"Die Mehrheit der Bevölkerung ist sehr deprimiert"

Petros Markaris im Gespräch mit Andreas Müller |
Der drohende Staatsbankrott Griechenlands macht sich im Alltag der Griechen bemerkbar, sagt der Schriftsteller Petros Markaris: "Die Mehrheit der Bevölkerung ist sehr deprimiert, hat große Angst und ist total verunsichert". Die Leute hielten ihr Geld zusammen und gingen nicht mehr einkaufen. "Sogar die Supermärkte merken das schon".
Andreas Müller: Griechenlands Finanzlage ist dramatisch. Am vergangenen Freitag hat das Land Finanzhilfen vom Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union beantragt. In Deutschland ist die Hilfe für Griechenland umstritten. Alte Ressentiments brechen hervor, von den faulen und korrupten Südländern ist plötzlich die Rede. Das Massenblatt "Bild"-Zeitung fährt eine regelrechte antigriechische Kampagne. Derweil steigen die Risikoprämien für griechische Staatsanleihen nahezu stündlich, die Aktienkurse der Athener Börse hingegen befinden sich im Sinkflug. Wie lebt es sich vor der Drohkulisse des Staatsbankrotts? Das will ich den griechischen Schriftsteller Petros Markaris fragen. Schönen guten Tag!

Petros Markaris: Guten Tag!

Müller: Wie ist die Stimmung im Land, macht sich die Krise im Alltag bereits bemerkbar?

Markaris: Ja, und die Bevölkerung ist verworren und auch sehr deprimiert. Sie hat große Angst bekommen und ist sehr pessimistisch.

Müller: Pessimistisch. Spürt man denn schon etwas von den Sparmaßnahmen, die die Regierung ja angekündigt hat?

Markaris: Es gab letzten Sonntag in einer Sonntagszeitung eine Publikumsumfrage, und sagen wir, 91 Prozent der befragten Griechen haben gesagt, die Maßnahmen, die bis jetzt getroffen wurden, sind nicht hart genug.

Müller: Sind nicht hart genug?

Markaris: Ja. Das wird vielleicht die Deutschen wundern, aber so ist es.

Müller: Also 91 Prozent der Menschen sagen, die Maßnahmen sind nicht hart genug, wir sehen aber in den Fernsehnachrichten protestierende und streikende Griechen. Was sind denn das dann für Leute?

Markaris: Ja, also da gibt es ein großes Missverständnis. Es gibt eine kleine, aber sehr kämpferische und kampflustige und aggressive Minderheit, die rund um die Gewerkschaften organisiert ist, und die macht großen Lärm, protestiert, demonstriert. Aber die große Mehrheit der Bevölkerung nimmt daran gar nicht teil. Der große Teil, also die Mehrheit der Bevölkerung, ist sehr deprimiert, hat große Angst und ist total verunsichert. Das ist die Wahrheit.

Müller: Nun ist es dann ja wieder fast bezeichnend, dass offensichtlich die Medien genau das nur herauspicken und das zeigen, berichten ...

Markaris: Leider so ist es.

Müller: Also es ist nicht repräsentativ, was wir hier in Deutschland zum Beispiel sehen?

Markaris: Ja, das verstehe ich, also die Griechen sehen das auch, aber weil wenn man in Griechenland lebt, weiß man, dass bereits, sagen wir, die Krise sich stark bemerkbar macht. Zum Beispiel sind die Läden ganz leer, also während der Osternzeit gab es einen Rückgang im Geschäft so um die 45 Prozent.

Müller: Weil die Leute jetzt schon das Geld zusammenhalten ...

Markaris: Ja ...

Müller: ... oder wie erklärt sich das?

Markaris: Weil die Leute verunsichert sind, das Geld zusammenhalten, nicht einkaufen gehen, sogar die Supermärkte merken das schon.

Müller: Nun haben wir ja ich sage mal ein sehr klischeebelastetes Bild von den Griechen, die eigentlich ja immer doch optimistisch sind, die eigentlich immer glauben, na irgendwie wird es schon gehen, nicht wahr. Man trinkt erst mal einen Kaffee und dann sieht man weiter, dann ist vielleicht die Situation eine bessere. Ist das gar nicht mehr vorhanden?

Markaris: Teilweise ist das schon wahr. Also die Griechen brauchen Zeit, um zu merken, dass es so nicht weitergehen kann. Dazu haben sie so ungefähr vier Monate gebraucht, sagen wir von November bis April ungefähr, um dessen bewusst zu sein, dass diese Situation einfach, wenn es so weitergeht, total aussichtslos ist. Jetzt aber haben sie wohl gemerkt und verstanden, dass es so nicht weitergehen kann und darf.

Müller: Ist es eigentlich so, dass man die Furcht vor diesem Staatsbankrott, der da droht, spürt, oder ist das eigentlich viel zu abstrakt, weiß man eigentlich gar nicht, was ist das überhaupt, ein Staatsbankrott, und wie wird er sich auf mein Leben auswirken?

Markaris: Ich kann nur so weit das erklären, indem ich Ihnen sage, alle Griechen, die, sagen wir, ein Sparkonto haben, Angst bekommen haben, dass die, wenn es zu einem Staatsbankrott kommen sollte, dass ihre, sagen wir, Ersparnisse einfach weg sind.

Müller: Ich habe eben von diesen Ressentiments gesprochen, die jetzt plötzlich aufbrechen. Es gibt dann mitunter fast schon antigriechisches Gebrüll in der ein oder anderen deutschen Zeitung. Wie reagieren die Griechen auf diese Vorwürfe - Griechen sind korrupt, sie können nicht mit Geld umgehen – wie kommen diese, ja, ich sage mal Beschimpfungen an?

Markaris: Ja, also die Griechen sind, ja, sagen wir, bitter den Deutschen gegenüber, nicht weil es teilweise die Wahrheit ist, es gibt eine starke Korruption in Griechenland, das, sagen wir, verneinen nicht mal die Griechen. Nur dass es nicht so ist, dass alle Griechen korrupt wären. Wissen Sie, Korruption ist ein Verbrechen, und für ein Verbrechen braucht man Täter und Opfer. Und Opfer sind die Griechen.

Müller: Nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Ländern wird über die Finanzhilfen gestritten. Bei uns besonders laut, in den anderen europäischen Ländern nicht ganz so laut. Wie erlebt man das bei Ihnen, dieses Schachern über Ihre ja ganz persönliche Zukunft? Da sitzt fast ein ganz Kontinent, ich will nicht sagen zu Gericht, aber er sitzt doch da und redet über die Frage, wie soll es weitergehen mit Griechenland. Wie fühlt sich das an?

Markaris: Das finden die Griechen zutiefst peinlich, das wollen sie nicht haben. Aber andererseits sagen sie, wenn das nicht passiert, dann sind wir verloren.

Müller: Wie lebt es sich im Griechenland der Krise, darüber spreche ich im Deutschlandradio Kultur mit dem Schriftsteller Petros Markaris. Wir haben es gerade schon so ein bisschen angedeutet: Man möchte doch die Sparmaßnahmen noch intensiver haben, man sieht sich einerseits aber auch als Opfer – gibt es auch Selbstkritik bei den Griechen, dass man sagt, also wir haben da doch an der einen oder anderen Stelle oder vielleicht auch sehr weitflächig etwas falsch gemacht?

Markaris: Die Kritik fällt also sehr stark auf die Politiker. Die Griechen sagen, sie haben nicht unrecht, dass die Politiker alles seit 1981 bis jetzt falsch gemacht haben. Na ja, die Griechen haben ja von der EWG und auch von der EU enorme Subventionen bekommen, und die Griechen haben das Geld einfach vergeudet, verschwendet, das muss man ganz offen sagen. Es hat keinen Sinn, wenn man das zu verstecken versucht.

Müller: Aber wird dieser Fakt debattiert im Land, oder? Sie sagen das jetzt, aber ist das ...

Markaris: Ja, es wird ganz offen jetzt debattiert, aber erst im Nachhinein. Man hätte das schon am Anfang darüber debattieren sollen, jetzt ist es zu spät. Jetzt sagt man das ganz offen, aber was passiert ist, lässt sich nicht zurücknehmen.

Müller: Gut, Selbstkritik, darunter verstehe ich dann vielleicht noch ein bisschen was anderes, als die Kritik jetzt auf die Politiker sozusagen zu richten. Ich meine, in einem Land, das durchaus Korruption kennt, gibt es ja auch immer denjenigen, der mittut bei der Korruption. Also insofern ...

Markaris: Es gibt diejenigen, die mittun bei der Korruption, aber es gibt auch Opfer. Es gibt ja einen Teil der Bevölkerung, die all diese Jahre auch gut gearbeitet hat und sich immer bemüht hat. Das ist dieser Teil, der auch die Steuer zahlt und auch sagen wir jetzt die größere Last übernehmen wird. Und dieser Teil ist nicht daran schuld.

Müller: Es gibt eine gewaltige Schere, es gibt einige sehr, sehr Reiche im Land ...

Markaris: Eben.

Müller: ... es gibt aber viele Menschen, die von ja wenigen Hundert Euro im Monat leben müssen, obwohl die auch einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Ist diese Krise etwas völlig Neues, oder wenn man das mal vergleicht mit der Situation vor 30 Jahren, wie sah es da im Land aus?

Markaris: Es ist die Schlimmste, die wir jetzt erleben. Neu ist sie nicht, denn 1985 hatten wir eine andere Krise, noch eine solche finanzielle Krise, die war nicht so schlimm wie die heutige. Die haben wir überwunden mit einigen Mitteln. Und damals war ja ...

Müller: Da gab es auch noch keinen Euro.

Markaris: Bitte?

Müller: Da gab es auch noch keinen Euro. Da könnte man die Drachme abwerten und ...

Markaris: Man hat die Drachme nicht abgewertet, aber hat sehr starke Sparmaßnahmen eingeführt. Damals war ja Finanzminister der spätere Premierminister, Costas Simitis. Und der hat dann sehr starke Maßnahmen und sehr strenge Maßnahmen ergriffen und die Krise überwunden. Aber jetzt ist die Krise wieder da. Und ich glaube, die Krise, wenn Sie mich persönlich fragen, ist die Krise ein Symptom und nicht die Ursache. Die Ursache ist, dass die Griechen mit dem Geld schlecht umgehen können.

Müller: Gibt es eigentlich Kräfte, die für einen Aufbruch in eine bessere Zeit stehen, die ein neues Griechenland formen könnten?

Markaris: Es gibt Kräfte, die da bereit wären, mitzumachen und auch die strengen Maßnahmen auf sich zu nehmen, damit das Land eine bessere Zukunft bekommt. Inwiefern aber die Elite dieses Landes dessen bewusst ist, das weiß ich nicht.

Müller: Was sind das für Leute? Sind das Politiker oder sind das ...

Markaris: Das sind teilweise Unternehmer, es sind teilweise auch sagen wir Leute, die im Geschäft arbeiten, so mittlere Geschäfte und mittlere Unternehmer, die wirklich gut arbeiten wollen, die im Land bleiben und weitermachen wollen. Und das ist ein ganz, sagen wir, wenn nicht die Mehrheit, ein ganz großer Teil der Bevölkerung, und mit dem ließe es das machen, aber ich weiß nicht, ob die Elite und ich meine auch die politische Elite fähig ist, damit umzugehen.

Müller: Was glauben Sie, Herr Markaris, die nächsten Jahre, die werden auf jeden Fall hart für die Griechen, aber sind die Griechen bereit für diese harten Jahre, die vor ihnen liegen?

Markaris: Sie haben keine Alternative. Sie haben ja keine Alternative, was sollen sie sonst machen? Entweder müssen sie diese harte Zeit – die wird lang dauern – durchmachen und überleben, oder sie gehen einfach pleite, und das ist viel schlimmer.

Müller: Braucht es so etwas wie einen Mentalitätswechsel in Griechenland, um, ja, wirklich dauerhaft aus der Krise herauszukommen?

Markaris: Ja, man braucht einen Mentalitätswechsel. Ohne Mentalitätswechsel wird es nicht gehen. Und es ist leider auch traurig zu sehen, dass dieser Mentalitätswechsel erst durch solche sagen wir sehr harte Maßnahmen zustande kommen kann.

Müller: Das war der Schriftsteller Petros Markaris zum Leben in Griechenland der Krise. Haben Sie vielen Dank!

Markaris: Bitte schön!