Nahost-Union im Berliner Exil
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In Dresden findet derzeit die „Jüdische Woche“ statt. Dort wird auch die kleine Kunstgruppe „Anu“ zu sehen sein, ein loser Künstlerkreis aus arabischen Autoren und jüdischen Israelis mit arabischen Wurzeln, die alle in Deutschland leben.
Hila und Mati kommen aus Israel. Sie gehören zu den sogenannten Misrachim, jüdische Israelis, deren Eltern oder Großeltern aus arabischen Ländern stammen. In der dominanten, aschkenasisch - das heißt europäisch geprägten Kultur - sind die Misrachim in vielerlei Hinsicht schlechter gestellt. In Israel zählen die Misrachim zu einer Art Minderheit.
Musa wiederum ist Kurde. Er lebt seit 15 Jahren in Berlin. Ist Sozialarbeiter und Dichter. Er trifft seine jüdischen Freunde aus Israel. Nur Gidi fehlt noch. Auch er ist Misrachi.
Zusammenkommen in der No-Go-Area
Nun sind alle beisammen. Die vier treffen sich an diesem Abend in Gidis Küche, mitten in Berlin-Neukölln, von dem manche meinen, es sei eine No-Go-Area für Juden. So entspannt und fröhlich hätten die vier weder in Israel noch in einem der arabischen Länder zusammensitzen können. Das ermöglicht für beide Seiten erst der Exilort Berlin.
An diesem Abend bereiten die vier ihren Auftritt beim jüdischen Kulturfestival in Dresden vor, bei dem aus den eigenen Werken gelesen und Musik gemacht wird. Vier Künstler, die etwas verbindet. Ihr kleiner Kreis nennt sich "Anu". Das bedeutet auf Hebräisch und Arabisch so viel wie "wir". Eine poetisch-musikalische Melange, eine Begegnung.
Die Idee zu "Anu" kam Hila eines Abends, als sie mit Mati zusammensaß und ihm sagte:
"Ich vermisse etwas. Es ist wirklich schön, diese Gedichte und Poesie zu hören und die Musik, aber warum sprechen wir nicht über das, was hier passiert? Diese zwei Gruppen, Juden und Nichtjuden, die den gleichen Hintergrund haben?"
Seit einem Jahr ein Wir: "Anu"
Hila Amit schreibt Gedichte und Kurzgeschichten. Sie spricht fließend Arabisch, lebt seit etlichen Jahren in Berlin. Ihre Mutter wurde in Teheran geboren, ihr Vater in Damaskus. Zwei Länder, in die Hila aufgrund ihres israelischen Passes niemals reisen kann.
Durch die festgefahrene politische Situation im Nahen Osten wird Europa immer mehr zum Ort der Begegnung zwischen arabischen und israelischen Autoren. Im Literarischen Colloquium Berlin hat sich "Anu" im vergangenen Herbst erstmals einem Publikum gezeigt.
"Es war wirklich schön, einen Abend zu finden, wo Juden und Nichtjuden und Leute aus Nahost kommen und es gab einen großen Tisch mit Essen und Getränken. Wir haben nicht nur Poesie und Literatur gelesen, aber auch gesprochen. Und dann haben wir mit Abdelkadir Musa gesessen und gesagt, wir gehen weiter und machen vielleicht mehr Events."
Abdelkadir Musa arbeitet derzeit noch an einem anderen, ehrgeizigen Projekt. Er will "Das Tagebuch der Anne Frank", das seit mehr als einem halben Jahrhundert weltweit die Herzen der Menschen bewegt und in mehr als 70 Sprachen vorliegt, ins Kurdische übersetzen. Denn das fehlt bislang. Durch "Anu" hat Musa das erste Mal Kontakt zu Misrachim.
"Wir haben eine gemeinsame Geschichte, wir haben eine fast gleiche Biografie: bei mir auch Vertreibung, aber wegen anderer Gründe", erzählt Mati Shemoelof. "Meine Großoma ist Aramäerin, mein Großvater kommt aus dem Iran. Solche Geschichten, die eigentlich ähnliche Geschichten. Dadurch haben wir nicht nur ein gemeinsames Schicksal, wir haben eine gemeinsame Aufgabe als Autoren, dass wir weitermachen in diesem Bereich."
Wenn alle fremd sind
Mati Shemoelofs Großvater floh in den 1920er-Jahren aus dem Norden Irans ins damalige Palästina. Seine Mutter wurde in Bagdad geboren und kam kurz nach der Staatsgründung ins junge Israel. Die Erfahrung, als Kind von Misrachim aufgewachsen zu sein, verarbeitet er in seinen Gedichten. Etwa in seinem jüngst erschienenen Band "Bagdad – Haifa – Berlin". Shemoelof schlägt darin einen Bogen zu einer weiteren Migrationserfahrung. Denn er lebt mittlerweile seit sieben Jahren in Deutschland, ist hier verheiratet, hat eine Tochter.
"Die Menschen in Deutschland und Europa, deutsche und arabische, treffen immer Aschkenasi-Juden. Wir haben eine andere Stimme. Wir wollten zusammen lesen, dann verstehen die Leute, wir hatten für lange Zeit eine Nahost-Stimme."
Linke Israelis im Exil
Shemoelofs Stimme ist hier in Berlin die eines Diaspora-Israeli, der wie viele andere israelische Künstler und Intellektuelle seine neuen Zelte in Deutschland aufgeschlagen hat. Das hat auch mit der politischen Situation in Israel zu tun: Die Gesellschaft ist in den vergangenen Jahren immer mehr nach rechts gerückt. Viele linke Israelis fühlen sich dort nicht mehr beheimatet.
Wenn es die Zeit erlaubt, wird aus der noch losen privaten Gruppe "Anu" vielleicht einmal ein richtiger Verein. Ihr Traum von einer "Nahost-Union" - und sei es hier im Exil - zieht langsam Kreise.