Alain de Botton: Die Nachrichten. Eine Gebrauchsanweisung
Aus dem Englischen von Barbara von Bechtolsheim
Fischer Taschenbuch Verlag
255 Seiten, 10.99 Euro
Die nächste Sensation wartet schon
Aufgeregt, grell, ohne Zusammenhang: Alain de Botton nimmt in seinem neuen Buch den heutigen Nachrichtenjournalismus ins Visier - und fordert von den Redaktionen einen anderen Blick auf die Welt.
Für wen hat Alain de Botton diese Gebrauchsanweisung geschrieben - für Leser, Hörer und Zuschauer? Oder für Nachrichtenredakteure? Die Perspektive wechselt und für beide Seiten hält er Ratschläge bereit. Er appelliert und regt zum Nachdenken an.
"Regelmäßig sind wir mit Schlagzeilen von offenkundiger Wichtigkeit konfrontiert, die uns doch persönlich nichts angehen. Langeweile und Verwirrung sind die häufigsten, aber zugleich beschämenden und daher schnell verdrängten Gefühle, welche die Medienunternehmen moderner Demokratien mit ihren sogenannten 'ernsten' politischen Nachrichten evozieren."
Über Zusammenhänge dürfen wir rätseln
Abstumpfung, Gleichgültigkeit, Überdruss, Verwirrung sind die Folgen, meint de Botton. Ausschnitte der Wirklichkeit werden vorgeführt, zufällig und ungeordnet ausgewählt, nur selten mit der Vorgeschichte und noch seltener tags darauf mit einer Folgegeschichte, denn die nächste Sensation wartet schon. Ein Schlagzeilengewitter geht auf uns nieder, über Zusammenhänge dürfen wir rätseln.
"Ob ein Krieg in Afrika einer neuen Schuhkollektion vorgezogen werden sollte, ein weggelaufener Tiger den Inflationszahlen, die Vergewaltigung eines hübschen, weißen Schulmädchens aus der Mittelklasse der Enthauptung eines obdachlosen Schwarzen, hängt von den Methoden der Klassifikation ab, die von den merkwürdigen, insgeheim gehegten Vorurteilen in der Gesellschaft zeugen."
Vielleicht ist das zugespitzt und übertrieben. Redliche Nachrichtenredakteure wissen, wonach sie Themen auswählen: das Ereignis sollte neu sein, eine geografische oder psychologische Nähe haben, Relevanz aufweisen. Doch sind auch Sex oder Gewalt sehr dienlich, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Alain de Botton meint: Hier läuft eine Hitparade der Aufregung vor uns ab, düster müssen die Meldungen sein, blutrünstig, abartig. Eine gestaltete Wirklichkeit, Ausnahmesituationen, nicht die Regel. Denn die Regel wird als langweilig angesehen. Von Nachhaltigkeit keine Spur.
"Die Berichterstattung stellt die Probleme auf eine Weise dar, dass sie unseren Willen oder auch unsere Fähigkeit einschränkt, uns etwas ganz anderes vorzustellen. Durch ihre einschüchternde Macht wirken die Nachrichten betäubend. Auch wenn vielleicht niemand dies so gezielt intendiert, werden dadurch zaghafte, möglicherweise wichtige Gedanken zerstört."
"Wir brauchen Medien, die uns neugierig machen"
25 Nachrichtenmeldungen (aus der englischsprachigen Medienwelt) hat sich Alain de Botton ausgesucht und seinen Kapiteln mit einem Zitat vorangestellt. Das reicht von einem Flugzeugabsturz über einen Mord, von einem Celebrity-Interview bis zu einem politischen Skandal. CNN, BBC, CBS News werden ebenso aufs Korn genommen wie Daily Mail oder Daily Telegraph. In allen diesen Meldungen geht es aufgeregt und grell zu, allen möchte de Botton Luft aus dem Gebläse nehmen.
"Wir brauchen Medien, die uns neugierig machen und klarstellen, wie ihre Berichte in die größeren Themen passen, für die erst eigentlich ein ernsthaftes Interesse besteht. Aufgabe der Medienunternehmen wäre es, sozusagen als Bibliothekare tätig zu werden. Sie sollten uns vermitteln, wie kleinere Ereignisse mit einer größeren Thematik zusammenhängen."
Verschwenden Sie Ihr kurzes Leben nicht! Bleiben Sie bei sich selbst und sorgen Sie sich um ihre kleine Welt! Werden Sie demütig und fürsorglich und gelassen im Angesicht der Vergänglichkeit! Manches Mal erinnern de Bottons Vorschläge an gutgemeinte Tipps aus der Ratgeberecke. Doch immer wieder setzt de Botton Akzente, die innehalten lassen.
"Das ideale Nachrichtenunternehmen der Zukunft würde berücksichtigen, dass ein Interesse an Anomalien von der vorherigen Kenntnis des Normalzustandes abhängt, und würde deshalb regelmäßig Berichte in Auftrag geben, die zur Identifikation mit dem verbindenden Element der Menschlichkeit einladen, das es selbst in den entlegensten und verwüsteten Teilen dieser Welt gibt. Wenn man etwas über die Straßenfeste in Addis Abeba, über die Liebe in Peru und Schwiegereltern in der Mongolei weiß, wird der nächste verheerende Taifun oder Gewaltakt einem als Leser oder Zuschauer gewiss etwas nähergehen."
Die stimmige Analyse ist sehr verengt
Und dann fügt er sprechende Fotos aus dem Alltagsleben hinzu, auf denen ahnungslose, betrübte Partner aus Kinderehen zu sehen sind oder fröhliche, ausgelassene Jugendliche aus Armutsvierteln am Ende der Welt. Sehr lebendig wirken diese Fotos, nicht so steril wie die gewöhnlichen Abbildungen von Regierungstreffen beispielsweise.
Alain de Botton deutet die Meldungen und beschreibt den Mangel; er fordert einen anderen Blick auf die Welt; er mahnt Journalisten, sich beispielsweise Reiseliteratur von Schriftstellern anzuschauen und zu analysieren, wie diese den Leser für die fremde Welt interessieren.
Freilich ist die stimmige Analyse auch verengt: Nachrichten liefern nun mal keine Hintergründe, keine Analysen, keine Zusammenhänge. Dafür sind Reportagen da, Interviews oder Kommentare. Insofern nimmt de Botton allein jenen Ausschnitt der Medienwelt unter die Lupe, der besonders grell daherkommt. Alain de Botton hat ein Buch für die Stille nach dem Lärm von Agenturmeldungen verfasst. Eine Bestandsaufnahme des Journalismus ist es nicht.