Die Müllsammler von Neu Delhi
"Ragpickers" werden sie genannt. Sie klauben den Müll aus Sammelcontainern und von der Straße. Sie leben davon, alles wieder Verwertbare zu verkaufen. Die Einkommen sind erbärmlich – so wie die Lebensumstände der Familien.
Wenn man die Augen zumacht, klingt es fast wie Wellen, die auf ein Ufer schlagen. Doch die, die diese Geräusche machen, kennen das Meer nicht, haben es noch nie gesehen: Ragpickers heißen sie in Indien – Müllsammler. Sie leben in Slums, im Müll und von ihm. Säckeweise schleppen sie ihn vor ihre Hütten, sortieren und verkaufen ihn dann wieder. Kanhaiya ist einer von ihnen. 12 Jahre ist er alt und schon seit Jahren arbeitet er hart:
"Ich sammle Müll in einen großen Plastiksack. Den trag ich dann auf meinem Kopf nach Hause. Die Säcke sind sehr schwer. Manchmal nimmt ihn ein anderer Müllsammler auf seiner Fahrrad-Riksha mit."
An solchen Tagen hat Kanhaiya Glück. Denn die geflochtenen grauen Plastiksäcke sind riesengroß. Hunderte Liter könnten sie fassen. Kanhaiya arbeitet den ganzen Tag, sagt er. Es gibt nur kurze Pausen:
"Morgens um acht trink' ich ein bisschen Tee und dann geh ich mit meinem Bruder zur Arbeit – das ist einen Kilometer von hier. So um eins oder zwei kommen wir zurück."
Es kann auch früher oder später sein. Kanhaiya hat keine Uhr. Er könnte sie auch nicht lesen. Außerdem ist es egal, denn die Arbeit geht zuhause im Slum sofort weiter. Kanhaiyas kleiner Bruder Rohtash ist zehn. Er listet genau auf, was zu tun ist:
"Wenn ich vom Sammeln komme, hole ich drei oder vier Kanister Wasser von der Wasserstation an der Straße. Dann sortiere ich den gesammelten Müll, schaue nach Pappe, Hartplastik und Tüten, Glas und Papier. Das kommt in unterschiedliche Säcke, wird dann gewogen und zum Händler gebracht. Das macht mein Vater. Nach einer langen Zeit bekommt er dann 5.000 oder 10.000 Rupien dafür."
Wie lang diese Zeit ist, wissen Rohtash und Kanhaiya nicht. Aber ihr Vater Sashpal: 100 bis 200 Rupien verdienen sie zusammen am Tag, also wenn es gut läuft, etwas mehr als drei Euro. Meistens ist es weniger. Sashpal schaut verlegen und erklärt:
"Ich kann nicht lesen und nicht schreiben. Ich weiß doch noch nicht mal, wohin oder an wen ich mich wenden müsste, um wenigstens Papiere zu bekommen."
Ohne Papiere geht nämlich gar nichts. Doch die indische Bürokratie ist unbarmherzig. Papiere bekommt man in dem Dorf, aus dem man stammt. Aber da kommt Sashpal nicht mehr hin.
Es ist Mittag im Slum. Die Jungen haben Pause. Zum ersten Mal am Tag bekommen sie jetzt etwas zu essen. Essen, das gerade so zum Überleben reicht. Pizza, Nudeln oder Fleisch kennen die Kinder nicht. Es sind schlichte Mahlzeiten, die ihre Mutter Sunita zubereitet:
"Wir essen eigentlich immer nur Brot, also Rotis. Kartoffeln haben wir auch öfter, manchmal Linsen (Dal), Gemüse gibt es selten. Alles andere ist zu teuer – Fleisch oder Eier können wir uns nicht leisten."
Auch heute gibt es wieder Rotis, dünne Fladen aus einem Wasser-Mehl-Teig. Die Mutter backt sie auf einer Eisenplatte über einem Feuer neben dem Eingang der Hütte. 80 mal 160 Zentimeter Platz ist dort. Tücher hängen vom Dach. Es grenzt an ein Wunder, dass es nicht öfter brennt. Direkt vor der Hütte ist ein Pfad von etwa einem halben Meter Breite. Dann fängt der Müll an. Esel und Lasträder drängen sich vorbei, bepackt mit gigantischen Müllsäcken. Aus einem Radio verspricht eine Stimme eine bessere Welt.
Aber hier ist es eng, staubig, dreckig und der Müll stinkt. Fliegen belagern alles und jeden. Kleine Kinder wehren sich schon gar nicht mehr gegen die Insekten. Sie sitzen überall, auf den Händen, im Gesicht, an den Augen. Dabei ist gerade Winter. Es wird kaum wärmer als 22, 23 Grad. Im Sommer sind es 45…
Nach dem Essen springen Kanhaiya und Rohtash auf. Sie sortieren weiter Müll vom Morgen – dann gehen sie wie jeden Tag ein zweites Mal los zum Sammeln. Doch manchmal gibt es davor ein bisschen Abwechslung, erzählt der kleine Rohtash:
"Nach dem ersten Sammeln und Essen spiele ich ein bisschen – Verstecken, oben an der Straße mit meinen Freunden. Danach sammeln wir wieder Müll. Ich ruhe mich nur nachts aus."
Die Kinder schlafen auf dem Boden ihrer Hütte. Sie ist vielleicht sieben bis acht Quadratmeter groß. Ein Bett steht darin und ein Fernseher. Die Wände sind gemauert. Planen, Pappen und ein paar Bleche bilden das Dach. Das Land, auf dem sie stehen, gehört der Stadt Neu Delhi. Die Verwaltung kümmert sich um Wasser, ein paar Toiletten und Duschen. Mehr kommt von den Behörden nicht, sagt Tangama Nair, gewählte Sprecherin der Slum-Bewohner:
"Die einzige Hilfe von der Regierung ist Zivilschutz. Zum Beispiel war das Camp in der Regenzeit völlig überschwemmt. Oder wenn die Toiletten verstopft sind, dann kommen die auch mal. Aber direkte Hilfe für die Leute gibt es nicht."
Eine Hilfsorganisation engagiert sich ein bisschen. Sie gibt Essen an Kinder aus und organisiert eine Art Slumschule. Aber es reicht nicht für alle. Kanhaiya und Rotash gehen nicht dorthin. In Indien besteht zwar allgemeine Schulpflicht, aber niemand setzt sie durch. Im Gegenteil, erzählt Kanhaiya:
"Ich bin mal zur Schule gegangen. Einen Tag. Am zweiten Tag haben sie meinen Namen gestrichen. Dann bin ich nicht mehr gegangen."
Sie haben ihn weggeschickt, weil er keine Papiere hatte. Sehr verletzt hat ihn das, druckst er noch und dass er jetzt sowieso nicht mehr wolle. Kanhaiyas Vater mischt sich ein:
"Ich hab's versucht mit den Schulen. Wenigstens sollten meine vier kleineren Kinder auf die Schule gehen. Aber die schicken mich nur von einer zur anderen, weil ich keine Papiere für sie hab'. Und für die beiden Großen geht ohne Papiere gar nichts."
Die Sprecherin der Slumbewohner könnte helfen, die Behörden in Sashpals Heimatdorf anschreiben. Aber das klappt nicht immer und es sind auch zu viele, die Hilfe brauchten. Tausende leben in diesem Slum. Es gibt Hunderte Hütten mit großen Familien.
Kanhaiya und Rotash werden wohl bleiben, was sie sind: Müllsammler. Nicht mal Träume hat Kanhaiya, sagt er. Dabei könnte er zum Beispiel Schuhputzer werden am Connaught Platz, dem Zentrum Neu Delhis, und wesentlich mehr verdienen als ein Müllsammler:
"Schuhputzer – nein, das würde ich nicht machen. Das, was ich tue, ist völlig in Ordnung für mich."
… sagt Kanhaiya und blickt auf seine Füße. Sie stehen auf Plastik-Badesandalen. Richtige Schuhe hat er nicht. Rotashs Augen blitzen dagegen auf. Er kann sich eine großartige Zukunft vorstellen:
"Ich möchte meinen eigenen Lebensunterhalt verdienen, wenn ich groß bin – am liebsten mit einem Job im Büro. Ich möchte lernen: Schreiben und vor allem Rechnen."
"Ich sammle Müll in einen großen Plastiksack. Den trag ich dann auf meinem Kopf nach Hause. Die Säcke sind sehr schwer. Manchmal nimmt ihn ein anderer Müllsammler auf seiner Fahrrad-Riksha mit."
An solchen Tagen hat Kanhaiya Glück. Denn die geflochtenen grauen Plastiksäcke sind riesengroß. Hunderte Liter könnten sie fassen. Kanhaiya arbeitet den ganzen Tag, sagt er. Es gibt nur kurze Pausen:
"Morgens um acht trink' ich ein bisschen Tee und dann geh ich mit meinem Bruder zur Arbeit – das ist einen Kilometer von hier. So um eins oder zwei kommen wir zurück."
Es kann auch früher oder später sein. Kanhaiya hat keine Uhr. Er könnte sie auch nicht lesen. Außerdem ist es egal, denn die Arbeit geht zuhause im Slum sofort weiter. Kanhaiyas kleiner Bruder Rohtash ist zehn. Er listet genau auf, was zu tun ist:
"Wenn ich vom Sammeln komme, hole ich drei oder vier Kanister Wasser von der Wasserstation an der Straße. Dann sortiere ich den gesammelten Müll, schaue nach Pappe, Hartplastik und Tüten, Glas und Papier. Das kommt in unterschiedliche Säcke, wird dann gewogen und zum Händler gebracht. Das macht mein Vater. Nach einer langen Zeit bekommt er dann 5.000 oder 10.000 Rupien dafür."
Wie lang diese Zeit ist, wissen Rohtash und Kanhaiya nicht. Aber ihr Vater Sashpal: 100 bis 200 Rupien verdienen sie zusammen am Tag, also wenn es gut läuft, etwas mehr als drei Euro. Meistens ist es weniger. Sashpal schaut verlegen und erklärt:
"Ich kann nicht lesen und nicht schreiben. Ich weiß doch noch nicht mal, wohin oder an wen ich mich wenden müsste, um wenigstens Papiere zu bekommen."
Ohne Papiere geht nämlich gar nichts. Doch die indische Bürokratie ist unbarmherzig. Papiere bekommt man in dem Dorf, aus dem man stammt. Aber da kommt Sashpal nicht mehr hin.
Es ist Mittag im Slum. Die Jungen haben Pause. Zum ersten Mal am Tag bekommen sie jetzt etwas zu essen. Essen, das gerade so zum Überleben reicht. Pizza, Nudeln oder Fleisch kennen die Kinder nicht. Es sind schlichte Mahlzeiten, die ihre Mutter Sunita zubereitet:
"Wir essen eigentlich immer nur Brot, also Rotis. Kartoffeln haben wir auch öfter, manchmal Linsen (Dal), Gemüse gibt es selten. Alles andere ist zu teuer – Fleisch oder Eier können wir uns nicht leisten."
Auch heute gibt es wieder Rotis, dünne Fladen aus einem Wasser-Mehl-Teig. Die Mutter backt sie auf einer Eisenplatte über einem Feuer neben dem Eingang der Hütte. 80 mal 160 Zentimeter Platz ist dort. Tücher hängen vom Dach. Es grenzt an ein Wunder, dass es nicht öfter brennt. Direkt vor der Hütte ist ein Pfad von etwa einem halben Meter Breite. Dann fängt der Müll an. Esel und Lasträder drängen sich vorbei, bepackt mit gigantischen Müllsäcken. Aus einem Radio verspricht eine Stimme eine bessere Welt.
Aber hier ist es eng, staubig, dreckig und der Müll stinkt. Fliegen belagern alles und jeden. Kleine Kinder wehren sich schon gar nicht mehr gegen die Insekten. Sie sitzen überall, auf den Händen, im Gesicht, an den Augen. Dabei ist gerade Winter. Es wird kaum wärmer als 22, 23 Grad. Im Sommer sind es 45…
Nach dem Essen springen Kanhaiya und Rohtash auf. Sie sortieren weiter Müll vom Morgen – dann gehen sie wie jeden Tag ein zweites Mal los zum Sammeln. Doch manchmal gibt es davor ein bisschen Abwechslung, erzählt der kleine Rohtash:
"Nach dem ersten Sammeln und Essen spiele ich ein bisschen – Verstecken, oben an der Straße mit meinen Freunden. Danach sammeln wir wieder Müll. Ich ruhe mich nur nachts aus."
Die Kinder schlafen auf dem Boden ihrer Hütte. Sie ist vielleicht sieben bis acht Quadratmeter groß. Ein Bett steht darin und ein Fernseher. Die Wände sind gemauert. Planen, Pappen und ein paar Bleche bilden das Dach. Das Land, auf dem sie stehen, gehört der Stadt Neu Delhi. Die Verwaltung kümmert sich um Wasser, ein paar Toiletten und Duschen. Mehr kommt von den Behörden nicht, sagt Tangama Nair, gewählte Sprecherin der Slum-Bewohner:
"Die einzige Hilfe von der Regierung ist Zivilschutz. Zum Beispiel war das Camp in der Regenzeit völlig überschwemmt. Oder wenn die Toiletten verstopft sind, dann kommen die auch mal. Aber direkte Hilfe für die Leute gibt es nicht."
Eine Hilfsorganisation engagiert sich ein bisschen. Sie gibt Essen an Kinder aus und organisiert eine Art Slumschule. Aber es reicht nicht für alle. Kanhaiya und Rotash gehen nicht dorthin. In Indien besteht zwar allgemeine Schulpflicht, aber niemand setzt sie durch. Im Gegenteil, erzählt Kanhaiya:
"Ich bin mal zur Schule gegangen. Einen Tag. Am zweiten Tag haben sie meinen Namen gestrichen. Dann bin ich nicht mehr gegangen."
Sie haben ihn weggeschickt, weil er keine Papiere hatte. Sehr verletzt hat ihn das, druckst er noch und dass er jetzt sowieso nicht mehr wolle. Kanhaiyas Vater mischt sich ein:
"Ich hab's versucht mit den Schulen. Wenigstens sollten meine vier kleineren Kinder auf die Schule gehen. Aber die schicken mich nur von einer zur anderen, weil ich keine Papiere für sie hab'. Und für die beiden Großen geht ohne Papiere gar nichts."
Die Sprecherin der Slumbewohner könnte helfen, die Behörden in Sashpals Heimatdorf anschreiben. Aber das klappt nicht immer und es sind auch zu viele, die Hilfe brauchten. Tausende leben in diesem Slum. Es gibt Hunderte Hütten mit großen Familien.
Kanhaiya und Rotash werden wohl bleiben, was sie sind: Müllsammler. Nicht mal Träume hat Kanhaiya, sagt er. Dabei könnte er zum Beispiel Schuhputzer werden am Connaught Platz, dem Zentrum Neu Delhis, und wesentlich mehr verdienen als ein Müllsammler:
"Schuhputzer – nein, das würde ich nicht machen. Das, was ich tue, ist völlig in Ordnung für mich."
… sagt Kanhaiya und blickt auf seine Füße. Sie stehen auf Plastik-Badesandalen. Richtige Schuhe hat er nicht. Rotashs Augen blitzen dagegen auf. Er kann sich eine großartige Zukunft vorstellen:
"Ich möchte meinen eigenen Lebensunterhalt verdienen, wenn ich groß bin – am liebsten mit einem Job im Büro. Ich möchte lernen: Schreiben und vor allem Rechnen."