wie viel Mut und Energie, wie viel Humor und Zärtlichkeit da glimmen unter all dem Schutt und Müll, der auf das Leben in der Kleingartenanlage gefallen ist. Die Looser in der Laube gehen ein aberwitziges Projekt an: Sie wollen in ihrem Gartenhäuschen einen Plattenladen eröffnen, der Kult werden soll in der Szene.

Aber nicht, was da im einzelnen geschieht, ist wichtig in Dirk Lauckes neuem Stück. Wichtig ist dieser Ausschnitt aus dem Leben, diese Begegnung mit Menschen, die wahrscheinlich die wenigsten im Theaterpublikum persönlich kennen und die doch auf Anhieb Realität werden. Wieder gelingt es dem Autor, aus dem szenischen Dialog heraus authentische Figuren entstehen zu lassen. Der ist spröde und kantig, ruppig und direkt, driftet auch mal ab in körperliche Aggression, lässt das Wichtigste unausgesprochen und funktioniert doch wie ein Seismograf von Gedanken und Gefühlen.

Regisseur Henning Bock hat die Sprache genau ausgeleuchtet und mit musikalischem Timing verzahnt. Die fünf Schauspieler Martin Vischer, Matthias Thömmes, Jennifer Lorenz, Katja Heinrich und Stephan Ullrich setzen das präzise und wirken doch so direkt und authentisch, dass der Zuschauer nach 70 Minuten eigentlich nur wissen möchte, wie es weitergeht mit Sven, Tine und den anderen.

Diesen Kurzschluss zwischen Bühne und Publikum kann der Regisseur Roger Vontobel mit der "Orestie" nicht bewirken. Er scheint ganz im Bann des übermächtigen Textes zu stehen, macht nichts falsch, aber auch nichts mit vollem Einsatz. Vontobel, der sich in erstaunlichem Tempo in die erste Reihe der jungen Regisseure gespielt hat und bereits regelmäßig an den Münchner Kammerspielen und am Hamburger Schauspielhaus inszeniert, hat auch in Essen bereits mehrere Stücke erarbeitet.

Diesmal bleibt er seltsam indifferent. Er trifft zwar einige kluge Entscheidungen, wenn er zum Beispiel das Personal auf fünf Darsteller reduziert, die auch den Chor übernehmen, und sich auf die stringente Herausarbeitung des mörderischen Kreislaufs von Schuld und Rache konzentriert. Das Monströse aber, mit dem diese Tragödie um Kindsmord, Gattenmord und Muttermord konfrontiert, wagen seine Darsteller nicht zu offenbaren.

Extremes leistet an diesem Abend nur die Regenanlage des Essener Theaters, die wahre Wolkenbrüche über die Bühne ergießt. Die verwandelt sich in glitschigen Schlamm, in dem sich völlig durchnässte Menschen wälzen. Man fragt sich, wie kalt und unangenehm das für die Darsteller sein mag, aber nicht, was sich ereignet im Innern des von Furien gehetzten Orest, der verzweifelten Rächerin Elektra. Furcht und Mitleid? Fehlanzeige.