Die Missionarinnen des Lebens

Von Wolfram Nagel |
Eine "schwere Sünde gegen die Liebe" nennt der aktuelle katholische Jugendkatechismus die Prostitution. Dennoch gibt es auch kirchliche Projekte, die sich um sogenannte Sexarbeiterinnen kümmern. Zum Beispiel in einem Slumviertel der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro.
Vila Mimosa ist ein Viertel am Rande einer großen Favela, einem der Elendsviertel von Rio de Janeiro. Niedrige, verkommene Wohnhäuser, hin und wieder Werkstätten und kleine Bars. Obszöne Graffitis an den Wänden, manchmal bitter-ironisch erscheinende Sprüche über einer Tür wie "O senhor é meu pastor e nada me faltara" – Gott ist mein Hirte und nichts wird mir fehlen. Hier beginnt der sogenannte "Arme-Leute-Straßenstrich", wo sich normale Bürger und Touristen kaum her trauen.

Laute Musik in engen, verrauchten Bars schon am Nachmittag. Junge und auch ältere Frauen stehen an den Eingängen, warten auf Freier.

"Soweit rein bin ich noch nie gekommen. Wenn man jetzt mal'n .... theologischen Geschmack von Vorhölle hat, das ist das, glaube ich, schon so ein bisschen."

Klemens Paffhausen, Länderreferent beim katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat, versucht, den Lärm zu übertönen. Nebenan befinden sich die Fleischhallen der Millionenstadt. In den Gestank von Tierabfällen mischen sich der Geruch von Zigarettenrauch, Alkohol und Schweiß.

"Hier gibt's, wie überall in diesem Gewerbe, auch Gewalt, Tote, Schüsse, es ist eine sehr harte Wirklichkeit. Wir sind in Begleitung von den Missionarias da Vida, das ist eine junge kirchliche Gemeinschaft, die versucht, Kontakt zu den Prostituierten hier herzustellen."

Hundert Meter abseits steht ein weißer Wohncontainer, daneben ein Dieselgenerator. Es ist eine kleine Sanitätsstation für Notfälle. Sie ist offen für jeden, der sonst keine Behandlung bezahlen kann, sagt Dr. Mouses Parseghian, einer der Ärzte, die hier einmal pro Woche freiwillig und unentgeltlich Dienst tun.

"Das ist der erste Vorposten, vor dem Straßenstrich. Wir hatten den Container gleich hier am Eingang aufgestellt, damit die Frauen wirklich kommen, sich auch trauen. Auch hier sind Blutuntersuchungen möglich. Wir entscheiden dann, ob sie überwiesen werden müssen"

Der Gynäkologe kennt nicht nur die Prostituierten. Er kennt auch die Bordellbesitzer. Hier herrsche ein strenges Regime, sagt er. Man achte beispielsweise darauf, dass keine Minderjährigen auf den Strich gehen. Woanders gebe es Kinderprostitution, hier nur in Einzelfällen. Ihm seien vor allem auch die Lebensgeschichten der Frauen wichtig:

"Es gibt Prostituierte, die arbeiten nur nachts, manche kommen auch am Wochenende her, viele kommen von sehr weit außerhalb, sind stundenlang unterwegs, um hier Kunden zu finden. Hier ist ein rechtsfreier Raum. Hier lässt sich auch die Polizei nicht sehen."

Der Arzt zeigt auf den Behandlungsstuhl, auf einen Schrank mit Arznei und Kondomen. Die würden je nach Bedarf kostenlos verteilt. Jeden Tag kommen Patientinnen. Sie alle - durch die Arbeit krank geworden. Alkohol, Drogen, HIV, Geschlechtskrankheiten:

"Ich mache das schon seit Jahren, die Leute haben Vertrauen zu mir. Wenn sie zu einem anderen Arzt gehen, werden sie mitunter wie der letzte Dreck behandelt, wie Abschaum, aber hier wissen sie, wenn sie behandelt werden, dann wie Menschen. Sie fühlen sich würdig und geachtet."

Hinter einem Häuserblock, im Lärmschatten der Bordelle, befindet sich eine unscheinbare kleine Kapelle. Das grün gestrichene Eisentor steht offen. Nur wenige Bänke bieten Platz zum Beten. Auf der vordersten Bank singt eine Frau leise vor sich hin.

Im Nebenraum blättert eine junge Ordensschwester in einem Karton mit Karteikarten. Marie-Belle von den Missionarias da Vida, den Missionarinnen des Lebens.
Die Frau ist schmächtig, hat die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Auf der hoch geschlossenen Bluse trägt sie ein Kreuz:

"Unsere Arbeit versteh'n wir schon als Arbeit der katholischen Kirche."

Marie-Belle mag denken, einer geteilten Kirche. Hoch über der kleinen Kapelle residiert der Erzbischof auf seinem bewaldeten Berg. Noch am Vormittag hat er seine Bischofskollegen und die Gäste von Adveniat mit erlesenen Speisen bewirtet. Von seinem Wohnsitz kann man einen fantastischen Blick auf die Stadt mit dem Zuckerhut und der riesigen Christusfigur genießen. Und da unten in der Vila Mimosa leben die gottesfürchtigen Huren und selbstlosen Schwestern.

"Seit fünf Jahren sind wir in der Vila Mimosa. Damals gab es hier überhaupt keine kirchliche Präsenz. Wir sind direkt zum Straßenstrich gegangen. Wir wollten die Menschen dort verstehen lernen. Die Welt scheint viel über das Leben von Prostituierten zu wissen. Deren Leben sieht aber ganz anders aus."

Man muss zu den Menschen hingehen, darf nicht warten, bis sie kommen, sagt Schwester Marie-Belle und begrüßt Cicera, die stille Sängerin. Sie ist 51 Jahre alt und musste die Prostitution aufgeben:

"Man hat festgestellt, dass ich ein vergrößertes Herz habe. Also ich muss sagen, wenn mir die Schwestern nicht geholfen hätten, mit den Lebensmitteln, mit der medizinischen Behandlung, da wär ich sicher schon tot."

Seit dem zwölften Lebensjahr mache sie diese Arbeit, erzählt Cicera unter Tränen. Auch ihre Mutter war Prostituierte. Sie kenne nichts anderes. Wo ihr einziges Kind abgeblieben ist, wisse sie nicht. Vor Weihnachten habe sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Kurs besucht, hat gelernt, wie man Plätzchen bäckt.

"Ich bin jetzt 51 Jahre. Natürlich möchte ich noch was anderes mit meinem Leben anfangen. Ich könnte auch nicht mehr zurück zur Prostitution gehen, mit meiner Krankheit, unmöglich. Man sagt als Prostituierte, in diesem Alter hast du nur zwei Auswege, entweder den ganz schnellen, plötzlichen, oder es tut sich eine andere Tür auf. Und das hat sich für mich ergeben. Ich möchte mit ehrenhaften Einnahmen meine Miete bezahlen können. Ich möchte glücklich älter werden."

Wie auch andere Frauen auf dem Armenstrich von Rio. Sie sollen schon bald die Möglichkeit bekommen, am Wochenende einmal auszusteigen. Eine von Adveniat finanziell unterstützte Auszeit. Sie können ihre Kinder mitbringen, bekommen Essen und Trinken, sagt Schwester Marie-Belle:

"Wir haben keine allzu großen Möglichkeiten. Wir sind auf Spenden angewiesen. Wenn wir davon sprechen, dass wir mit Prostituierten zusammenarbeiten, dann schließen sich oft die Türen. Wir wissen aber auch, dass sich keiner freiwillig in die Prostitution begibt. Viele haben einfach keinen anderen Ausweg. Sie sind Mütter von fünf, sechs Kindern, und sie haben keine Alternativen."

Cicera hat inzwischen einen kleinen Straßenhandel mit Süßigkeiten aufgemacht, außerhalb von Vila Mimosa. Dafür hat sie von den Missionarias eine Anschubfinanzierung bekommen. Von dem Handel könne sie vielleicht leben, sagt sie lachend und zwängt sich in die enge Bank, um weiter zu singen.
Mehr zum Thema