"Die meisten Stalker sind Wiederholungstäter"

Jens Hoffmann im Gespräch mit Joachim Scholl |
Viele Gewaltverbrechen nach gescheiterten Beziehungen gehen auf Stalking zurück, sagt der Kriminalpsychologe Jens Hoffmann. Er plädiert dafür, auch in Deutschland Zentren einzurichten, in denen die Verfolger "wirklich systematisch" therapiert werden.
Joachim Scholl: Stalking – 30.000 Fälle sind es, die jährlich in Deutschland zur Anzeige gebracht werden, die Dunkelziffer soll weitaus höher liegen. Juristisch kann man gegen Menschen, die andere Menschen permanent verfolgen, belästigen, inzwischen vorgehen. Genauso wichtig ist aber auch die medizinisch-psychologische Behandlung der Täter. In London gibt es jetzt ein spezielles klinisches Zentrum für Stalker und Gerichte in England und Wales können dort auch Stalker zwangsweise einweisen lassen. Was damit erreicht werden soll, hat der Leiter der neuen Einrichtung, Frank Farnham, gegenüber der BBC so erklärt:

Frank Farnham: Wir glauben, dass wir Leben retten können. Wir wissen, dass Stalker in recht großem Umfang rückfällig werden, wenn man sie nicht behandelt. Wir wissen zum Beispiel, dass 75 Prozent der Frauen, die von ihren Ex-Partnern ermordet werden, in den Wochen und Monaten vor dem Mord über Stalking durch ihre Ex-Partner geklagt haben. Wir wissen, dass bis zu 20 Prozent der Frauen und zehn Prozent der Männer darüber klagen, dass sie mindestens einmal im Leben einem solchen Verhalten ausgesetzt waren. Und bisher gibt es einfach keine wirklich wirkungsvollen Eingriffsmöglichkeiten für dieses Problem.

Scholl: Frank Farnham war das, Leiter eines jetzt frisch eingerichteten Zentrums in London, wo speziell Stalker behandelt werden. Ich bin jetzt mit Jens Hoffmann verbunden. Als Kriminalpsychologe beschäftigt er sich mit dem Phänomen, er leitet das Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt, guten Tag, Herr Hoffmann!

Jens Hoffmann: Guten Tag!

Scholl: Eine Klinik für Stalker, die per Gerichtsbeschluss dort zwangsweise eingewiesen werden können: Jedes Stalking-Opfer wird diesen Schritt begrüßen. – Sie auch?

Hoffmann: Ja, absolut. Ich denke, wie auch Frank Farnham gesagt hat, der Kollege aus England, dass das doch eine Möglichkeit bietet, präventiv tätig zu werden, weil viele Stalker Wiederholungstäter sind, und dass man so eben auch Möglichkeiten schaffen kann, dieses Verhalten nicht in allen Fällen, aber vielleicht doch in einer Mehrzahl der Fälle zu stoppen.

Scholl: Wie geht man denn in Deutschland aus medizinisch-psychologischer Sicht bislang mit Stalkern um? Gibt es hier Einrichtungen, Anlaufstellen, die sich darauf spezialisiert haben?

Hoffmann: Das beginnt glücklicherweise gerade. Also, nicht jeder Stalker ist psychisch krank in einem wirklich engeren Krankheitssinne, aber es sind doch alle emotional labil, häufig auch in einer krisenhaften Situation. Also, die meisten Stalker sind gerade keine kalten Monster, sondern sind sehr unglückliche, verzweifelte, zerrissene Menschen.

Und was wir sehen: Es gibt langsam, vereinzelt auch Gruppen, Fachleute, meistens aus dem pädagogischen Bereich, die Täterarbeit machen, die mit häuslichen Gewalttätern arbeiten und die jetzt auch versuchen, mit dem Thema Stalking vorzugehen. Beispielsweise in Hamburg oder auch in Berlin. Wobei es auch wichtig ist - da muss man aufpassen, dass es auch wirklich professionell gemacht ist. Weil, gut gemeint kann gerade in solchen Fällen auch nach hinten losgehen, weil man dann Stalkern noch eine Rechtfertigung, wenn man sie praktisch in ihrer Opferhaltung unterstützt, geben kann und sich das Stalking dadurch vielleicht sogar auch noch weiter verfestigt.

Scholl: Ist Stalking eigentlich eine definierte Krankheit?

Hoffmann: Nein, Stalking ist gerade keine definierte Krankheit, sondern Stalking ist sozusagen eine Beschreibung oder ein Begriff für ein, ja, ein belästigendes, grenzverletzendes Verhalten, das längere Zeit andauert, das wiederholt auftritt. Es kann ganz verschiedene Verhaltensweisen geben, von Anrufen, vor der Tür stehen bis auch zu körperlicher Gewalt. Und es ist manchmal – aber wahrscheinlich nur in geringer Anzahl – mit schweren psychischen Krankheiten verknüpft.

Scholl: Aber wie behandelt man denn Stalker dann überhaupt, die sich ja dann wahrscheinlich gar nicht als Patienten empfinden und von sich aus ja keine Einrichtung aufsuchen?

Hoffmann: Genau, das ist der springende Punkt. Also, Stalker schlagen schon mal irgendwo auf, das haben wir auch in einer Studie herausgefunden oder auch in Gesprächen mit Stalkern, weil die wirklich sehr unglücklich, sehr zerrissen sind. Und dann gehen die auch mal zum Hausarzt, zum Therapeuten, und sagen, ich bin so depressiv, ich wurde zurückgewiesen, meine Freundin, meine Frau hat mich verlassen.

Wenn es aber um das Eigentliche geht, nämlich, dass sie Verhalten zeigen praktisch, dass sie andere belästigen, bedrohen und verfolgen, dann kommt man zu einem Punkt, wo eben wirklich jeder Stalker und jede Stalkerin sagt, ich bin eigentlich das Opfer. Das heißt, die haben eine Realitätsverzerrung – das hat mit ihrer frühen Kindheit zu tun – um das Thema und sie sehen eigentlich sich als Opfer, sodass man wirklich an einer Therapie, die langfristig, die ans Eingemachte geht nämlich, dass man da häufig einen äußeren Druck braucht, damit das überhaupt funktioniert.

Scholl: Gibt es denn ein bestimmtes durchgängiges Täterprofil?

Hoffmann: Nein. Also, wir haben … Die Mehrzahl sind Männer, aber es gibt natürlich auch Frauen, die Stalking-Verhalten zeigen. Wir haben das in allen Altersgruppen, es gibt eigentlich kein eindeutiges Profil. Das sind jetzt auch nicht Leute, die unbedingt generell gewalttätig sind, sondern die wenigsten sind das, sondern eher sogar auch Leute dabei, viele von ihnen, die sozial noch ganz gut auch eingepasst sind.

Scholl: Stalking. – Wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Kriminalpsychologen Jens Hoffmann. Seit 2007, Herr Hoffmann, gibt es in Deutschland den Paragrafen 238, der die sogenannte Nachstellung unter Strafe stellt. Also, Täter müssen bis zu drei Jahren Haft, in schweren Fällen sogar mit fünf Jahren Haft rechnen. Wie viele Verurteilungen gab es eigentlich bislang in Sachen Stalking?

Hoffmann: Also, die Wirkung des Straftatbestandes ist eher eine indirekte. Was sich gezeigt hat, ist, dass das Gesetz häufig gewissermaßen dann nicht zu einer Verurteilung führt, weil da drin steht, dass das Opfer gewissermaßen massiv in dem Leben eingeschränkt sein muss. Das heißt, vielfach ist es so, wenn das Opfer nicht wegzieht, nicht den Arbeitsplatz wechselt, wird diese Bedingung nicht erfüllt. Und das ist eben sehr bedauerlich, sodass die Verurteilungen relativ gering sind.

Aber ich denke, was sich zeigt, ist, dass durch das Gesetz Betroffene viel schneller Hilfe praktisch erbitten und dass sie auch schneller zur Polizei gehen und die Polizei schneller auch eine Grenze zieht. Und das funktioniert in vielen Fällen. Es ist nämlich wichtig auch, eine Grenze zu ziehen, praktisch nicht nur für das Opfer selbst, das kann das ja gar nicht, sondern von offiziellen Stellen.

Der zweite Effekt mit dem Thema Therapie von Stalkern ist, dass es einen, ja, auch einen zunehmenden Trend dazu gibt, dass auch dann Richter sagen, wenn es tatsächlich auch zu einem Verfahren, einer Verurteilung kommt, und das ist auch der Schlüssel, dass sie sagen: Hör zu, entweder du machst eine Therapie, oder die Strafe kommt. Und dieser Druck gewissermaßen von außen, der ist eben sehr wichtig und sehr hilfreich, um Stalker in Therapie zu bringen.

Scholl: Da gibt es also auch schon, ja, Statistiken, Erkenntnisse, dass sozusagen diese Drohung mit Gefängnis, die bringt sie gewissermaßen auf diese Vernunft, dass sie sagen, ja, ich lasse mich behandeln?

Hoffmann: Genau. Also, das ist ein Effekt, den wir sehen nicht nur in Deutschland, auch in anderen Ländern, der nicht bei allen Stalkern funktioniert, aber doch bei vielen. Wichtig ist, dass man dann auch hinterher ist, also, wenn er nicht in die Behandlung geht, dass das dem Gericht zurückgemeldet wird und dann eben entsprechend auch praktisch doch die Strafe ausgeführt wird.

Scholl: Was würden Sie denn einem Stalking-Opfer raten als erster Schritt, wenn also hier das wirklich so pathologische Züge annimmt?

Hoffmann: Auf jeden Fall in eine Beratungsstelle gehen. Das ist ganz wichtig. Da gibt es inzwischen in den meisten Orten in Deutschland auch kompetente Beratungsstellen, Frauenberatungsstellen beispielsweise, auch polizeiliche Beratungsstellen an manchen Orten, dass man da fragt. Der Weiße Ring bietet da auch viel an, die Opferschutz-Organisation, dass man sich erst mal wirklich in dem Fall gemeinsam beraten lässt, beleuchtet, was ist die richtige Strategie.

Scholl: Kommen wir noch mal zurück auf diese klinische Einrichtung, die Frank Farnham jetzt in London leitet, seit Dezember ist sie in Betrieb. Sie sind in Kontakt mit Frank Farnham, Herr Hoffmann, und Sie kennen sich. Ja, inwieweit haben Sie Kontakte oder könnte man also von dieser Einrichtung was lernen?

Hoffmann: Ich denke, wir können da sehr viel lernen, auch wenn die Gesetzlage in England vielleicht eine andere ist. Es gibt ja ein großes Vorbild schon – und daran haben sich jetzt auch die Engländer orientiert – in Australien, eine Stalker-Klinik schon seit einigen Jahren. Und früher dachte man, Stalking, da kann man eigentlich therapeutisch nichts machen, weil die gerade die Realitätsverzerrung haben und keine Einsicht haben. Mit der Zeit ist man aber doch dann zuversichtlicher geworden und hat eben Konzepte entwickelt und aufbauend auf diese Konzepte - und Frank Farnham arbeitet auch eng mit Paul Mullen, dem australischen Kollegen, zusammen - hat man das praktisch auf die englische Situation adaptiert.

Und ich denke, das wäre toll, wenn wir so was auch in Deutschland machen könnten. Es gibt nämlich noch viel zu wenig wirklich kompetente Einrichtungen, die wissen, wie man mit Stalking umgeht und mit Stalkern umgeht, sie therapiert, die das auch wirklich systematisch machen mit einem richtigen Konzept und nicht so vor sich hinwurschteln. Weil, dann kann man das Ganze nämlich auch schlimmer machen.

Scholl: Ist denn Stalking dann in diesem Sinne überhaupt heilbar?

Hoffmann: Ja, also, vielleicht mal, was dahintersteckt: Stalker kommen nicht aus Familien, die besonders viel Gewalt - oder so etwas - Erfahrung mit sich bringen, sondern, was wir herausgefunden haben, ist, dass Stalker häufig in ihrer Kindheit eine Trennungserfahrung haben, beispielsweise von den Großeltern, oder eher kühle Eltern hatten und so das Thema Zurückweisung, Trennung, Auseinandergehen, was ja für jeden Menschen nicht leicht ist, praktisch bei ihnen sozusagen ganz alte Sachen triggert, die sie mit dieser Realitätsverzerrung – ich bin eigentlich das Opfer, die Frau will das doch eigentlich – praktisch abwehren.

Und durch die Therapie – und das braucht eben auch einige Zeit, Monate bis ein Jahr mindestens, eine solche Therapie – ist es dann auch möglich, sozusagen dann schrittweise Einsicht zu bekommen, was einen eigentlich umtreibt, was sonst so eher im Unbewussten bleibt. Und das ist eben dann auch ein Punkt, an dem Therapie ansetzen kann, verknüpft zum Beispiel mit einer Behandlung von depressiven Anteilen, die dabei sind, oder eben auch mit, ja, eine Alternative aufbauen, wie Stalker auch mit solchen Konflikten, mit solchen Krisen umgehen können.

Scholl: Sie sagten jetzt, dass Stalker gemeinhin oder nach Ihrer Erkenntnis jetzt nicht unbedingt aus Familien kommen, die zu Gewalt neigen. Wir haben vorhin Frank Farnham gehört, der also wirklich ganz deutlich gesagt hat, wir hoffen, damit Leben zu retten, drei Viertel aller Frauen, die von ihren Ex-Ehemännern oder -Geliebten ermordet werden, sind eigentlich Stalking-Opfer. Gibt es denn in Deutschland auch Erkenntnisse darüber, dass also solche Gewalt-Tragödien durchaus auch einen Stalking-Hintergrund haben?

Hoffmann: Absolut. Sie haben … meine Kollegin Justine Glaz-Ocik, wir haben eine Studie gemacht und wir haben 70 Fälle in Deutschland ausgewertet, in denen Frauen von ihren Männern oder Ex-Partnern umgebracht wurden, und wir haben genau die gleiche Rate, die jetzt in England berichtet wurde von Stalking-Fällen im Vorfeld, gefunden. Sodass tatsächlich auch diese Behandlung, diese Intervention, das ist natürlich nicht praktisch entweder Polizei oder Behandlung, sondern meistens muss das gerade zusammengehen, dass das wirklich ein Potenzial hat auch, Leben zu retten.

Und was wir auch wissen: Die meisten Stalker sind – in Anführungszeichen – Wiederholungstäter. Wenn sie in eine gleiche Situation kommen, wird das Alte wieder getriggert. Und was auch noch wichtig ist: Gerade dadurch, dass Sie bei den Stalkern nicht immer die offenen, aggressiven, gewalttätig morddrohenden Täter haben, sondern auch eine Gruppe haben, die eher gut angepasst sind, die still sind, die depressiv sind, die vielleicht einen Job haben, wird diese Gruppe häufig übersehen, wenn sie dann ihre Ex-Partnerin stalken, und das Risiko wird nicht richtig eingeschätzt. Aber inzwischen gibt es auch Instrumente. Wir haben ein Online-Tool entwickelt, damit man ein solches Risiko eben auch bewerten kann. Also, tatsächlich kann hier Therapie Leben retten, das war keineswegs übertrieben, was die Engländer dort sagen.

Scholl: Wie geht man mit Stalkern um? – Das war der Kriminalpsychologe Jens Hoffmann, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Hoffmann: Gerne!


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