Der "gebildete" Antisemitismus als Herausforderung
Er ist eine Herausforderung für Politik und Gesellschaft: Die Strategien und Erscheinungsformen des "gebildeten" Antisemitismus sind sehr diffizil. Unaufhörlich passe er sich dem Zeitgeist an, konstatierte vor Jahren der Historiker Robert Wistrich.
Früher war alles… nein, nicht besser, aber klarer. So klar jedenfalls, dass man wusste, woran man war. Bei dem Bundestagsabgeordneten der "Sozialistischen Reichspartei", Dr. Franz Richter, etwa wusste man das ganz genau, denn an seiner stramm antisemitischen Gesinnung ließ er nie einen Zweifel. Als der Bundestag 1951 über deutsche Wiedergutmachungszahlungen an Israel diskutiert und der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid fordert, auch dort, wo es keine Erben mehr gebe, müsse jüdischer Besitz zurückgegeben werden, gerät Richter völlig außer sich. Wütend geifert er ins Plenum:
"Wenn Professor Schmid meint, dass man der israelischen Regierung das Geld nach Tel Aviv oder Jerusalem hinterherschicken soll, dann möchte ich betonen: Er würde das Geld einer Macht nachschicken, die selbst erklärt hat, mit uns im Kriegszustand zu stehen. Das heißt, dass Schmid mit dem Feind zusammenarbeitet und ein Kollaborateur ist…"
Was damals niemand weiß, so der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar: Richter ist nicht nur ein Antisemit, sondern auch ein Betrüger, der unter falschem Namen im Hohen Haus sitzt: "Er war in Wirklichkeit der NSDAP-Gau-Hauptstellenleiter Fritz Rössler. Dieser Mann hat das zweifelhafte Verdienst, dass er der Erste war, der gehetzt hat gegenüber dem Staat Israel. Er wurde enttarnt und 1952 vor Gericht gestellt und in Bonn verurteilt wegen seiner falschen Identität und dann natürlich auch aus dem Bundestag ausgeschlossen."
Ist heute wirklich alles anders?
Das ist lange her. Heute ist alles anders! Heute gibt es selbstverständlich überhaupt keine Antisemiten mehr, sondern nur noch "Israelkritiker". Die bleiben dann schon mal demonstrativ sitzen, wenn sich etwa die anderen Mitglieder des Bundestags erheben, um der ermordeten Juden Europas zu gedenken.
So geschehen am 27. Januar 2010, als der damalige israelische Staatspräsident Shimon Peres eine Gedenkrede im Bundestag hielt und anschließend das Kaddisch für die Toten sprach.
Natürlich wollten die "Sitzenbleiber" ihr Verhalten ausschließlich als "Israel-Kritik" gewertet wissen.
Die Politologin Sylke Tempel: "Mich amüsiert das Wort 'Israelkritik' schon immer. Es gibt keine Chinakritik, keine Russlandkritik, es gibt keine Pakistankritik. Nur auf der Israelkritik wollen wir bestehen…"
Wolfgang Kraushaar: "Eine Tarnvokabel, ein Schutzwort, das im Grunde genommen ummänteln soll, inwiefern wir es mit definitiven Israelgegnern zu tun haben…"
Mit denen haben wir es inzwischen an allen Ecken und Ende zu tun. Und zwar in allen möglichen Variationen.
Der altbekannte Vulgärantisemit mit Glatze, Springerstiefeln und den "Protokollen der Weisen von Zion" im Regal ist heute fast zum Auslaufmodell geworden. Den Kreis erweitert haben zusätzliche Spielarten: der muslimische sowie der sogenannte "gebildete" und als dessen "Untergruppierung" der linksintellektuelle Antisemitismus.
Ganz verschiedene judenfeindliche Gruppen
Wir haben also eine komplizierte Gemengelage, die verschiedene judenfeindliche Gruppen ins Blickfeld rückt: rechte Schläger, Hakenkreuzschmierer, Pöbler und Friedhofsschänder; dann Judenhetzer in Moscheen und arabischstämmige Jugendliche, die Mitschüler terrorisieren, einen Rabbiner zusammenzuschlagen, ihn schwer verletzen und auf Kundgebungen gegen den Gaza-Krieg Juden "ins Gas" schicken wollen. Und die dort in aller Öffentlichkeit brüllen:
Im Zentrum dieses Hasses steht bei allen Gruppen der jüdische Staat, an dem sich unzählige deutsche Gemüter oft bis zur Erschöpfung erhitzen. Ein kleines Land in rund 4000 km Entfernung bringt viele von ihnen immer wieder um ihren Seelenfrieden.
Es gibt denn auch heute keinen Judenhass, der nichts mit dem Judenstaat zu tun hätte. Wir haben es inzwischen mit einer regelrechten "Israelisierung" des Antisemitismus zu tun.
Kein Staat dieser Welt - nicht einmal diktatorische oder verbrecherische Regime - wird so heftig attackiert wie Israel. Und das mit einem ungeheueren Ausmaß an moralischer Überheblichkeit.
Die Kognitionswissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel: "Wir sehen seit ungefähr 20 Jahren, dass die Grenzen zwischen rechts, links, Mitte und liberal verschwinden und dass die Sprachgebrauchsmuster im antisemitischen Diskurs sich immer weiter annähern… also alle Spielarten überschneiden sich hier. Die treffen sich insbesondere in ihrem Hass, in ihrer Fokussierung auf Israel."
Und doch hält sich hartnäckig die eingeübte Formel: "Der Feind steht rechts..!"
Sicher. Aber auch links! Und in der Mitte!
Historisch gesehen, ist der Satz vom Antisemitismus, der in der Mitte der Gesellschaft "angekommen" sei, falsch. Antisemitismus war immer zunächst ein Phänomen der Gebildeten. Seit den Tagen des Konvertiten Johannes Pfefferkorn im 16. Jahrhundert ging er von den Schreibtischen der Gelehrten aus: von den Theologen, Hofpredigern und Philosophen.
Monika Schwarz-Friesel: "Denken Sie an solch berühmte Philosophen wie Hegel… ein glühender Judenhasser, was sich in seinen Schriften zeigt. Es waren vor allem im 19. Jahrhundert Universitätsprofessoren wie Treitschke, es waren Künstler wie Wagner, Schriftsteller wie Fontane, es waren Politiker und der Hoftheologe in der Kaiserzeit… die glühende Pamphlete gegen Juden geschrieben haben…"
Bidung als bestes Mittel gegen Antisemitismus?
"Gebildeter Antisemitismus" - auf den ersten Blick scheint dieser Terminus widersprüchlich. Zum einen, weil die Vorstellung herrscht, Bildung verhindere Antisemitismus und sei das beste Mittel, ihn zu bekämpfen; zum anderen weil er nicht ins Weltbild einer Gesellschaft passt, die sich an einer intensiven Aufarbeitungs- und Gedenkkultur orientiert und glaubt, so die Gespenster der Vergangenheit vertrieben zu haben.
Doch die gängige Annahme, dass der Antisemitismus von rechts hierzulande die größte Gefahr sei, teilen weder Monika Schwarz-Friesel noch Wolfgang Kraushaar:
Monika Schwarz-Friesel: "Nicht der mehrheitlich verurteilte und verpönte rechtsradikale Vulgärantisemitismus ist heute gefährlich für die Zivilgesellschaft, sondern die unter viel Camouflage als Kritik an Israel verbreitete Judenfeindschaft im öffentlichen Kom-munikationsraum… Das ist eines der Hauptprobleme im Kampf gegen den aktuellen Antisemitismus, dass sowohl in der Politik als auch in der Justiz und in der Zivilgesellschaft diese enge, falsche Kontextualisierung… existiert, Antisemitismus sei entweder ein historisches Phänomen, vor allem begrenzt auf die Phase des Nationalsozialismus oder ein Randgruppenphänomen der Gesellschaft, vor allem bei Neonazis und Rechtsradikalen anzutreffen."
Wolfgang Kraushaar: "Es ist nach wie vor so, dass die Mechanismen, die dazu führen, dass Juden zu Projektionsadressaten genutzt werden für all das, was mit der Welt und der Politik schiefgeht… dass das immer wieder innerhalb der Linken eine nicht uner-hebliche Rolle spielt. Es ist auch so, dass das innerhalb der Parteien immer wieder aufblitzt… Es hat ja auch genügend Vorfälle gegeben."
Dieser linke Antisemitismus - ein Antisemitismus ohne Antisemiten - sei deshalb so gefährlich, weil er sich "antirassistisch", "antiimperialistisch", "menschenrechtsorientiert" und progressiv gebe. Und weil er dennoch nahezu alle judenfeindlichen Klischees und Argumente bediene:
Monika Schwarz-Friesel: "Wir haben zweierlei Maß: Während die Gesellschaft den rechten Antisemitismus unisono ablehnt und bekämpft, ist mittlerweile der antiisraelische Antisemitismus, der vor allem von Linken, von Kirchenleuten oder aus der gebildeten Mitte kommt, tatsächlich schon normal. Und das ist mit das Gefährlichste, was wir mittlerweile in der Antisemitismusforschung konstatieren… Wenn z. B. eine 18jährige Abiturientin an die israelische Botschaft schreibt und sagt, sie ist Mitglied bei "Amnesty International", sie ist tolerant, sie lehnt jede Form von Rassismus ab und dann schreibt: Jetzt verstehe ich, warum Juden als brutal, verlogen, gierig und rücksichtslos gelten. Viele meiner Freunde und Mitschüler sehen das ganz genauso…"
Und nicht nur die, sondern auch Pfarrer, Gewerkschafter, Hausfrauen und Medienschaffende. Nach einer Forsa-Umfrage glauben 71 Prozent, die Deutschen sollten Israel durchaus mal verstärkt "die Meinung sagen" und die "historisch bedingte Sonderbehandlung" - wörtliches Zitat des "Spiegels" - überwinden.
Und immer wieder sind da "Israelkritiker"
Ein Rat, der immer wieder gern und ausgiebig beherzigt zu werden scheint. Die Beispiele sind Legion: Da fällt einem deutschen Bischof auf einer Reise in Ramallah das Warschauer Ghetto ein, da macht ein früherer CDU-Sozialpolitiker einen israelischen "Vernichtungskrieg" gegen die Palästinenser aus; da entdeckt eine ehemalige SPD-Generalsekretärin "gemeinsame Werte" und eine "strategische Partnerschaft" mit der Fatah; da blamiert sich die ARD mit einem völlig einseitigen, ressentimentgeladenen Bericht über die Wasserversorgung im Westjordanland; da schwadroniert eine "Menschenrechtsbeauftragte" der Linken von "Tausenden von Tonnen an Chemikalien", die Israel angeblich ins Mittelmeer leite, und reanimiert so die alte Legende von den jüdischen Brunnenvergiftern, die schon im Mittelalter falsch war. Und dann ist da noch der zum "Wareninspekteur" mutierte pensionierte evangelische Pfarrer, der sich eine Strafanzeige einhandelt, weil er als engagiertes Mitglied der antiisraelischen Boykott-Bewegung BDS in einem Bonner Geschäft israelische Produkte mit warnenden Papierfähnchen kennzeichnet.
Werden sie für ihr Treiben kritisiert, führen engagierte "Israelkritiker" umgehend das "Meinungsdiktat" ins Feld, das Kritik an Israel angeblich unmöglich mache. Doch dieses "Meinungsdiktat" ist eindeutig selbst ein antisemitisches Klischee. Denn wer hätte je ein solches "Diktat" erlassen?
All diesen "Aktivisten" ist eines gemeinsam: "Im Namen des Friedens" sind sie gegen Israel und - der festen Überzeugung, unschätzbare Hilfe bei einer deutschen Lieblingsbeschäftigungen zu leisten: bei der Lösung des Nahost-Konflikts.
Das gilt auch für viele Schreiber der rund 14.000 Briefe an die Israelische Botschaft in Berlin und an den "Zentralrat der Juden in Deutschland", die Monika Schwarz-Friesel 2013 auswertete. Es sind Briefe von ganz "normalen" Bürgern: "Es waren über 60 Prozent der Schreiber, die Namen und Adresse angegeben haben und die sehr auskunftsfreudig waren… Es sind Lehrer, es sind Journa-listen, es sind Banker, es sind Ärzte…" Nur eines sind sie natürlich alle nicht: Antisemiten!
Völlig widersinnige Argumentationen
Monika Schwarz-Friesel: "Ich habe hier ein Beispiel von einem sehr gebildeten Akademiker, der von sich selbst sagt, er sei kein Antisemit und er würde immer links wählen… Ich lese das mal vor: Aus Sicht eines realpolitischen Deutschlands à la Merkel muss man sagen, dass sieben Millionen tote Juden - damit meint er die Israelis - so schlimm das auch wäre, nüchtern betrachtet besser wäre als sieben Milliarden tote Menschen wegen der brutalen jüdischen Weltherrschaft…"
Auch dieser Brief eines "Linkswählers" ist mit einem offenbar pathologisch reinen Gewissen geschrieben, denn: "Wenn ich Antisemit bin, kann ich kein Linker sein…"
Ein in seiner völligen Widersinnigkeit bemerkenswerter Satz, den der Schriftsteller Gerhard Zwerenz da in den 1980 er Jahren in die Welt setzte. Doch seine Wirkung scheint bis heute unvermindert anzuhalten. Wie sonst könnte sich die aberwitzige Vorstellung halten, wer links sei, sei des Antisemitismus unverdächtig?
Wolfgang Kraushaar forscht seit Jahren über die antisemitischen Wurzeln der deutschen Linken:
Wolfgang Kraushaar: "Die Linke ist ja per se fortschrittlich… gegen den Imperialismus, gegen den Faschismus… Das heißt: sie hat sich der Dinge entledigen wollen und hat sich dabei gleichzeitig noch bestätigt, dass sie moralisch auf dem richtigen Weg ist."
Dort war sie einmal durchaus, als sich in den 1950er Jahren eine kleine Studentenbewegung in deutschen Universitätsstädten für Wiedergutmachung einsetzte:
Wolfgang Kraushaar: "Und es hat zudem 1959 eine Ausstellung 'Ungesühnte Nazi-Justiz' gegeben… Das ist auch eine Initiative gewesen, die auf den SDS zurückzuführen ist, also auf den 'Sozialistischen Deutschen Studentenbund', der damals noch in der SPD war… Und zwar bis zum Unvereinbarkeitsbeschluss 1961. Danach haben sich die Dinge doch erheblich verändert."
Monika Schwarz-Friesel: "Das war 1967 der Krieg, wo Israel so grandios gewonnen hat… Die Linken, die bislang begeistert waren von Israel, die in die Kibbuzzim fuhren… plötzlich kippte dieses Bild, plötzlich war Israel stark… eine Macht im Nahen Osten. Und das gefiel bestimmten linken Ideologen nicht."
Die Transformation der studentischen Linken
Damals kommt es zu einer Art Transformation der studentischen Linken in eine antiisraelische Kampfgenossenschaft.
Wolfgang Kraushaar: "Psychologisch betrachtet dürfte der entscheidende Punkt im Juni 1967 darin bestanden haben, dass aus Sicht der Linken Israel auf einmal aus der Rolle des Opfers umgekehrt war in die Rolle des Täters - sollte heißen: des militärischen Siegers… über Ägypten, Syrien usw. Das heißt: man konnte es offenbar nicht aushalten, dass Israel in der Lage war, sich selber zu verteidigen… sich den Weg freizumachen und dann diese Gebietsannektionen durchzuführen, die den heutigen Status des Staates Israel ausmachen. Das war aus dieser Sicht zu viel und deshalb schlug das um in diese vehemente Form der Israelkritik und Gegnerschaft bis hin zur Feindschaft."
Diese Feindschaft findet einen dramatischen Höhepunkt 1976, als der deutsche Terrorist Wilfried Böse bei einer Flugzeugentführung in die ugandische Hauptstadt Entebbe die erste - buchstäbliche - Selektion nach 1945 an jüdischen, bzw. israelischen Passagieren vornimmt. Er droht, sie alle zu töten.
Als einer der Passagiere, ein Holocaust-Überlebender, Böse seine eintätowierte Häftlingsnummer zeigt und ihn darauf aufmerksam macht, dass er im Begriff ist, in die Fußstapfen der Nazi-Elterngeneration zu treten, erklärt der Terrorist voller moralischer Empörung: "Ich bin Anti-Nazi! Ich bin Idealist…!"
Sylke Tempel: "Zu einer Zeit, als die Tätergeneration noch voll in der Gesellschaft integriert ist, fällt es einer zweiten Generation ein, Attentate auf jüdische Einrichtungen zu unternehmen… Es ist eine Tür aufgestoßen worden, die ich ein Skandalon finde… Dass man 20 Jahre nach Ende des Krieges Juden wieder zu Opfern macht und sie gezielt töten will."
Heute konstatiert Wolfgang Kraushaar einen latenten Antisemitismus, der praktisch alle Schichten der deutschen Gesellschaft durchzieht:
Dr. Wolfgang Kraushaar: "Ich befürchte, dass jedes Mal, wenn sich Israel zur Wehr gesetzt hat, dieser Antisemitismus neu blüht. Das ist nach wie vor das Gesetz der Serie."
Und das auch, weil der Antisemitismus Teil und Erbe abendländischer Kultur ist. Nicht die Ausnahme von der Regel, sondern die Regel selbst. Der Antisemitismus, so sekundierte auch vor einigen Jahren Robert Wistrich, Historiker an der Hebräischen Universität Jerusalem, wechsele seine Erscheinungsformen und Strategien unaufhörlich und passe sich dem jeweiligen Zeitgeist an - wie ein listiges Virus, das immer dann, wenn es als bekämpft und überwunden geglaubt werde, umso heftiger angreife.
Monika Schwarz-Friesel: "Was ungemein brisant ist für die Zivilgesellschaft, ist, dass wir immer weniger Widerstand und Widerspruch gegen die immer lauter werdenden antisemitischen und antiisraelischen Stimmen in unserer Gesellschaft haben. "
Diese Einschätzung enthebt uns nicht der Pflicht zu äußerster Wachsamkeit und notwendigem Handeln. Wohl wissend, wozu Antisemitismus und Antisemiten fähig sind, wenn man sie gewähren lässt.