Die Mädchen mochten die Bauklötze
Typisch männlich, typisch weiblich - viele angeblich wissenschaftliche Studien stützen uralte Stereotype. Die in Melbourne lehrende Psychologin Cordelia Fine nimmt sich die oft fragwürdige Methodik und tendenziösen Thesen solcher Untersuchungen vor.
"Männer können nicht zuhören und Frauen schlecht einparken", "Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus" – in der aktuellen populärwissenschaftlichen Literatur wimmelt es von unabänderlichen Gesetzen und unüberwindbaren Abgründen zwischen Mann und Frau. Sie kommen modern daher, unterfüttert mit angeblichen Erkenntnissen aus der Neurowissenschaft. Eine gefährliche "Geschlechterlüge", sagt Cordelia Fine:
Stereotype werden durch diese pseudowissenschaftlichen Erklärungen legitimiert. Wer gerade noch zu den altmodischen Sexisten gehörte, steht plötzlich auf der Seite der modernen Naturwissenschaft. Wenn nur das Zauberwort "Gehirn" vorkommt, wird keiner mehr nachhaken. Wir müssen uns allerdings fragen, welche Rückwirkung diese Art von "Information" auf die Gesellschaft hat.
Eine verheerende, glaubt die Autorin: Die populärwissenschaftlichen Machwerke erzeugen genau die Phänomene, die sie zu erklären vorgeben.
Aber sind die Mars-und-Venus-Bücher denn wirklich Unsinn? Die Autorin analysiert hunderte von Experimenten noch einmal. Wie waren sie aufgebaut? Messen sie das, was sie sollen?
Ihr Fazit: Je fragwürdiger eine Studie strukturiert war, desto eher stützte sie die Theorie vom angeborenen "typisch männlichen" und "typisch weiblichen" Verhalten. Teils mit Hilfe von handfestem wissenschaftlichem Betrug. Die Autorin bietet einen aufschlussreichen Blick in die Trickkiste der Forschung:
Geringe Unterschiede, etwa von 49 zu 51 Prozent, wurden maßlos aufgebauscht. – Die Stichproben dagegen waren viel zu klein. – Mehrere Bücher beziehen sich auf längst widerlegte Studien. – Ein Autor dachte sich eine Hirnregion einfach aus: Sie sei bei Männern viermal größer, behauptete er dann, und, natürlich, zentral für logisches Denken. – Teils wurde sogar der Versuchsaufbau angepasst, wenn die Ergebnisse den erwarteten Stereotypen widersprachen: Aus einem Spielzeug-Set, das die "Männlichkeit" oder "Weiblichkeit" von Kleinkindern messen sollte, mussten die Bauklötze entfernt werden: Die Mädchen mochten sie zu gern.
Aber die krassesten wissenschaftlichen "Geschlechterlügen" sind wohl dort zu suchen, wo die Ergebnisse von bildgebenden Verfahren, von Gehirn-Scans, voreilig interpretiert werden. Die Technik steckt noch in den Kinderschuhen, geben viele Forscher zu bedenken.
Um das zu verdeutlichen, wurde kürzlich ein Atlantischer Lachs gescannt, während man ihm Bilder zeigte, die starke Gefühle hervorrufen. Der Lachs – der übrigens zum Zeitpunkt des Scannens nicht mehr lebte – wurde aufgefordert zu entscheiden, welches Gefühl das auf dem Foto gezeigte Individuum empfand. Mit den üblichen statistischen Methoden wurde während der Einfühlungs-Aufgabe in einer kleinen Region des toten Fischgehirns eine "signifikante" Gehirnaktivität festgestellt.
Nein, damit hatten die Forscher nicht den Sitz des Einfühlungsvermögens toter Fische lokalisiert – sondern einen großen blinden Fleck in der aktuellen Hirnforschung. Wenn manche Wissenschaftler behaupten, sie könnten aus einem Gehirn-Scan ablesen, warum einige Männer immer die Einkaufsliste vergessen, ist das also ziemlicher Humbug. Sie projizieren alte Geschlechter-Vorurteile auf magere neue Erkenntnisse – und rechtfertigen damit oft den gesellschaftlichen Status Quo.
Das war übrigens schon früher so. Im 19. Jahrhundert vertrat man an der Elite-Uni Harvard die Auffassung, dass geistige Arbeit bei Frauen Energie aus den Eierstöcken ins Gehirn absauge und zu Unfruchtbarkeit führe. Eine hochmoderne Methode (ähnlich wie der Gehirn-Scan heute) war damals das Vermessen des Kopfes mit dem Maßband und das Wiegen von Gehirnen. Frauengehirne waren kleiner. Die Deutung lag auf der Hand. Später stellte sich zwar heraus, dass weibliche Gehirne proportional sogar größer sind als männliche, dieser Fakt wurde aber nicht mehr so populär. Fand man Unterschiede im Gewebe des Gehirns, hieß es, die weiblichen Nervenstränge seien zarter und würden bei zu viel Denken reißen.
Warum nur, fragt Cordelia Fine zu Recht, entwickeln wir nicht endlich ein gesundes Misstrauen gegen immer neue "topaktuelle Erkenntnisse", wenn sie zufällig uralte Rollenklischees stützen? Wir müssten doch inzwischen wissen, dass die meisten von ihnen ein paar Jahrzehnte später nur noch lachhaft sind.
Aber spektakuläre Unterschiede lassen sich eben besser verkaufen (und damit veröffentlichen) als langweilige Ähnlichkeiten. Die überwiegen jedoch zwischen Männer- und Frauengehirnen, sagt die Autorin:
Es gibt nichts auf der Welt, was einem männlichen Gehirn so ähnlich wäre wie ein weibliches Gehirn. Neurowissenschaftler, die nur ein einzelnes Exemplar vor sich haben, können nicht angeben, ob es sich um ein männliches oder um ein weibliches Gehirn handelt.
Die Autorin hat viele Fakten versammelt, und gerade das Kapitel über "Neurosexismus" ist streckenweise echte Lese-Arbeit. Aber die lohnt sich. Hier gibt es Antwort auf grundlegende Fragen: Wie genau wirkt Testosteron? Was passiert bei der Geschlechts-Entstehung im Mutterleib? Und vor allem – was nicht?
Berührend sind die Passagen, in denen Fine nachzeichnet, wie die angeblich neu fundierten Geschlechter-Vorurteile bis in die Schulsysteme durchsickern. Da sollen Mädchen im Englischunterricht am besten über Gefühle reden und Jungen über Sport. Konsequenter kann man Stereotype kaum zementieren.
Dabei erledigen sich viele Klischees mit der Zeit von selbst, wie die männliche Überlegenheit in Mathe. Tests haben gezeigt: In den frühen 1980er-Jahren war das Verhältnis von mathematisch hochbegabten Jungen zu Mädchen noch 13 zu 1. Im Jahr 2005 betrug es gerade noch gut 3 zu 1. Wie das wohl 2020 aussehen wird? Für die Autorin steht fest,
[…] dass mathematische Hochbegabung nicht etwas Fixiertes, "Verdrahtetes" ist, sondern auf kulturelle Faktoren reagiert, die das Ausmaß beeinflussen, in dem mathematisches Talent bei Jungen und Mädchen entweder identifiziert und gefördert oder aber übersehen, unterdrückt oder abgewürgt wird. Es gibt handfeste Beweise dafür, dass die Geschlechterkluft hinsichtlich Begabung und Leistung verändert werden kann.
Auch das Gehirn selbst ist veränderbar. Es vernetzt sich ständig neu, je nachdem wie es benutzt wird. Das lässt sich gut nachweisen – mit und ohne bildgebende Verfahren. Unser Gehirn entwickelt sich so, wie wir damit denken – auch über die Geschlechter. Das ist der hoffnungsvolle Schluss des Buchs.
Rezensiert von Doris Anselm
Cordelia Fine: Die Geschlechterlüge. Die Macht der Vorurteile über Frau und Mann
Aus dem Englischen von Susanne Held
Klett-Cotta, Stuttgart 2012
Stereotype werden durch diese pseudowissenschaftlichen Erklärungen legitimiert. Wer gerade noch zu den altmodischen Sexisten gehörte, steht plötzlich auf der Seite der modernen Naturwissenschaft. Wenn nur das Zauberwort "Gehirn" vorkommt, wird keiner mehr nachhaken. Wir müssen uns allerdings fragen, welche Rückwirkung diese Art von "Information" auf die Gesellschaft hat.
Eine verheerende, glaubt die Autorin: Die populärwissenschaftlichen Machwerke erzeugen genau die Phänomene, die sie zu erklären vorgeben.
Aber sind die Mars-und-Venus-Bücher denn wirklich Unsinn? Die Autorin analysiert hunderte von Experimenten noch einmal. Wie waren sie aufgebaut? Messen sie das, was sie sollen?
Ihr Fazit: Je fragwürdiger eine Studie strukturiert war, desto eher stützte sie die Theorie vom angeborenen "typisch männlichen" und "typisch weiblichen" Verhalten. Teils mit Hilfe von handfestem wissenschaftlichem Betrug. Die Autorin bietet einen aufschlussreichen Blick in die Trickkiste der Forschung:
Geringe Unterschiede, etwa von 49 zu 51 Prozent, wurden maßlos aufgebauscht. – Die Stichproben dagegen waren viel zu klein. – Mehrere Bücher beziehen sich auf längst widerlegte Studien. – Ein Autor dachte sich eine Hirnregion einfach aus: Sie sei bei Männern viermal größer, behauptete er dann, und, natürlich, zentral für logisches Denken. – Teils wurde sogar der Versuchsaufbau angepasst, wenn die Ergebnisse den erwarteten Stereotypen widersprachen: Aus einem Spielzeug-Set, das die "Männlichkeit" oder "Weiblichkeit" von Kleinkindern messen sollte, mussten die Bauklötze entfernt werden: Die Mädchen mochten sie zu gern.
Aber die krassesten wissenschaftlichen "Geschlechterlügen" sind wohl dort zu suchen, wo die Ergebnisse von bildgebenden Verfahren, von Gehirn-Scans, voreilig interpretiert werden. Die Technik steckt noch in den Kinderschuhen, geben viele Forscher zu bedenken.
Um das zu verdeutlichen, wurde kürzlich ein Atlantischer Lachs gescannt, während man ihm Bilder zeigte, die starke Gefühle hervorrufen. Der Lachs – der übrigens zum Zeitpunkt des Scannens nicht mehr lebte – wurde aufgefordert zu entscheiden, welches Gefühl das auf dem Foto gezeigte Individuum empfand. Mit den üblichen statistischen Methoden wurde während der Einfühlungs-Aufgabe in einer kleinen Region des toten Fischgehirns eine "signifikante" Gehirnaktivität festgestellt.
Nein, damit hatten die Forscher nicht den Sitz des Einfühlungsvermögens toter Fische lokalisiert – sondern einen großen blinden Fleck in der aktuellen Hirnforschung. Wenn manche Wissenschaftler behaupten, sie könnten aus einem Gehirn-Scan ablesen, warum einige Männer immer die Einkaufsliste vergessen, ist das also ziemlicher Humbug. Sie projizieren alte Geschlechter-Vorurteile auf magere neue Erkenntnisse – und rechtfertigen damit oft den gesellschaftlichen Status Quo.
Das war übrigens schon früher so. Im 19. Jahrhundert vertrat man an der Elite-Uni Harvard die Auffassung, dass geistige Arbeit bei Frauen Energie aus den Eierstöcken ins Gehirn absauge und zu Unfruchtbarkeit führe. Eine hochmoderne Methode (ähnlich wie der Gehirn-Scan heute) war damals das Vermessen des Kopfes mit dem Maßband und das Wiegen von Gehirnen. Frauengehirne waren kleiner. Die Deutung lag auf der Hand. Später stellte sich zwar heraus, dass weibliche Gehirne proportional sogar größer sind als männliche, dieser Fakt wurde aber nicht mehr so populär. Fand man Unterschiede im Gewebe des Gehirns, hieß es, die weiblichen Nervenstränge seien zarter und würden bei zu viel Denken reißen.
Warum nur, fragt Cordelia Fine zu Recht, entwickeln wir nicht endlich ein gesundes Misstrauen gegen immer neue "topaktuelle Erkenntnisse", wenn sie zufällig uralte Rollenklischees stützen? Wir müssten doch inzwischen wissen, dass die meisten von ihnen ein paar Jahrzehnte später nur noch lachhaft sind.
Aber spektakuläre Unterschiede lassen sich eben besser verkaufen (und damit veröffentlichen) als langweilige Ähnlichkeiten. Die überwiegen jedoch zwischen Männer- und Frauengehirnen, sagt die Autorin:
Es gibt nichts auf der Welt, was einem männlichen Gehirn so ähnlich wäre wie ein weibliches Gehirn. Neurowissenschaftler, die nur ein einzelnes Exemplar vor sich haben, können nicht angeben, ob es sich um ein männliches oder um ein weibliches Gehirn handelt.
Die Autorin hat viele Fakten versammelt, und gerade das Kapitel über "Neurosexismus" ist streckenweise echte Lese-Arbeit. Aber die lohnt sich. Hier gibt es Antwort auf grundlegende Fragen: Wie genau wirkt Testosteron? Was passiert bei der Geschlechts-Entstehung im Mutterleib? Und vor allem – was nicht?
Berührend sind die Passagen, in denen Fine nachzeichnet, wie die angeblich neu fundierten Geschlechter-Vorurteile bis in die Schulsysteme durchsickern. Da sollen Mädchen im Englischunterricht am besten über Gefühle reden und Jungen über Sport. Konsequenter kann man Stereotype kaum zementieren.
Dabei erledigen sich viele Klischees mit der Zeit von selbst, wie die männliche Überlegenheit in Mathe. Tests haben gezeigt: In den frühen 1980er-Jahren war das Verhältnis von mathematisch hochbegabten Jungen zu Mädchen noch 13 zu 1. Im Jahr 2005 betrug es gerade noch gut 3 zu 1. Wie das wohl 2020 aussehen wird? Für die Autorin steht fest,
[…] dass mathematische Hochbegabung nicht etwas Fixiertes, "Verdrahtetes" ist, sondern auf kulturelle Faktoren reagiert, die das Ausmaß beeinflussen, in dem mathematisches Talent bei Jungen und Mädchen entweder identifiziert und gefördert oder aber übersehen, unterdrückt oder abgewürgt wird. Es gibt handfeste Beweise dafür, dass die Geschlechterkluft hinsichtlich Begabung und Leistung verändert werden kann.
Auch das Gehirn selbst ist veränderbar. Es vernetzt sich ständig neu, je nachdem wie es benutzt wird. Das lässt sich gut nachweisen – mit und ohne bildgebende Verfahren. Unser Gehirn entwickelt sich so, wie wir damit denken – auch über die Geschlechter. Das ist der hoffnungsvolle Schluss des Buchs.
Rezensiert von Doris Anselm
Cordelia Fine: Die Geschlechterlüge. Die Macht der Vorurteile über Frau und Mann
Aus dem Englischen von Susanne Held
Klett-Cotta, Stuttgart 2012