Die Musik von Notre-Dame in Paris

Eine Kathedrale aus Klängen

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Das Kirchenschiff von Notre Dame de Paris.
Klangraum: Die Gesänge, die im 12. Jahrhundert in und um Notre-Dame entstanden, waren maßgeblich für die europäische Musikgeschichte. © Getty Images / DEA / C. Balossini
Von Arne Sonntag |
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Notre-Dame in Paris ist das Urbild der mittelalterlichen Kathedrale. Doch gotische Bögen und Säulen aus Licht wurden nicht nur von Baumeistern aus Stein und Glas geschaffen, sondern auch von Komponisten mit Musik.
Die Musik von Notre-Dame war eine Revolution für Europa. "Es ist wirklich etwas vollkommen Neues, was sich da klanglich ereignet", sagt Ann-Katrin Zimmermann, Professorin für Musikwissenschaft und Dramaturgin am Gewandhaus in Leipzig. "Immer wieder steht die Menschheit vor Phänomenen, wenn sie sich mit neuer Kunst konfrontiert sieht, die sie zunächst nicht begreifen kann – und das muss in dieser Zeit ganz besonders der Fall gewesen sein."

Mitreißender als jede Predigt

Die Ende des 12. Jahrhunderts an der Kathedrale Notre-Dame entstandenen Gesänge hatten eine überwältigende Wirkung, sagt Zimmermann. "Und wenn sich das verknüpft mit einer Botschaft, mit einer religiösen Botschaft, das ist natürlich doppelt wirkungsvoll. Wirkungsvoller vielleicht als jede Predigt oder als jede Schriftlauslegung."
Diese Musik – das lässt sich ohne Übertreibung sagen – ist der Ausgangspunkt für die beispiellose Entwicklung, die die europäische Musikgeschichte in den kommenden Jahrhunderten nehmen sollte. Aber warum entstand all dies ausgerechnet in Paris?
Im 12. Jahrhundert war die Stadt mit ihrem aristokratischen Leben, der neu gegründeten Universität, den Kirchen und den Klöstern das geistige Zentrum Europas. Musik und Musiktheorie waren feste Bestandteile des Universitären Curriculums. In der mittelalterlichen Vorstellung ist Musik Teil einer Welt, in der alles miteinander durch göttliche Zahlenverhältnisse verbunden ist.

Die gleiche Mathematik für Kathedralbau und Musik

Ob nun die Gliederung von zeitlichen und klanglichen Verhältnissen in der Musik oder die proportionale Anordnung von Bauelementen einer Kathedrale: Beides beruht auf ähnlichen mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Und so konnten sich die beiden Disziplinen Musik und Architektur gegenseitig befruchten.
Ein Chor singt im Inneren der Kathedrale Notre Dame de Paris.
Als Musik noch richtig groß war: Die Gesänge von Notre-Dame spiegelten die göttliche Weltordnung.© Getty Images / Godong
Zimmermann beschreibt das als Kathedralräume von neuen Dimensionen – die von Musik mit neuen Dimensionen erfüllt sein wollen: "Aber nicht mit irgendeiner Musik, die einfach nur durch Lautstärke oder größere Besetzung groß wird, sondern Musik, die von innen her groß ist – in ihrer Faktur, in ihrer Beschaffenheit. Größe durch Struktur, durch Architektur. Und tatsächlich, Sie können dieses Spiel mit Parallelen in Architektur und Musik auf verschiedensten Ebenen weitertreiben."

Vom Einklang zur Mehrstimmigkeit

Zur Architektur der Musik sagt die Wissenschaftlerin: "Die Musik ist so organisiert, dass sie sich immer wieder säulenhaft bündelt zu Klangwechseln, zu klingenden Säulen. Fast alle großen Organa beginnen mit einer Klangsäule, auf der zunächst einmal alles aufruht. Und dann bewegt es sich wie ein gewölbter Bogen, und dann kommt irgendwo die nächste Klangsäule – und damit wechselt die Farbe." Die Musik an Notre Dame entfaltet eine noch nie dagewesene Komplexität. Die Stücke werden nun sehr viel länger. Noch bedeutender aber ist, dass die vormals einstimmigen Gesänge nun mehrstimmig sind. Drei oder sogar vier Sänger oder Gesangsgruppen können jetzt gleichzeitig unterschiedliche Melodien singen.
Damit dies möglich ist, musste die Musik zuvor aber in für alle Stimmen verbindliche Zeiteinheiten gegliedert werden. Hierfür erfanden die singenden Kleriker rhythmische Muster, sogenannte Modi. Die können sich auch überlagern, da sie in einem proportionalen Verhältnis zueinander stehen. Hierfür sind einfache Zahlenverhältnisse von eins zu zwei oder zwei zu drei bestimmend.

Eine eigene Notenschrift für Rhythmik

Das Schwingungsverhältnis der Töne eines Klanges, C und G zum Beispiel, beträgt Zwei zu Drei. Der damit verbundene Tonabstand einer Quinte war in der Notre-Dame-Epoche äußerst beliebt. Der gesamte Aufbau dieser Musik besteht also vorwiegend aus zwei-, drei- und vierteiligen Proportionsverhältnissen. Mit der Erfindung dieser neuartigen Musik geht ein weiteres einher: ihre Verschriftlichung.
"Es entsteht in dieser Zeit ein Bewusstsein dafür, dass das, was an Musik entsteht, nicht einfach nur für den Tagesgebrauch komponiert wird", sagt Zimmermann. "Das ist so hohe Kunst, korrespondierend mit der Größe von Kathedralen und so weiter, das ist so hohe Kunst, auch in dem, was im Detail da steckt, an kompositorischer Finesse - das soll überdauern!" Daher erfanden die musizierenden Kleriker in Notre-Dame eine ganz neue Notenschrift: Die Modalnotation. Auch darin steckt eine in ihrer Bedeutung kaum zu ermessende Kulturleistung. Diese Notation gibt die Töne an, zeigt aber auch in welchem Modus, also rhythmischen Muster, die jeweilige Gesangsstimme verläuft.

Harmonie durch die richtigen Proportionen

Dabei wird insbesondere das proportionale Verhältnis der Stimmen zueinander ersichtlich. So wie in der Architektur die Proportionalität der verschiedenen Bauteile zueinander der Kathedrale ihre architektonische Harmonie und notwendige Statik verleiht, nehmen in der Musik die verschiedenen musikalischen Elemente in einem mehrstimmigen Stück aufeinander Bezug.
Zwei der an Notre-Dame tätigen Komponisten sind in die Musikgeschichte eingegangen: Leonin und Perotin. Sie waren Geistliche sowie Mitglieder und Lehrer der eigens an Notre Dame etablierten Musik- und Gesangsschule, der Schola.
"Die Persönlichkeiten, die sich da ein wenig herauskristallisieren, ohne dass ganz klar wäre, wie ihre Identität zu bestimmen ist, diese Persönlichkeiten – Leonin und Perotin, die gehören in dieses Umfeld", erklärt Ann-Katrin Zimmermann. "Die nehmen in diesem Kreis der Sängerausbildung entscheidende Funktion und Positionen ein, die wissen, worauf sie zurückgreifen können. Die sind mit in der Entwicklung der Schrift dabei, würden sich selbst ja nicht als Komponisten bezeichnen, sondern als Menschen, die zu diesem Repertoire beitragen, die diesen kirchlichen Schmuck, diesen klingenden, tönenden kirchlichen Schmuck bereichern, um ihre Zutaten."

Die göttliche Weltordnung in Klängen

Als Ausgangspunkt für diese neuartige Musik diente Léonin und Pérotin der gregorianische Choral, der schon seit Jahrhunderten in den Gottesdiensten einstimmig gesungen wurde. Doch neben der teilweise minutiösen Erweiterung dieser Gesänge in Bezug auf ihre Länge und Mehrstimmigkeit erfand Perotin auch eine ganz eigene vierstimmige Musik, die in sogenannten Klauseln zur prunkvollen Entfaltung kam. Gesungen wurde all dies vor allem in den Festgottesdiensten. Die Sänger der Schola waren dabei im Altarraum der Kathedrale und damit von den Gottesdienstbesuchern getrennt. Umso größer muss daher die Wirkung ihrer Musik gewesen sein.
Die an Notre-Dame entstandene revolutionäre Kirchenmusik verbreitete sich dank ihrer Verschriftlichung schnell in ganz Europa. An anderen Kathedralen und weltlichen Höfen arbeiteten Musiker an den neu geschaffenen Möglichkeiten weiter. Auf dieser Grundlage entstanden musikalische Formen wie zum Beispiel die Motette, die in den nachfolgenden Jahrhunderten eine bedeutende Rolle spielte.
Was an Notre-Dame entstand, bleibt einzigartig. Denn in dieser Musik offenbart sich eine aus Zahlen und Proportionen bestehende und von vielen damals als göttlich empfundene Weltordnung.
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