Die Magie des Sehens

Rezensiert von Olga Hochweis |
"Luzias Augen" von Drago Jancar umfasst zehn neue Erzählungen des slowenischen Schriftstellers, in denen das Motiv des "Sehens" eine wesentliche Rolle spielt. Exemplarisch hierfür ist die Titelgeschichte, die den Band eröffnet: Eine junge Studentin verliebt sich in einen erfolglosen Maler, dessen Bilder sie vom ersten Augenblick überwältigen. Nur sie allein scheint die wahre Kraft und Tiefe seines Werks zu erkennen, sie sieht mehr als die anderen. Deshalb nennt der Künstler sie Luzia, nach der heiligen Luzia, die "zuviel sehen konnte".
Aus ihrer Loyalität und Aufopferung bezieht er zunächst seine Schaffenskraft und Energie, doch allmählich wird er seiner untertänigen Dienerin überdrüssig, wird aggressiv, demütigt sie und schlägt zu. Sie verlässt nach drei Jahren ihren "Meister", schafft es aber nicht mehr, danach ein normales Leben zu führen: "Die ganze Welt war auf einmal so leer, seit er daraus verschwunden war ..." Um die Leere zu füllen, begibt sich die verlorene Luzia in die Dienste eines neuen Herrn - eines Zuhälters.

Auch in der Erzählung "Der Mann, der in den Malstrom sah" spielen Augen eine magische Rolle. Es ist das magische Auge einer Kamera, die einen einfachen Angestellten in ihren Sog und schließlich ins Verderben zieht. Anfang der 90er Jahre, als die politischen Ereignisse ganz Jugoslawien erschüttern, wagt er es bei einer Kundgebung vor Millionen von Fernsehzuschauern seine Meinung kundzutun. Danach wird er zum ungeliebten Dauerredner in allen möglichen Sendungen, bis er mangels Interesse irgendwann im Supermarkt in die Überwachungskameras hinein spricht. Aus dem Spannungsfeld zwischen der grotesken Überzeichnung des traurigen Helden und dem ganz realen Hintergrund einer schnelllebigen slowenischen Gesellschaft bezieht die Erzählung ihren Reiz.

Es sind oft tragische, verlorene Gestalten, die im Zentrum von Jancars Geschichten stehen: Individuen am Rande der Gesellschaft, die irgendwie, "übrig bleiben", ignoriert oder verspottet werden. Von Larmoyanz jedoch keine Spur, in ironisch-witziger Erzählform wird bisweilen auch mal eine überraschende Pointe geliefert. Da ist die gealterte Schaupielerin in der Erzählung "Premiere auf kleiner Bühne", der niemand mehr ein Engagement geben will und die deswegen einem behinderten Verehrer die Mascha aus Tschechows "Drei Schwestern" (ihre Lebensrolle) rezitiert - was der Verehrer wiederum gänzlich falsch versteht. Oder da ist der Bibliotheksangestellte, der sich mit Latein und Griechisch beschäftigt und deshalb in seiner Armeezeit zu Zeiten Titos als "Kenner verfaulter Sprachen" verhöhnt wird und den Spitznamen "Verfault" erhält. Doch gerade er ist es, der es wagt, Tito zu verspotten, und zwar mit einem Zitat aus der Bibel, das er in den Soldaten-Jargon übersetzt.

Jancars Erzählungen spielen zwar vorwiegend in der Gegenwart und in der jüngsten Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche. Sie beleuchten aber in Rückblenden auch Vergangenes, sowohl die Zeiten Titos wie in der eben erwähnten Erzählung "Die Prophezeiung" als auch die Zeit des 2.Weltkriegs, wie in "Maßnahmen zur Förderung männlicher Schaffenskraft". Die Erinnerung an Menschen, die unter bestimmten Systemen Schlimmes erleiden mussten, wird in beiden Erzählungen in der Verschränkung von Einzelschicksal und Historie deutlich. Jancar ist ein Meister der Erzählkunst. Er vermag es, mit einfachen Worten bildhafte Szenen und Atmosphäre zu schaffen, die sehr sensible Einfühlung in die Figuren zeigen. Er verwendet Rückblenden, setzt filmische Mittel des plötzlichen Schnitts und Szenenwechsel ein, verwendet auch Witz und Ironie, mit denen er ganz beiläufig Kritik an herrschenden gesellschaftlichen Zuständen übt - z.B. an den slowenischen Neureichen in "Unsichtbarer Staub". Witz zeigt auch die letzte Geschichte, in der Jancar sich selbstironisch zum ungewollten Helden stilisiert.

Drago Jancar, 1948 in Maribor geboren, hat mit diesem sehr lesenswerten Erzählband von neuem seine herausragende Bedeutung als Autor von Weltrang unter Beweis gestellt.

Drago Jancar: Luzias Augen
Erzählungen
Aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut und Klaus Detlef Olof
Folio Verlag, 160 Seiten, 19,50 Euro