Die Lust am Wald

Wie ein Sofa im Grünen

06:48 Minuten
Eine Frau mit Rucksack spaziert durch einen Wald.
Der Spaziergang im Wald hat besonders in Coronazeiten Konjunktur. © Eyeem / Jonas Hafner
Von Uschi Götz |
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Im Coronalockdown haben viele Menschen den Wald wiederentdeckt. So viel Platz, so viel frische Luft, so viele gute Gedanken! Die Waldauswahl ist groß. Auch unsere Autorin Uschi Götz hat sich ein privates Lieblingsfleckchen im Grünen ausgesucht.
Eine Frau mittleren Alters lehnt an einer Tanne. Ein junger Mann im Business-Outfit kommt mit einer Handvoll Tannenzapfen aus dem Wald. Schon vor Corona traf man gefühlt auf immer mehr Menschen im Wald. Kaum einer sah wie ein typischer Wanderer aus.
Shinrin Yoku nennen es die Japaner: Das Baden in Waldluft. Und was in Japan längst zur Gesundheitsvorsorge gehört, ist auch hierzulande zum Trend geworden. Der Wald ist ein riesiger Wellnessbereich. Im Vergleich zur Stadtluft werden in der Waldluft bis zu 90 Prozent weniger Staubpartikel gemessen. Tief durchatmen. Und schon nach ein paar Hundert Metern wird der Herzschlag langsamer. Irgendwas in einem fährt spürbar runter.
"Er stärkt auch unser Immunsystem, kann uns vor ernsthaften, chronischen Krankheiten schützen und sogar vor einem Herzinfarkt. Zum Beispiel durch bestimmte Substanzen, die wir in der Waldluft finden. Und das ist keine Esoterik, sondern das ist evidenzbasierte, moderne Naturwissenschaft", berichtet Clemens Arvay in einer NDR-Reportage.
Der Biologe hat Studien über die Wirkung des Waldes auf uns Menschen zusammengetragen und schreibt darüber.

Beim Waldbaden geht es nicht um Selbstoptimierung

Dabei ist die gesundheitsfördernde Wirkung des Waldes schon lange bekannt. Luftkurorte etwa haben eine lange Tradition, und fast immer sind diese Orte von Wäldern umgeben. Auch heutzutage enden viele Straßen- und U-Bahnen irgendwo an Stadträndern, wo der Wald beginnt.
"Gibt es den richtigen Wald?", frage ich mich. "Buche, Fichte oder doch besser in einen alten Eichenwald? Welcher Waldtyp bin ich? Was ziehe ich an? Brauche ich ein Handtuch? Und plötzlich sieht man vor lauter Bäume den Wald nicht mehr. Also: Locker bleiben. Beim Waldbaden geht es nicht darum, sich schon wieder zu optimieren, sondern einfach runterzukommen."
Eintritt kostenlos, spezielle Kleidung nicht erforderlich. Maximal ein Schutz vor Zecken empfiehlt sich mancherorts. Natürlich kann man sich stundenlang überlegen, welcher Wald zu einem passt, die Auswahl ist ja groß. Auch ein Stadtwald bietet Erholung. Von meinem Wohnort nahe Tübingen ist es nicht weit bis in den Schwarzwald oder auf die Schwäbische Alb. Überall sehr viele Bäume.
Ich denke: "Ich gehe immer an dieselbe Stelle. Ich habe meinen Wald im Wald. Ein paar Quadratmeter am Rande des Schönbuchs bei Tübingen. Die habe ich mir ausgesucht wie eine Wohnung. Ich rede nicht von Kauf, ich habe dieses Fleckchen einfach gedanklich gepachtet. Meine Waldwohnung liegt im Erdgeschoss, ziemlich geschützt an einem alten Weg gelegen. Bis auf einen Mountainbiker ist hier bislang keiner vorbeigekommen."

"Ich fühle mich wie Henry David Thoreau"

In meiner Waldwohnung liegen bemooste Stämme, meine Sofas. Pilze und alte Hölzer fügen sich zu einem kunterbunten, herrlich riechenden Teppichboden zusammen.
Kaum sitze ich, schaufeln sich neben mir Käfer ans Licht, über mir klopft ein Specht. Wenigstens zweimal in der Woche fühle ich mich ein bisschen wie Henry David Thoreau. Der amerikanische Schriftsteller und Philosoph hat sich für ganze zwei Jahre in die einsamen Wälder von Massachusetts zurückgezogen, eine Blockhütte reichte ihm.
Er wollte dem eigentlichen, wirklichen Leben nähertreten. Im Wald. 28 Jahre alt war Thoreau damals. Seine Eindrücke hat er in einem Tagebuch dokumentiert, später als Buch mit dem Namen "Walden" erschienen.
Er wollte nicht das Leben, was nicht Leben war. Er wollt auch keine Entsagung, es sei denn es ging halt nicht anders. Er schrieb damals wörtlich: "Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen. Tief leben!"

Handy aus, Augen auf

Okay, das ist Philosophie für Fortgeschrittene. Meine Kollegin Annette Maria Rieger ist überzeugt davon, man müsse nicht zwei Jahre in den Wald ziehen um "tief" zu leben. Handy aus, Augen auf, sagt sie: "Wir sind hier auf ungefähr 730 Metern, ein sehr früh ausgewiesenes Landschaftsschutzgebiet, schon seit 1939. Hier sind die ganz großen Tannen gewachsen, Buchen, aber vor allem eben Tannen, die Kälberbronn weithin bekannt gemacht haben."
"Große Tannen" heißt das Gebiet in der Nähe von Freudenstadt im Nordschwarzwald. Und der Name hält, was zu sehen ist. Es geht los: Baden in Waldluft mit einem Profi.
Annette Maria Rieger hat das Buch "Waldbaden in Baden-Württemberg - Orte zum Kraft tanken" geschrieben. Was das praktisch heißt, ist jetzt zu erleben. Überall liegen bemooste Baumstämme in dem Bannwald. Je länger man darauf schaut, desto wilder werden die Gedanken. Aus alten Baumstämmen werden krokodilartige Urwaldtiere: "Dieses Staunen über die Vielfalt der Formen, die es in ganz natürlicher Weise hier gibt. Ich finde die oftmals imposanter als ein Großteil der Kunst im öffentlichen Raum, die irgendwo herumsteht.

Kunst am Wald

Der Wald, eine große Kunstsammlung. Auch das ist Waldbaden. Ebenso die Wunden, die durch eine fragwürdige Waldwirtschaft und Hitzeperioden längst diesen wiederentdeckten Rückzugsort bedrohen.
Anfänger im Wald müssen länger hinschauen, um auch das Werdende zu sehen, sagt Rieger: "Wir könnten jetzt über Totholz sprechen, Verwesung, Metamorphose. Tatsächlich ist es ja ein Bild des stetigen Wandels. Wir sehen ja auch hier, da wächst auf diesen vermoosten, alten Baumstämmen schon wieder der nächste Sämling hoch, der hier die Nährstoffe nutzt und auch dann zum Baum werden kann."
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