Die Mauer in der Partei

Der Kampf der Ost-CDU um Anerkennung

29:46 Minuten
Ein CDU-Plakat für die Landtagswahl mit dem Porträt des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich im Dresdner Stadtzentrum.
Der CDU-Politiker Stanislaw Tillich war seit der Wende der erste Sachse, der als Christdemokrat für das Amt des Ministerpräsidenten kandidierte. © dpa / Matthias Hiekel
Von Thomas Klug · 28.09.2020
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Der CDU gelangen 1990 im Osten deutliche Wahlerfolge. Und das trotz der DDR-Vergangenheit der CDU-Ost. Die Ostdeutschen fügten sich ein in die große westdeutsche Partei, übernahmen Verantwortung. Wie hat das die CDU geprägt?
1989: Die Bürger demonstrieren, weil es nicht so weitergehen kann mit der DDR:
"Dafür haben wir nicht gearbeitet und nicht gelebt in den letzten 40 Jahren. Da muss sich was ändern, von oben und unten in das kleinste Glied. Und da fang ich oben in der Regierung an und hören unten bei der Familie auf."
"Ich kann mit diesem Sozialismus nichts mehr anfangen, ich stehe ihm äußerst kritisch gegenüber. Ich bin für Sozialismus, aber nicht für diesen Sozialismus."
Die alten Männer der Politbürokratie der DDR verstanden die Welt nicht mehr, als ihre Phrasen nicht mehr einschläfernd wirkten, sondern das Volk auf die Straße trieben – oder über die Grenzen. Über Landesgrenzen und über ideologisch verordnete Grenzen.
Helmut Kohl, Dresden 1989: "Meine sehr geehrten Damen und Herren, meine lieben jungen Freunde, liebe Landsleute. Zunächst darf ich mich bei Ihnen allen sehr, sehr herzlich bedanken für dieses freundliche und freundschaftliche Willkommen."

Helmut Kohl gibt der Wende ein neues Ziel

Erst kam das Ende für die alten Machthaber der DDR. Sie traten zurück, nach und nach, was seltsam war. Bis dahin hatte man ein Amt nur durch den eigenen Tod aufgegeben. Oder wenn man von einem Nachfolger unsanft daraus vertrieben wurde – mit Billigung Moskaus. Nach den Rücktritten war plötzlich Platz für neue Gedanken, Ideen und Überlegungen. Wie könnte eine DDR ohne Diktatur aussehen. Dann kam der Kanzler. Der Kanzler sprach in Dresden. Über Nacht war im Osten das neu, was im Westen schon alt war.
"Sie werden frei entscheiden, wer mit Ihrem Vertrauen versehen im Parlament sitzt. Sie werden eine frei gewählte Regierung haben. Und dann ist der Zeitpunkt gekommen, zu dem, was ich genannt habe: konföderative Strukturen. Das heißt: gemeinsame Regierungsausschüsse, gemeinsame Parlamentsausschüsse, damit wir möglichst viel Gemeinsamkeit in Deutschland leben können."
Alles war in Bewegung, alles denkbar. Alles veränderbar. Die Debatten waren bald zu Ende. Das Ziel aller Veränderung schien plötzlich klar: "Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation."

Der Sieger steht nicht auf dem Stimmzettel

Die CDU hatte gewonnen: haushoch und eindeutig. Helmut Kohl wurde der Sieger der Volkskammerwahlen im März 1990, obwohl er nicht einmal auf den Stimmzetteln stand. Man sah Helmut Kohl – und wählte die CDU/Ost, eine Partei, die schon immer in der Volkskammer, im Ministerrat und im Staatsrat vertreten war. Eine Partei mit Vergangenheit. Ist das ein Einstieg?
"Die CDU hatte einen fulminanten Einstieg Anfang der 90er-Jahre, mit dem vorher auch kaum jemand rechnen konnte", sagt Christine Lieberknecht, die ehemalige CDU Ministerpräsidentin in Thüringen, und guckt in die Vergangenheit. Sachsen-Anhalt: 39 Prozent. Sachsen: 53,8 Prozent. Mecklenburg-Vorpommern: 36,3 Prozent. Thüringen: 45,4 Prozent.

"Und die CDU konnte sich in ihrem ureigenen Feld, nämlich Verantwortung wahrzunehmen, behaupten, flächendeckend, es war ja nahezu die komplette Kommunalpolitik in Hand der CDU, vom Wahlergebnis 1990 her. Auf Landesebene hatte die CDU das Glück, mit einer fast absoluten Mehrheit – es fehlten damals zwei Sitze im Parlament – eine Koalition mit der FDP einzugehen."
Dresdener Bürger tragen während einer Demonstration 1989 ein Transparent mit dem Spruch "Lieber Kohl als Sauerkraut".
"Lieber Kohl als Sauerkraut" - Demonstration 1989 in Dresden.© dpa

Das Dilemma der Ostdeutschen

Ein Dilemma begann: Einerseits misstraute man im eigenen Arbeitsumfeld denjenigen, die aus dem Westen kamen. Andererseits wählte man Parteien, die genau die Strukturen aus dem Westen dort nachbilden sollten, wo einst DDR draufstand. Einerseits wollte man den eigenen Arbeitsplatz behalten. Andererseits interessierte man sich mehr für die Waren aus dem Westen als für das, was man selbst herstellte. Gewählt wurde die CDU, Wahlversprechen inklusive.
Als friedliche Revolutionäre begannen, die DDR umzukrempeln, wurde eine Partei, die damit so gar nichts zu tun hatte, zur mächtigsten Partei im Osten. Plötzlich und unerwartet war sie den Sternen so nah. Ausgerechnet die CDU, die sich gut als SED-nah beschreiben lässt.
"Letztlich war sie eine Mitläuferpartei, die das Gesamtsystem mitgetragen hat, auch ein Ort, wo bestimmte Gruppen, die sonst so ein bisschen außerhalb gestanden hätten, also viele, die in der Kirche engagiert waren, Gewerbetreibende, Reste des alten Bürgertums, wo die parteipolitisch integriert wurden, eben nicht so, dass es eine unabhängige Partei war, sondern auch Teil des gesamten DDR-Regimes gewesen ist", sagt Steffen Mau, Professor für Soziologie an der Berliner Humboldt-Universität. Die Ost-CDU stellte sich einfach hinter die Aushängeschilder der West-CDU. Und im Osten erlahmte das Interesse an den Diskussionen, was man mit dieser DDR ohne Diktatur anfangen könnte.

Der Schwung der Politisierung erlahmt

"Da gab es gar nicht so viel Zeit und auch so viel Möglichkeiten, politisch was Neues zu gestalten. Es war eben auch eine wegrutschende Gesellschaft, die unter einer extrem starken ökonomischen Belastung auch gelitten hat. Es waren ja unglaubliche Flurschäden, die durch die Privatisierungspolitik da erzeugt worden sind. Dadurch ist letztlich auch dieses Aufbruchsmoment des Herbstes 1989 in so eine Lähmung hineingeraten. In den 90er-Jahren hat man sich das alles angeguckt und viele Leute sind dann in so eine Form der Privatisierung hineingegangen. Die haben sich um sich selbst gekümmert, darum, wieder einen Fuß auf den Boden zu bekommen, auch private Projekte verfolgt, sind woanders hingegangen. Also dieses eigentlich positive Politisierungsmoment, das ist ausgebremst worden."
"Die Jugend, also die Leute in meinem Alter, die gerade ihr Abitur gemacht haben, ihren Abschluss, die haben einfach keine Perspektive, um hier zu bleiben. Die, die was draufhaben, die gehen in eine Großstadt, machen dort ihr Zeug, verdienen dort richtig Geld", sagt Florian Mewes und guckt auf seine Stadt mit CDU-Mehrheit in Thüringen.

Die CDU nutzt die Gunst der Stunde konsequent

Christine Lieberknecht blickt auf den historischen Moment: "Die CDU mit Helmut Kohl war die Partei, die den Osten mit der friedlichen Revolution, mit dem Fall der Mauer und dem Drängen der Menschen nach Einheit, in einer Weise verstanden hat, wo das gilt, was schon zu den Gründungserfolgen der CDU damals gehörte: Man muss Identifikationsplattform für den Willen der Menschen sein."
Ob Volkskammerwahl oder Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt: Nur Brandenburg spielte anders. Sonst gab es Erfolge für die Identifikationsplattform CDU – wie ein Flug in unendliche Weiten. Die CDU hob ab –zum Beispiel in Thüringen.
Ach Thüringen. Es war einmal den Sternen nah, so richtig nah, wie man nur sein kann, wenn man in einem Raumschiff um die Erde fliegt. Thüringen hat es geschafft, und keiner hat es gemerkt. Es war dummerweise die Zeit, als eine CDU-Regierung noch fern und der erste Westdeutsche im All ein freiwilliger Schwabe war, obwohl er in Thüringen geboren wurde: Ulf Merbold. Nach dem Abitur hat er die DDR verlassen – letzten Endes, um Astronaut zu werden.
Ulf Merbold stammt aus Greiz in Thüringen, was niemand außerhalb von Greiz weiß, höchstens Wikipedia. Greiz hatte einmal fast 40.000 Einwohner. Heute gerade noch die Hälfte. Im Landkreis regiert die CDU – noch. Das Land Thüringen ist für die CDU kein Erfolgsmodell mehr.
"Man ist hier auf jeden Fall schon mit wenig zufrieden, ja, ja, genau", meint Florian Mewes aus Greiz. Der Flug zu den Sternen endete unsanft. "Wir sind hier in Greiz auf den Westernhagen-Platz auf dem Spielplatz."
Wer mit dem Zug in Greiz ankommt, muss einen Bogen um das Bahnhofsgebäude machen. Das ist verkauft – an einen Pornoproduzenten, wie die Greizer entsetzt-lustvoll raunen. Was man so träumt, wenn die unendlichen Weiten Geschichte sind und die reale Fantasie nicht mehr so weit reicht. Im Landkreis Greiz ist die Welt der CDU noch in Ordnung. Knapp 37 Prozent der Wähler stimmten für sie. Es folgt die AfD mit 20,4 Prozent und die Linke mit 12 Prozent. Die SPD liegt bei 8,9 Prozent.
Brücke in der Altstadt von Greiz
In der Altstadt von Greiz: Nach der Wende verließen viele den Ort.© dpa / Hendrik Schmidt
Greiz war einmal eine Arbeiterstadt. Der führende Betrieb hieß VEB Greika Greiz. Die Textilindustrie war hier traditionell angesiedelt – bis 1990. Aus dem VEB Greika wurde die Greika GmbH. Von 6000 Arbeitsplätzen blieben 650 übrig. Statt voller Auftragsbücher gab es Hoffnungen. Ein Investor entpuppte sich als Betrüger. Was Hoffnung war, wurde zur Gesamtvollstreckung. Die Geschichte der Textilindustrie in Greiz endete am 1. April 1997.
Einst hieß es: "Was Greiz gewebt und gefärbt, das hält bis es die Enk’lin erbt." Ob es die "Enk’lin" noch erben will ist eine andere Frage und ob sie dann noch in Greiz wohnt. Doch das ist kein Thüringer Problem. Die Euphorie der friedlichen Revolution ging, als die Massenarbeitslosigkeit in den ostdeutschen Ländern ankam.
Der Soziologe Steffen Mau: "Da haben die Leute natürlich gesagt, wir sind umstellungsbereit – und dass nicht alles so bleiben kann, wie es war, das wissen wir schon. Aber, dass das dann in 70, 80 Prozent der Familien einschlägt, dass sich mehr oder weniger jeder umorientieren muss, dass es auch zu so einer kulturellen Deklassierung kam all dessen, was eben ostdeutsch in irgendeiner Weise kontaminiert war, das haben die Ostdeutschen so nicht erwartet, also auch die Entwertung von Berufsbiografien, die Deklassierung ganzer Generationen, die dann in den Vorruhestand geschoben wurden. Das waren ja über eine Million Menschen: bezogen auf die gesamte Erwerbstätigenbevölkerung in Ostdeutschland eine sehr hohe Zahl. Das haben die Leute nicht so erwartet. Sie haben wahrscheinlich gedacht, es wird Arbeitslosigkeit geben wie im Westen, aber nicht drei Mal so hoch wie im Westen. Und sie haben sicher auch gedacht, dass die wirtschaftliche Erholung schneller kommt."
Der Von-Westernhagen-Platz in Greiz ist einen knappen Kilometer vom Bahnhof entfernt. Ein paar Autos parken. Ein paar Menschen laufen über den Platz. Es ist ein Dienstagnachmittag, die Zeit, die man früher Berufsverkehr nannte.
"Es liegt halt daran, weil Greiz ein strukturelles Problem hat. Weil immer mehr Abitur machen und dann wegmachen. Und die halt nichts machen, wo auch nie was richtig wird, die bleiben dann auch hier. Und wenn sie in Greiz nichts werden, werden sie woanders auch nichts."

Florian Mewes geht in die zwölfte Klasse eines beruflichen Gymnasiums. Er engagiert sich in der Jungen Union in Greiz. Dass er etwas beklagt, was auch die CDU zu verantworten hat, stört ihn nicht. Er ist achtzehn.
"Angefangen hat alles vor acht Jahren. Da war ich das erste Mal Klassensprecher und habe so gemerkt, wie cool das ist, Verantwortung zu übernehmen für andere und auch die Meinung von anderen zu repräsentieren. Und dann wurde ich in der neunten Klasse Schülersprecher. Dann hatte ich einen Tag Schnupperkurs bei der Jungen Union hier in Greiz. Und dann dachte ich, hier fühlst du dich gleich wohl."
Jugendliche gehen weg, weil Zukunftsaussichten fehlen und Greiz keine Stadt ist, die junge Menschen halten kann. Die Junge Union in Greiz soll immerhin ungefähr 40 Mitglieder haben. Zu ihren Treffen kommen höchstens zehn. Oder Florian Mewes, der stellvertretende Vorsitzende der JU Greiz, ist auch einmal allein. Die Parteien in Ostdeutschland haben nicht so viele Mitglieder. Und die Bindung der Wähler an Parteien ist fragiler als im Westen. Das Misstrauen gegenüber Parteien ist groß und eine Folge der Erfahrungen aus der DDR. In den Jahren danach wurde das Misstrauen nicht weniger.
Eine Arbeiterin wechselt Spulen in der Kammgarnweberei Greika in Greiz
Die Kammgarnweberei Greika in Greiz 1992 - kurz vor der Privatisierung.© dpa / Jan-Peter Kasper
Christine Lieberknecht, ehemalige Ministerpräsidentin von Thüringen: "Da gab es dann Ostdeutsche, die sind in die innere Emigration gegangen, weil sie gesehen haben: Oh, jetzt habe ich Vorgesetzte, die sind jetzt auch nicht wirklich up to date. Da gab es auch Menschen, die ihren eigenen Vorteil gesucht haben, natürlich. Dann diese Debatten um die berühmt-berüchtigte Buschzulage, dass man sich hat alles extra noch mal vergolden lassen, während die Ostdeutschen in der Regel Klassen tiefer eingestellt waren, weil die ganzen Beförderungskriterien auf Voraussetzungen beruhten, die die Ostdeutschen zunächst mal nicht mitbringen konnten. Da gab es natürlich schon Verwerfungen. Aber das laste ich nicht zuvorderst den Parteien an, sondern das war dann einfach westlich Verwaltungspraxis, mit der man auch den Osten überzogen hat. Es gab durchaus Tendenzen, es anders zu wollen."

Der Elitetransfer und die Folgen

In den 1990er-Jahren fand tatsächlich ein Elitetransfer von West nach Ost statt – in Wirtschaft, Medien und Verwaltung waren führende Stellen zu besetzen. Nicht nur diese Stellen lockten Westdeutsche an. Auch politische Aufgaben im Osten waren zu vergeben. Kurt Biedenkopf, einst Generalsekretär der CDU-West, und Bernhard Vogel, einst Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, wurden Ministerpräsidenten von Sachsen beziehungsweise Thüringen.
"Mit Bernhard Vogel kam ein erfahrener Politiker nach Thüringen, der sehr schnell diese Vorbehalte abbauen konnte, weil er sich wirklich für die Menschen im Lande interessierte, weil er sehr schnell auch ein Landesvater-Image entwickeln konnte, vor allem, weil er auch bei der schwierigen Wahl 1994, wo die CDU ja auch verloren hatte gegenüber der Wahl von 1990, aber trotzdem eine Koalition mit den Sozialdemokraten eingehen konnte und aus dieser CDU-SPD-Regierungszeit heraus von 51 Prozent der Thüringerinnen und Thüringern dann die Zustimmung fand."

Die negative Seite der Landesväter

Die "Landesväter" wurden gern angenommen – und die fühlten sich wohl in ihrer Rolle. Sie haben einiges bewegt, aber auch einiges übertüncht. Sachsen seien nicht anfällig für Rechtsradikalismus, behauptete etwa Kurt Biedenkopf immer wieder. Er hat sich gründlich geirrt.
Bundesparteitag der CDU 2001: Der sächsiche Ministerpräsident Kurt Biedenkopf im Gespraech mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel.
Bundesparteitag der CDU 2001: Der sächsiche Ministerpräsident Kurt Biedenkopf im Gespräch mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel.© picture-alliance
Der Soziologe Steffen Mau, Autor des Buches "Lütten-Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft": "Man hat eigentlich durch diese überparteiliche Rolle dieser Spitzenpolitiker nicht mehr wirklich eine politisch handfeste Konfliktstruktur entwickeln können, die auch Ostdeutschland selber in Hinblick auf die Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft, einer demokratischen Kultur und Sonstigem wichtig gewesen wäre. Das hat man viel zu wenig berücksichtigt. Sondern man hatte dann so freischwebende Personen, die vieles geregelt haben, die gesagt haben: Wir sind doch gar nicht so schlecht, wir Sachsen, und überhaupt das beste Land. Oder wir Thüringer. Das hat damals als politische Programmatik offensichtlich ausgereicht, um sich eine ganze Menge Wählerstimmen zu sichern. Die langfristigen Folgeeffekte, die kann man heute eben beobachten. Das ist die fehlende politische Kultur vor Ort. Es wäre falsch zu sagen, dass es sie nicht gibt. Aber sie ist doch mit Problemen behaftet."
"Die Aufgabe des Aufbruchs war so gigantisch, diese Transformationsprozesse, dass es für jemandem, der vorher ja nie in Regierungsverantwortung war, einfach auch eine Frage der Ressourcen war, eine Frage auch der multikomplexen Problembewältigung, wo nicht jeder standgehalten hat. Das war jetzt nicht vordringlich eine Frage von Ost-West, sondern das war einfach eine Frage auch der Aufgabenlast, die einen Menschen auch erdrücken konnte."

Wie konfliktreich ist die CDU-Ost-West-Beziehung?

Christine Lieberknecht kommt mit dem Bus zum Interview nach Weimar. Sie war die erste Ministerpräsidentin in den ostdeutschen Bundesländern und bundesweit die erste von der CDU.
"Ich bin gestartet als Theologin und wenn man so will als Dorfpastorin. Und was ich als Dorfpastorin erreicht habe, ist schon entgegen alle nur annehmbaren Vorstellungen. Erste CDU-Ministerpräsidentin zu sein, das war alles schon sensationell." – "Ihre Kanzel wurde immer größer." – "Ja, das ist ein schönes Bild. Ich habe in allen Funktionen mich auch an meinen früheren Beruf erinnert gefühlt, weil: Sie haben es ja immer mit Menschen zu tun."

Mit Menschen und mit Parteifreunden. Die Ost-CDU musste sich auf die West-CDU einlassen. Christine Lieberknecht will die Konflikte, die zwischen ostdeutschen Landesverbänden und der Bundes-CDU immer wieder mal bestehen, nicht vergrößern. Verschweigen will sie die Konflikte auch nicht – dafür sind sie zu offensichtlich. Zum Beispiel die Rote-Socken-Kampagne mit der die CDU im Wahlkampf Angst vor einem rot-roten Bündnis schürte.
"Speziell für den Osten war es zu plakativ und hat auch den Empfindungen vieler Menschen, die ja auch ambivalent sind, natürlich gab es Opfer des SED-Regimes, da hat es vielleicht durchaus gewirkt, auch mit Recht aus deren Perspektive: Unüberbrückbarkeiten. Aber es geht ja um eine Mehrheit der Menschen. Und eine Mehrheit der Menschen hat auch SED-Mitglieder sehr ambivalent erlebt, bis dahin, dass auch SED-Mitglieder persönlich ambivalent waren."
Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) 2014.
Die CDU-Politikerin Christine Lieberknecht war von 2009 bis 2014 Ministerpräsidentin von Thüringen. © dpa / Martin Schutt

Die Interessen der ostdeutschen Landesverbände

Lange Zeit hat sich die CDU geweigert, einen Mindestlohn einzuführen. Auch als der schon in einigen europäischen Ländern Realität war, behauptete die Union, er wäre gefährlich für die Wirtschaft und den Wettbewerb. Christine Lieberknecht war die erste prominente CDU-Politikerin, die zu den Mindestlohnbefürwortern wechselte. In der CDU-Zentrale war kein Beifall zu vernehmen.
"Ich hatte nur in Thüringen die reale Situation, dass in Thüringen lange Zeit von der Lohnentwicklung her sehr niedrige Löhne gezahlt wurden, und von daher Mindestlohn durchaus zwar nicht wirklich zufriedenstellend, aber zumindest ein unteres Level, unter das es nicht gehen darf, fixiert. Und das ist gelungen. Und von daher sage ich: Ja, es gab Lernprozesse. Ich weiß noch, die ersten Diskussionen auf Bundesebene, da war meine Partei alles andere als amüsiert, dass die Initiative jetzt von Thüringen kam, mit mir als Landesvorsitzende der CDU und Ministerpräsidentin. Aber da müssen sie auch mal durch."
Da müssen sie durch – auch dann, wenn ostdeutsche Landesverbände sich gegen Russland-Sanktionen wehren, die westdeutsche Landesverbände manchmal fordern. Die Interessenlage ist klar: Es geht nicht um Moral, es geht um Wirtschaft. Sanktionen gegen Russland haben eher Auswirkungen auf Sachsen als auf Nordrhein-Westfalen. Und so grummelt es immer wieder in der CDU, wenn es im Osten andere Interessen als im Westen gibt und wenn manche Erfahrung aus der DDR im Westen nichts gilt, zum Beispiel, wenn es um Kinderbetreuung geht. Und dann kommt auch noch die Frage des Umgangs mit der AfD. Es geht um Ideen, um Einfluss, um Macht. Nichts davon ist verwerflich. Aber kann das alle Unterschiede erklären?

Konflikte in der Partei sind keine Ost-West-Frage

Christine Lieberknecht: "Thüringen ist jetzt nicht der Landesverband, der davon sprechen würde, besondere Probleme mit der Bundes-CDU zu haben. Wir sind ein föderales System und die CDU ist eine föderal aufgebaute Partei. Da gibt es immer mal größere Nähen zur Bundes-CDU, wo man sich auch mal durchsetzt."
Christine Lieberknecht ist seit 1981 CDU-Mitglied. 1989 war sie Mitunterzeichnerin eines Briefes, der Veränderungen in der DDR anmahnte. Es ist so ziemlich die einzige Kritik der Ost-CDU an den Verhältnissen in der DDR. Die Parteiführung versuchte sich sogleich in Schadensbegrenzung. Heute müssen Parteiführungen deutlich mehr aushalten.
"Wenn ich sehe, was für Friktionen zwischen Baden-Württemberg und der Bundes-CDU… Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken, dann Fukushima und abrupter Ausstieg, das war auch nicht alles konfliktfrei, das kann man bei weitem nicht sagen. Sie sind immer dann gut angesehen, wenn Sie eine Wahl gewonnen haben, das ist klar. Dann wird gemeinschaftlich gefeiert und es gibt eine große Solidarität im Blick auf Präsenz vor Wahlveranstaltungen beziehungsweise Wahlkämpfen. Es gibt schon Unterschiede zwischen ostdeutschen Landesverbänden, wie sie es auch zwischen westdeutschen Landesverbänden gibt."

Die fatale Wahl in Thüringen

In einem "Appell konservativer Unionspolitiker in Thüringen" wurden "ergebnisoffene Gespräche" mit der AfD gefordert. Monate später wählte die CDU gemeinsam mit der AfD einen Ministerpräsidenten der FDP. Das Echo war verheerend. Hat das niemand vorhergesehen, nicht aus der Thüringer CDU und niemand aus der Berliner CDU-Zentrale? Es war dann auch nicht die Vorsitzende Kramp-Karrenbauer, die sich mit klaren Worten meldete, sondern Kanzlerin Angela Merkel versuchte sich in Schadensbegrenzung, obwohl das gar nicht mehr ihre Baustelle war.
"Im Moment haben die Thüringer Ereignisse erstmal dafür gesorgt, dass deutlich geworden ist, dass das ein Riesensprung ist", sagt Torsten Oppelland. Er ist Politikwissenschaftler an der Friedrich- Schiller- Universität Jena. "Dass derjenige, der mit der AfD auf eine dauerhafte Weise zusammenarbeiten möchte, erhebliche Probleme kriegen würde, erheblichen medialen und politischen Gegenwind, nicht nur im Sinne von Print- und Rundfunkmedien, sondern vom Internet-Shitstorm angefangen bis hin auch zu erheblicher Polemik des politischen Gegners. Da muss man erheblich aushalten und man hat gemerkt, dass man derzeit keinen Rückhalt auf der Bundesebene hat. Und insofern glaube ich, ist das Thema mittelfristig erstmal vom Tisch."

Das Beharrungsvermögen des ostdeutschen Seins

Vielleicht hat die CDU bei ihrer internen Vereinigung dieselben Fehler gemacht, wie beim Zusammenführen von Ost und West. Im Westen sollte sich nichts ändern, der Osten sollte sich einfach einfügen. Hinzu kam ein gewichtiger CDU-Chef und Kanzler, der die kleine Unionsschwester im Osten kritisch besah. Andererseits brauchte er sie, um die Machtbasis seiner Partei in den neuen Ländern zu vergrößern. Vielleicht fing es da an, dass sich manche im Osten nicht ernst genommen fühlten – mit ihrer Biografie, mit ihren Ideen, ihren Leistungen und ihren Hoffnungen – und sich ins Private zurückzogen, wieder einmal. Die wirkmächtigen Debatten, die über den Osten geführt wurden, waren in Wahrheit Schmalspurdiskussionen, verengt auf Kosten, Treuhand und Staatssicherheit. Da erkannten sich viele nicht wieder. Und nicht alle haben das überwunden.
Steffen Mau: "Dieser nationalistische Aufschwung im Zuge des Einheitsprozesses, die ‚Brüder und Schwestern im Osten’ oder die ‚lieben Landsleute’, das hat ja letztendlich ein bisschen übertüncht, dass sich doch eigentlich zwei sehr unterschiedliche Gesellschaften herausgebildet hatten. Und es hat auch die naive Vorstellung befördert, dass, wenn man nur die Institutionen bringt und ein bisschen Wirtschaftswachstum stimulieren kann, dann würde sich eigentlich alles im Osten mehr oder weniger verwestlichen. Man hat eigentlich nicht davon gesprochen, dass Mentalitäten, Kulturen, Orientierung durchaus auch ein Beharrungsvermögen aufweisen und bleiben können."

Nicht mit Links, nicht mit Rechts – und nichts geht mehr

Was nun? Die CDU hat sich einen Unvereinbarkeitsbeschluss verordnet: Keine Zusammenarbeit mit der AfD, keine mit der Linken. Dem Beschluss haben auch die ostdeutschen Landesverbände zugestimmt – offenbar blind für die Konsequenzen. Die CDU-Politikerin Lieberknecht sagt: "Ich halte auch den antitotalitären Grundkonsens für existenziell für eine demokratische Gesellschaft. Ich stehe zu diesem Konsens."
Der Thüringer Politikwissenschaftler Torsten Oppelland fasst das Dilemma so zusammen: "Das hängt alles damit zusammen, dass die AfD in Ostdeutschland so stark ist. Dadurch wird einfach die Mehrheitsbildung schon schwieriger. Schon jetzt hat man ja in mehreren Landtagen im Grunde fast alle demokratischen Parteien zusammenfassen müssen, um die AfD sozusagen draußen zu halten. Wenn man sich hier in Thüringen die letzten Umfragen ansieht, dann kann das durchaus passieren, dass am Ende die FDP rausfällt, es für Rot-Rot-Grün nicht reicht und die CDU und die AfD nicht zusammen wollen, können, dürfen, was auch immer, sodass wir in genau derselben Lage wie im Moment wieder sind. Das heißt, die CDU steht vor der Frage, kooperiert sie mit der AfD oder mit der Linken. Das ist dauerhaft natürlich ein Dilemma, das bisher zumindest noch nicht gelöst ist."

Den Osten gibt es nicht, aber die Oppositionsrolle

Bei Ost-West-Debatten, die in Jubiläumsroutine aufgewärmt werden, wird ein Punkt häufig übersehen: Den Osten gibt es gar nicht. Es gibt gemeinsame Erfahrungen, die die älteren Generationen in den östlichen Bundesländern teilen. Der Blick auf die Unterschiede geht da manchmal verloren. Mancher Unterschied ist darin begründet, ob sich die Partei mit großer Mehrheit als Regierungspartei profilieren konnte oder die Oppositionsbänke drücken musste.
Torsten Oppelland: "Das macht viel aus, denn Regierungsparteien haben es grundsätzlich etwas einfacher, eine langfristige Parteibindung aufzubauen und zu erhalten, auch wenn das nicht immer einfach ist, wie man in Thüringen und Sachsen gesehen hat."
In den neuen Bundesländern ist die Machtbeteiligung der CDU wechselhaft, nur in Sachsen stellt sie seit 1990 den Ministerpräsidenten. Die Thüringer Nachwende-CDU-Geschichte ist eine besondere: "Wir sehen ja, dass die CDU in Thüringen eine Partei war, die zeitweilig absolute Mehrheiten gewonnen hat, einmal sogar absolute Mehrheit der Stimmen, in einem anderen Fall absolute Mehrheit der Mandate – und seit 2009 innerhalb von zehn Jahren diese Stellung komplett verspielt hat."
Aus zwei Ländern ist eines geworden. Aus zwei Parteien eine. Die Kräfteverhältnisse waren schon vorher klar.

Regie: Giuseppe Maio
Redaktion: Constanze Lehmann
Ton: Gunda Herke

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