Ein Mittwoch im Winter. Draußen ist es schon seit zwei Stunden dunkel. Den gesamten Tag über war es nass und kalt. Es ist kurz vor 18 Uhr und mein Arbeitstag beginnt heute ausnahmsweise erst jetzt. Für Hunderttausende in Deutschland ist das Alltag: Ich möchte drei von ihnen heute begleiten: Maria, Sarah und Jens. Mich interessiert, warum arbeiten sie nachts? Und wie geht es ihnen damit?
"Ich bin eine One-Woman-Show"
In trister Regenstimmung – wie so oft in Bremen – fahre ich zu „Frau Maria“, einer Kneipe in der Bremer Neustadt. Besitzerin Anna-Maria Bilz macht gegen 19 Uhr auf. Aber als ich eine Stunde vorher ankomme, ist sie lange schon da: „Ja ist immer unterschiedlich, aber schon ein bis zwei Stunden vorher. Muss noch ein bisschen auffüllen auch sauber machen und so. Ich bin eine One-Woman-Show. Ich mache alles selbst.“
Das sagt sie mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Maria ist Ende 60. Genau weiß ich das nicht, traue mich aber nicht zu fragen. Sie hat ihre langen grauen Haare nach hinten zum Zopf gebunden. Fast jeden Tag bedient sie hier ihre Gäste – bis in die Morgenstunden.
Wieso mache ich es gerne? Du lernst viele Leute kennen, du lernst sie anders kennen, als wenn du vielleicht mit ihnen arbeiten würdest. Ich glaube, dass man hier ein bisschen lockerer mit ihnen umgeht. Es war für mich nie ein Problem, nachts zu arbeiten.
Anna-Maria Bilz, Kneipenwirtin
Sie steht hinter einem mächtigen holzvertäfelten Tresen. An der Rückseite befindet sich ein Wandregal mit Gläsern und Spirituosen. Vorne am Tresen sitze gerade nur ich, sonst meist Stammgäste.
Sechs Tische, 40 Gäste, Raucherkneipe
Das „Frau Maria“ ist eine Eckkneipe in der Bremer Neustadt. Zu Essen gibt es hier nichts, dafür darf geraucht werden. Maria hat es irgendwie geschafft, der Schwere in diesem Kneipenraum Herrin zu werden. Er ist gut 30 Quadratmeter groß, sechs Tische und bis zu 40 Gäste finden hier Platz.
Alles ist in Grün gehalten: die Bezüge der Stühle, die Sessel, die Vorhänge. An der Wand hängen Fotos von Musikerinnen und Trinksprüche. Die Decke ist holzvertäfelt, erdrückt einen aber nicht. Eher hat der gesamte Raum etwas Leichtes, Unbeschwertes. Das liegt auch an Marias freundlicher Ausstrahlung.
Bis auf das Fässer schleppen macht die Wirtin Anna-Maria Bilz in ihrer Kneipe in der Bremer Neustadt alles selbst.© Deutschlandradio / Heinrich Pfeiffer
Die ersten Stammgäste sind da: Sie übergibt den beiden Jungs kurz die Verantwortung für den Laden und dann geht es runter in den Keller. Dort prüft Maria die 50-Liter-Fässer, schaut, ob sie noch voll sind oder heute gewechselt werden müssen. Bis auf das Anheben der Fässer, schaffe sie alles noch selbst, sagt Maria. Eigenständigkeit ist ihr enorm wichtig. Deshalb hat sie sich auch beruflich selbstständig gemacht.
„Weil ich das so machen kann, wie es mir gefällt. Ich kann meine eigenen Entscheidungen treffen. Ich werde nicht angekackt, wenn ich irgendwas falsch gemacht habe. Ich kann immer entscheiden, mache ich das heute oder nicht. Also ich würde mich immer wieder selbstständig machen, auch wenn es bedeutet, dass du sehr viel mehr arbeiten musst“, sagt sie.
Seit 46 Jahren am Zapfhahn
Zehn- bis Zwölf-Stunden-Schichten, sechs Tage die Woche und immer bis in die Morgenstunden. Mit Ende 60. Eine Aushilfe beschäftigt sie, aber meist ist sie allein. Ihr Leben spielt sich vornehmlich im Laden und damit in der Nacht ab. Ihr Morgen beginnt, wenn andere Mittag essen.
„Ich stehe immer so zwölf Uhr mittags auf und danach frühstücke ich ein richtig gesundes reichhaltiges Müsli und meistens, wenn ich dann hier ankomme um vier, dann mache ich mir immer noch was zu essen“, erzählt sie. „Das kann eine Suppe sein, meistens mache ich mir hier auch eine Stulle. Und was ich immer mache, wenn ich von zu Hause losfahre: Ich trinke immer noch irgendwo einen Kaffee. Zehn Minuten innehalten und dann geht es los.“
Seit 46 Jahren steht sie am Zapfhahn. Zu Beginn auf See. Auf einem Schiff lernt sie ihren späteren Mann kennen. Gemeinsam eröffnen sie Mitte der 1970er-Jahre ihre erste Kneipe in der Bremer Innenstadt. Nach dem Tod ihres Mannes ist sie in der Bremer Neustadt gelandet: Seit Jahren ein alternativer Trendbezirk im Süden der Hansestadt, in dem Studierende und zugezogene Familien auf Alteingesessene und Geringverdienende treffen – auch an Marias Tresen.
In der Zwischenzeit – es ist kurz vor 19 Uhr – sind weitere Gäste gekommen. Zwei Frauen und ein Mann, so Mitte 30. Zu früh eigentlich, aber kein Problem. Wichtig ist Maria, dass es entspannt zugeht. Mindestens genauso wichtig wie der Umsatz.
Ich kann es nicht ab, wenn irgendjemand schreit oder grölt oder irgendwie andere Leute anmacht oder immer wieder ins Gespräch reingeht oder so. Genau, es soll entspannt sein. Das ist für mich wichtig, weil ich viele Stunden hier stehe, dann will ich es auch hier entspannt haben.
Anna-Maria Bilz, Kneipenwirtin
Sonntags bleibt der Laden zu
Eine gute Menschenkenntnis sei wichtig, vor allem, wenn mal als Frau nachts allein in dem Job arbeite. Ihr ist klar, dass jederzeit etwas passieren könnte, aber sie lässt sich nicht einschüchtern. Vor zwei Jahren stand ihr beim Putzen ein Einbrecher gegenüber, den sie ruhig aber bestimmt vor die Tür setzte.
Was sonst noch schwierig ist an der Nachtarbeit, frage ich sie. „Vielleicht ist es schwierig, dass man dann arbeitet, wenn andere Leute freihaben. Und dadurch du auch keine Freunde hast, mit denen du irgendwas gemeinsam machen willst. Es sei denn, ich würde dann jemanden anrufen und sagen, machst du mal meine Schicht.“
Aber das passiert höchstens einmal im Jahr. Nur sonntags bleibt der Laden zu. Dann ist sie zu Hause, wäscht Wäsche, macht die Buchhaltung – arbeitet also auch.
Inzwischen ist es halb acht: Bei „Frau Maria“ ist es schlagartig voller geworden. Gut 20 Gäste sind jetzt hier. Maria wuselt durch den Raum, nimmt Bestellungen auf, spricht drei Sätze mit den Gästen, verschwindet wieder hinterm Tresen, mixt Getränke, zapft die zwei Biere, die sie hat. Ein Pils und ein schweres Dunkles aus Süddeutschland.
"Ich bin nicht so offensiv"
Sie hofft auf einen guten Tagesumsatz. Das heißt: mindestens ein Getränk alle halbe Stunde pro Besucher, wenn es so voll bleibt. Aber die Leute bedrängen will sie deswegen nicht.
„Die meisten stellen sich unter Wirtin etwas anderes vor: Weil ich bin nicht so offensiv, bisschen dezent“, sagt sie. „Da kommt mein Freund. Der will dich auch noch kennenlernen, heute hat er sich schick gemacht. Ich habe ihm erzählt, dass du heute kommst.“
Vor der Tür wartet ein junger Mann in seinem Rollstuhl, auch ein Stammgast. Maria geht sofort raus, um ihn zu empfangen. Er ist der Sohn einer guten Freundin. Meist trinkt er Kaffee und Cola den ganzen Abend. Sicher nicht der umsatzstärkste Kunde. Aber auch die sind hier willkommen.
Maria eilt schon zum nächsten Gast. Für mich hat sie jetzt kaum noch Zeit. Deshalb verabschiede mich fürs Erste. Später werde ich noch mal reinkommen. Ich will wissen, wie der Abend, der hier offenbar so gut beginnt, weiterläuft. Und wie es Maria geht nach der heutigen Nachtschicht.
Schrubben gegen Hautschuppen
Ich steige ins Auto. Vor mir liegen 70 Kilometer bis nach Bösel: Ein Ort südwestlich von Oldenburg. Es ist kurz nach neun, die Straßen komplett leer. In einigen der vorbeiziehenden Häuser brennt Licht, ansonsten ist es aber stockdunkel.
Ich denke an Maria: Sie sagt, dass sie kein Problem damit hat, die Nächte durchzuarbeiten. Aber ist es wirklich so einfach für sie? Oder nimmt sie die Nachteile stillschweigend in Kauf, weil das einfach zu dem Job dazugehört, den sie so liebt? Ich bin jedenfalls noch ganz beeindruckt von ihrer Energie, als ich in Bösel ankomme.
Für Sarah ist das Putzen im Hallenbad ein Nebenjob. Tagsüber macht sie eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin.© Deutschlandradio / Heinrich Pfeiffer
Vor dem Hallenbad treffe ich Sarah. Sie ist 28, klein, hat lange schwarze Haare. Um halb zehn fängt ihre Schicht an. Sie führt mich in den Reinigungsmittelraum. Dort zieht sie einen blau-weißen Kittel über und fängt an, ihre Putzutensilien zusammenzusammeln. „Das ist ein Spezialreiniger für die Duschen, um die Fettschichten und Hautschuppen abzukriegen. Das geht damit am besten“, erklärt sie.
Seit drei Monaten kommt Sarah jeden Abend zum Putzen in das Bad. Nur sonntags hat sie frei. Es ist ein Nebenjob, damit sie finanziell besser über die Runden kommt, denn tagsüber macht sie eine Weiterbildung zur Hauswirtschafterin.
30 Euro für zwei Stunden körperlich harte Arbeit
Zwei Stunden hat sie Zeit, um die beiden Umkleidekabinen, die Toiletten und die Duschen komplett schick zu machen. Damit kommt sie auf rund 30 Euro. Mehr gibt es nicht – auch wenn sie länger braucht.
Nach der Vorbereitung geht es in die erste Umkleidekabine: Sarah hält eine kleine Sprühflasche in der Hand und spritzt damit alle Wände im Duschraum und die Toiletten ab. Danach spült sie mit Wasser nach. Es ist extrem schwül, dazu der Chlorgeruch in der Nase. Ich schaue ihr nur zu und schwitze schon. Es ist eine körperlich anstrengende Arbeit, die Sarah hier macht. Oft hat sie außerdem Angst in diesen großen leeren Räumen.
Du bist hier komplett alleine, draußen ist alles dunkel. Das ist natürlich nicht so schön. Man weiß eben auch nicht, was für Leute draußen herumlaufen. Vor allem manchmal, wenn du hier stehst, hörst du die Tauben auf dem Dach, wie sie da herumlaufen, und dann hörst du das Knacken von der Heizung. Das sind solche Sachen, die will ich nicht hören. Das macht mir einfach Angst.
Sarah, Reinigungskraft
Um solche Geräusche auszublenden, hört Sarah Metal und Hardcore über Kopfhörer. Sie hat schon viele Jobs ausprobiert, sagt, sie habe einen extrem „langen“ Lebenslauf und meint damit einen unsteten. Davon ist sie selbst enttäuscht. Deshalb macht sie jetzt diese Hauswirtschaftsausbildung, um endlich einen Berufsabschluss zu haben. Als Reinigungskraft war sie schon in vielen Bereichen tätig: Altersheime, Polizeireviere und eine Diskothek waren darunter. Auch Nachtarbeit.
„Das war was ganz anderes, du hattest Musik nebenbei, du hattest deine Arbeitskollegen, da hat man auch ein bisschen Party nebenbei gemacht, bisschen getanzt. Da kann man sich länger wachhalten, als wenn man hier ist. Ich finde, hier ist das anstrengender als in der Diskothek“, erzählt sie.
Schlafstörungen als Nebenwirkung
Sarah will nur noch so lange wie unbedingt nötig nachts arbeiten. Im Gegensatz zu Maria klagt sie offen über Schlafstörungen – eine häufige „Nebenwirkung“ von Nachtarbeit. Momentan kommt sie nur auf fünf bis sechs Stunden Schlaf pro Tag.
„Jetzt muss ich mich ja so lange wachhalten und wenn ich zu Hause bin, kann ich nicht schlafen. Weil dann habe ich ja was gemacht und dann kommst du nicht in den Schlaf“, erklärt sie.
Am nächsten Morgen muss sie wieder früh raus und selbst wenn sie mal ausschlafen könnte, werde sie früh wach – weil es schon hell ist oder draußen der Tageslärm einsetzt. Ich beobachte, wie Sarah die Oberflächen schrubbt, die sie zuvor eingesprüht hat.
Dann setzt sie alles mit einem Schlauch unter Wasser. Ihr Trick ist, den Schlauch zweimal in sich zu knicken. „Dann brauch ich nicht immer den Wasserhahn wieder zu machen, weil das wäre sonst total blöd.“
Damit unterbricht sie den Wasserfluss und spart sich Wege. Es sind jetzt schon 45 Minuten um. Zum Schluss kommt der Abzieher ins Spiel. Eine Art Besen, der dafür da ist, Wasser zu entfernen. „Haare sind hier ganz schlimm, die gehen nie weg“, erklärt sie.
Die Luftfeuchtigkeit gepaart mit der Wärme und dem Chlorgeruch sind auf Dauer schwer zu ertragen. Nach den Damenumkleiden machen wir eine Rauch- und Trinkpause. Eine Stunde ist jetzt um. Es ist 22 Uhr 30. Auf dem Weg nach draußen erzählt Sarah mir, dass am Wochenende oft Männergruppen vor dem Hallenbad trinken.
"Keiner kriegt mit, dass du überhaupt hier bist"
Das Einzige, was Sarah an der Arbeit hier gefällt, ist die Freiheit. Niemand guckt ihr über die Schulter und kontrolliert sie. Solche Stellen hatte sie auch schon. „Immer ist dir irgendjemand auf den Keks gegangen und hier hast du einfach Ruhe, keiner guckt dir auf die Finger, keiner kriegt irgendwas mit, dass du überhaupt hier bist. Das ist eigentlich ganz schön.“
Ruhe ist für viele ein entscheidender Pluspunkt der Nachtarbeit. Heute habe ich Sarah allerdings mit meinen Fragen aufgehalten und sie ist nicht gut in der Zeit. Deshalb packe ich jetzt mit an: Ich probiere mich mit dem Abzieher. Die Haare am Boden nerven tierisch.
Zusammen können wir schnell die Zeit wieder einholen und machen die letzten Handgriffe. Es ist jetzt kurz vor halb zwölf. Nicht ganz zwei Stunden hat Sarah heute fürs Putzen des Hallenbades gebraucht.
Mit dem Auto geht es für mich zurück nach Bremen. Es ist kurz vor zwölf. Sarah muss jetzt noch eine Weile runterkommen, bis sie einschlafen kann, der Job macht ihr körperlich zu schaffen. Mir brummt der Schädel von der schlechten Luft, ich trinke viel, um wieder mit halbwegs klarem Kopf Auto fahren zu können.
Dabei fällt mir wieder ein, dass auch Kopfschmerzen, und Konzentrationsstörungen als häufige Folge der Nachtarbeit genannt werden. Das kann ich mir jetzt schon ganz gut vorstellen und müde werde ich langsam auch.
Wachmann für ein ganzes Kraftwerk
Ich fahre zu Jens Behrendt. Er bewacht ein Energiekraftwerk in Bremen. Als ich ankomme, ist es halb eins. Die letzte Strecke vom Auto bis zu ihm gehe ich zu Fuß. Mehrere Blöcke sind hier in Betrieb, ein riesiger weißer Schornstein mit Warnlichtern für den Flugverkehr ragt über allem. Wie Sarah freut sich auch Jens über meinen nächtlichen Besuch.
Jens stammt aus Brandenburg, das hört man noch. Er ist 54 Jahre, etwa 1 Meter 70 groß, kurz geschorenes Haar, Brille, verschmitztes Lächeln und immer einen Spruch auf den Lippen. Wir treten in sein Reich: Ein kreisrundes Häuschen, in dem Jens Wache hält. Überall sind Fenster. So kann Jens die Zufahrt und das Kraftwerk gut beobachten. An die neun Bildschirme stehen hier. Auf einigen laufen Kameraüberwachungen des Kraftwerks, andere zeigen das Wetter oder eine Nachrichtenseite.
"Wir sind für die Sicherheit da": Jens Behrendt bewacht seit 15 Jahren in Bremen ein Energiekraftwerk.© Deutschlandradio / Heinrich Pfeiffer
Jens‘ Schicht geht heute von halb zehn bis morgens um sechs. Wir setzen uns auf Drehstühle und beginnen über seine Arbeit zu sprechen. Die meiste Zeit verbringt er in diesem 25-Quadratmeter-Raum. Er hat die Kameras im Blick, bereitet die Zugangskarten für die Besucherinnen und Besucher vor, die am nächsten Tag erwartet werden, nebenbei hört er Radio.
Jens reicht mir eine Schutzbrille und einen Helm. PSA, wie es hier heißt: Meine persönliche Schutzausrüstung. Die soll ich aufsetzen. Heute nimmt er mich mit auf seinen Kontrollrundgang. Es ist kurz vor eins. Das Gelände wirkt bedrohlich auf mich. Die Umrisse der Gebäude sind nur schemenhaft zu erkennen. Das Kraftwerk ist nur spärlich beleuchtet. Es regnet. Das alles scheint Jens nichts auszumachen.
Mit sicheren Schritten steuert er eine Tür an. Daran ist ein Sender befestigt. Jens hält eine Art Lesegerät daran, es piept und wir gehen weiter. Ungefähr 40 solcher Stationen muss er bei seinen nächtlichen Rundgängen ablaufen. Damit weist er nach, dass er dort war.
Wir sind für die Sicherheit da und dafür kontrollieren wir die Zäune und auch die Tore, dass die verschlossen sind. Man hat hier Ruhe, man atmet schöne Luft, man ist am Wasser. Also was soll man dazu sagen. Musste nur aufpassen, dass du nicht in die Pfützen trittst.
Jens Behrendt, Wachmann
12,57 Euro plus Nachtzuschlag
Links ist eine circa 800 Meter lange Kaimauer, an der Schiffe anlegen können, rechts das Kraftwerk mit seinen riesigen Blöcken, in denen Müll verbrannt wird. Über allem liegt ein stetes Kraftwerksrauschen. Es ist vollkommen friedlich. Meist bleibt das auch so. Nur manchmal muss man sich in Acht nehmen: „Wenn die Möwen ihre Junge haben, dann musste ganz schön aufpassen. Die attackieren einen. Nicht nur nachts, tagsüber auch.“
In den mittlerweile 15 Jahren, in denen Jens hier arbeitet, sei noch nie etwas Ungewöhnliches passiert. Wir sind jetzt etwa 20 Minuten unterwegs. Er bleibt stehen. An der Kaimauer der Weser. „Zwischenzeitlich bleibe ich immer, wenn es jetzt nicht so doll regnet, bleibe ich hinten stehen und schaue, ob sich da was im Geräuschpegel ändert.“
Wenn sich etwas komisch anhört, meldet er das direkt. In manchen Monaten arbeite er bis zu 210 Stunden hier, je nach Dienstplan. Manche Schichten dauern zwölf Stunden.
12,57 Euro plus fünf Prozent Nachtzuschlag verdient er. An Sonntagen gibt es 50 Prozent Zuschlag und an Feiertagen 100. Wir erreichen langsam wieder sein Wachhäuschen. Eine knappe Stunde haben wir gebraucht. Wir ziehen die nassen Jacken aus.
Jens erzählt mir, dass er schon 1995 nach Norddeutschland gekommen ist. Erst arbeitet er in der Landwirtschaft. In Ostfriesland. Doch dann hat er einen schweren Arbeitsunfall. Was folgt, ist eine OP, bei der die Wirbelsäule versteift wird. Harte körperliche Arbeit wird für ihn unmöglich. Er macht eine Umschulung, geht zum Sicherheitsdienst.
Keine Karriere bei der Polizei
Eigentlich war Jens Facharbeiter für Agrartechnik von Beruf. Als Jugendlicher wollte er so früh wie möglich weg von zu Hause. Die Eltern haben getrunken, ihn und seine sechs Geschwister geschlagen, die Lehre war sein Ausweg.
„Da habe ich dann gesagt: mit 14 raus. Rein in die Lehre, habe zugesehen, dass ich da immer in einem Lehrlingswohnheim bleiben konnte. Habe dann auch versucht am Wochenende bei der Nachbarin – ich will nicht nach Hause – meine Wäsche zu waschen. Habe dann später über das Jugendamt ein möbliertes Zimmer gekriegt, wo ich dann auch meine Wäsche waschen konnte und dann gesagt gehabt: Jetzt komme ich zur Ruhe“, erzählt er.
Nach der Lehre geht er zur Nationalen Volksarmee der DDR. Bewachung, wie er sagt, habe er dort zu Genüge gemacht – einer der Gründe, warum er beim Sicherheitsdienst gelandet ist. Er hätte sich nach seiner Dienstzeit auch eine Karriere bei der Polizei oder dem Rettungsdienst vorstellen können. Doch die Versteifung seiner Wirbelsäule verhinderte dies.
Was es für ihn bedeute, hier nachts zu arbeiten, frage ich ihn. „Für mich heißt das, ich gebe den Angestellten, die hier am Tage über ihre Tätigkeiten ausüben, die Sicherheit, dass ihr Betrieb bewacht wird und keine Beschädigungen auftreten können oder so was, dafür bin ich verantwortlich.“
Ich frage ihn mehrmals, wie sich die ständigen Nachtschichten auf sein Leben auswirken. Wie es um seinen Schlaf bestellt ist, seine Sozialkontakte, wie es ihm gesundheitlich geht. Aber Jens wiederholt nur stoisch, dass er froh ist, diesen Job zu haben, und er hat ein klares Ziel vor Augen.
Sobald ich Rentner bin, werde ich auch wieder in meine Heimat ziehen, denn da haben wir wenigstens unsere Ruhe. Da haste kaum Verkehr, ja ist so, Heimat zieht immer wieder zurück. Ich bin im Osten aufgewachsen, ich bin im Osten geboren und der Osten zieht mich wieder zurück.
Jens Behrendt, Wachmann
Abende wie Geburtstagsfeiern
Gegen halb drei Uhr nachts fahre ich mit gemischten Gefühlen von diesem einsamen Ort weg. Für Jens ist er irgendwie zur Erfüllung geworden, gibt ihm Sinn. Er findet es toll, gebraucht zu werden. Von den Maschinen und den Menschen, die mit ihnen arbeiten. Es ist gegen drei, als ich wieder am „Frau Maria“ ankomme.
Maria räumt gerade mit einem Stammgast die Stühle rein, die draußen vor dem Laden standen. Es sind noch drei Gäste da. Zwei befreundete Frauen Mitte 40 und ein älterer Mann mit Glatze. Sie sitzen am Tresen. Die umliegenden Tische sind schon abgewischt und für den morgigen Tag bereit. Maria macht mir einen Drink.
„Sandro war bis Mitternacht da: drei Kaffee, drei Cola. Aber er war ganz glücklich da zu sitzen und rund herum war etwas los um ihn“, erzählt sie. Die Stimmung war gut, der Umsatz auch. Fast alle Tische waren den ganzen Abend über besetzt. Wie hoch ihre Einnahmen genau waren, will sie nicht verraten, nur so viel: Die Leute haben getrunken. Sie lächelt zufrieden.
Aber körperlich anstrengend war es natürlich auch: „So was kannst du nur, so wirklich Stunden arbeiten und das alles zu machen, das kannst du nur, wenn du wirklich einfach Lust dazu hast. Sonst geht das nicht. Man muss es wirklich mögen, muss voll dahinterstehen, sonst klappt das nicht, sonst bist du auch nicht erfolgreich.“
Für Maria sind Abende wie dieser wie eine Geburtstagsfeier, sagt sie. Es kommen Besucher, Freundinnen, sie feiern quasi in ihrem Wohnzimmer, das sie gemütlich eingerichtet hat. Sie ist in Gesellschaft.
Und das Geschenk ist der Umsatz: „Dann kommt ein sehr schöner Teil des Abends, das heißt ich zähle gleich mein Trinkgeld und später mache ich die Kasse. Ich muss aber jetzt erst mal noch die Theke fertigmachen.“
Feierabend um vier Uhr früh
Maria wirkt erstaunlich fit nach der Nacht. Der letzte Gang führt immer zum Männerklo. „In manchen Läden hast du diesen stechenden Geruch. Man sollte immer abends bevor man rausgeht noch mal durchspülen. Auch wenn ich wiederkomme, mache ich es nochmal.“
In ein paar Monaten ist an dieser Stelle Schluss. Maria geht in Rente. Darauf freut sie sich, denn dann kann sie endlich regelmäßig richtig für sich kochen. Das passiert gerade nur sonntags. Außerdem will sie viel mehr rausgehen, als es jetzt möglich ist und sich wieder mehr um ihre Freundschaften kümmern.
Ans „Frau Maria“ werde sie aber immer zurückdenken, vor allem an die vielen guten Momente natürlich.
Wenn du einen schönen Abend hinter dich gebracht hast. Der sowohl von den Leuten, als auch vom Umsatz her gut war, dann geh ich beschwingt, rufe ich mein Taxi an und freue mich dann nach Hause zu kommen. Genieße dann meistens die Fahrt, meistens fahren wir dann so am Osterdeich entlang, dann noch mal am Wasser entlang zu fahren. Ja, das ist einfach ein schöner Moment.
Anna-Maria Bilz, Kneipenwirtin
Wir gehen zusammen raus aus Marias Laden. Es ist jetzt kurz nach vier. Marias Taxi steht schon abfahrbereit. Sie steigt ein. Ich laufe übermüdet nach Hause und bin froh, dass mich morgen keine weitere Nachtschicht erwartet.