Die Mauer im Ausland

Von Reinhard Kreissl · 04.11.2009
Der Fall der Mauer 1989 fiel für die meisten Österreicher unter die Rubrik Auslandsnachrichten. Man hatte keine Verwandten "drüben" und zur Deutschen Demokratischen Republik pflegte man diplomatisch ein entspanntes Verhältnis.
Als vor 20 Jahren in Deutschland die Mauer fiel, hatte man in Österreich kurz zuvor den Stacheldrahtzaun an der Grenze zu Ungarn entfernt. Medienwirksam griffen Politiker beider Länder zur Drahtschere und ließen sich beim symbolischen Zerschneiden des Grenzzauns ablichten. Es war der maßstabsgerechte Beitrag eines kleinen Landes zur neuen Weltordnung - kein Gründungsmythos einer getrennten Nation, kein Wiederauferstehen von Österreich-Ungarn. In Wien stiegen die Immobilienpreise ein wenig und ansonsten wurde die Entwicklung mit der gebotenen Zurückhaltung beobachtet. Hatte man doch schon mehrmals erlebt, wie scheinbar mächtige revolutionäre Veränderungen scheiterten: Ungarn 1956, Prag 1968 bescherten dem kleinen Land Flüchtlingswellen, die man damals noch akzeptierte, handelte es sich doch um Opfer des Kommunismus. Zudem waren es ohnehin in erster Linie Intellektuelle, die entweder weiter nach Westen wanderten oder in der balkanisch-böhmischen Promenadenmischung der Wiener Kultur schnell aufgingen.

Der Fall der Mauer 1989 fiel für die meisten Österreicher unter die Rubrik Auslandsnachrichten. Man hatte keine Verwandten "drüben", zur Deutschen Demokratischen Republik pflegte man diplomatisch ein entspanntes Verhältnis, und der Westdeutsche war als Piefke im Wesentlichen der Tourist, der die heimische Wirtschaft förderte. Nationalen Taumel, wie er Deutschland vor 20 Jahren kurzfristig erfasste, kennt man hierzulande ohnehin nicht. Die Erregung findet im Saale und choreografiert von den Medien statt. Zum Publikum versammelt findet sich der Österreicher bestenfalls in Wahlkampfzeiten anlässlich der Auftritte fragwürdiger Kandidaten, die vor der Überfremdung der Heimat warnen. Dass über 90 Prozent der Österreicher stolz auf die Schönheit des Landes sind, aber nur unter zehn Prozent auf die Leistungen der Politik, zeigt, bei aller Kritik an solchen Umfrageergebnissen, dass man bitte nichts verändern möge.

Nur als Gedankenexperiment: Ein sogenannter Solidaritätsbeitrag, wie er westdeutschen Steuerzahlern nach der Wiedervereinigung auferlegt wurde, wäre in Österreich bei Anschluss Böhmens an die Alpenrepublik politisch nicht durchsetzbar. Das kleine Kernland, herausgeschnitten aus dem alten k. u. k. Imperium ist selbstgenügsam bis zur Aversion gegen alles Fremde. Wenn in unmittelbarer Nachbarschaft Veränderungen stattfinden, dann steht man ihnen bestenfalls misstrauisch gegenüber. Betreffen sie das eigene Land, dann findet man sie schlecht. Das wiederum finden dann die heimischen Intellektuellen schlecht, weswegen sie ihre engstirnigen Landsleute schlecht finden und die wiederum die Intellektuellen. Das nennt man in Österreich "sudern", was auf Deutsch so viel bedeutet wie meckern – eine der österreichischen Hauptkommunikationsformen.

Von den längerfristigen Folgen des Mauerfalls ist Österreich natürlich betroffen. Anfangs waren in den einschlägigen Touristenorten neue Dialekte zu hören. Neben den an seinem Idiom erkennbaren Piefke trat jetzt gehäuft der ebenso klar identifizierbare Ostdeutsche, der seine neu gewonnene Reisefreiheit nutzte. Später dann, als es mit den blühenden Landschaften im Osten doch nichts werden wollte, verschob sich das Ganze. Heute hört man in der Gastronomie, gerade auch in jenen Bereichen, die sich als traditionell und typisch österreichisch vermarkten, immer öfter deutlich sächselndes Personal. Auf den Skihütten ist es inzwischen völlig normal, dass Ostdeutsche – in entsprechende Tracht gesteckt – den westdeutschen Wintertouristen typisch österreichische Schmankerl servieren. Den einheimischen Hüttenwirt stört das nicht, hat er damit doch zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Der Ossi arbeitet für wenig Geld und kümmert sich gleichzeitig um den Piefke. Ansonsten bleibt alles wie es ist. Eine typisch österreichische Lösung. Felix Austria.

Dr. Reinhard Kreissl, geboren 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt am Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat unter anderem an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Bekannte Buchpublikationen: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist" und "Feinde. Alle, die wir brauchen". Kreissl lebt in München und Wien.