Die Nachtseite Spaniens
Der neue Roman des Altmeisters der spanischen Literatur, Juan Marsé, erzählt von der dunklen Seite des gegenwärtigen Spaniens: von Anschlägen der ETA, Mädchenhandel und Mafiabanden. Im Mittelpunkt steht ein ungleiches Zwillingspaar eines Polizisten und seines geistig behinderten Bruders. Die heimische Literaturkritik zeigte sich wenig begeistert.
Es ist ein düsteres, gewalttätiges, kriminelles Spanien, das Juan Marsé mit seinem neuen Roman zeigt. Der 74 Jahre alte Marsé ist einer der maßgeblichen Autoren Spaniens, er wurde mit dem Premio Nacional de la Crítica und für sein Gesamtwerk mit dem Premio Nacional de Literatura ausgezeichnet, seine Bücher haben hohe Auflagen, auch von seinen Autorenkollegen wird Marsé sehr geschätzt. Seine Bücher spielen häufig im Barcelona der 1940er Jahre, sie erzählen vom Leben und vom Widerstand einfacher Katalanen gegen die Franco-Diktatur. Sein großer Roman "Wenn man Dir sagt, ich sei gefallen" durfte in Francos Spanien nicht erscheinen und musste in Mexiko veröffentlicht werden.
Marsés neuer Roman "Liebesweisen in Lolitas Club" führt in die spanische Gegenwart. Der Antiheld dieses Buches heißt Raúl, ein Polizist, der im Drogenmilieu ermittelt und früher im Undercover-Einsatz bei der ETA war. Raúl ist ein unbeherrschter, brutaler Typ, der bei Verhören und selbst bei Begegnungen auf der Straße unkontrolliert zuschlägt. Nachdem er einen ETA-Gefangenen und den Sohn eines Mafiabosses schwer misshandelt hat, wird er vom Dienst suspendiert. Raúl fährt aus Galicien nach Hause, um seine gefährliche Aufmerksamkeit jetzt auf seine Familie zu richten.
In Raúls Elternhaus in der Nähe von Barcelona leben sein Vater José, seine Stiefmutter Olga und sein Zwillingsbruder Valentín, für den Raúl lange Zeit Mutterersatz und großer Bruder in Personalunion war. Valentín gleicht Raúl äußerlich aufs Haar, nur ist er geistig behindert und, ganz anders als Raúl, ein liebenswürdiger, verträumter, Kind gebliebener guter Mensch. Valentín hat einen Job gefunden, der ihm äußerst gut gefällt, er ist Koch, Kellner und Mädchen für alles in einem Bordell an einer Schnellstraße bei Barcelona, in "Lolitas Bar". Das Wichtigste für ihn: er hat dort Milena getroffen, eine Prostituierte aus Kolumbien, mit der ihn ein zartes, keusches Liebesverhältnis verbindet. Valentín träumt davon, Milena freizukaufen und ihr die Rückkehr zu ihrer Tochter nach Kolumbien zu ermöglichen.
Juan Marsés Roman erzählt davon, wie das ungleiche Brüderpaar miteinander zu kämpfen beginnt. Raúl will Valentín aus dem Bordell herausholen, weil er sich nichts anderes vorstellen kann, als dass Valentín dort ausgenutzt, verhöhnt und gedemütigt wird. Ganz ähnlich wie vorher als Polizist realisiert Raúl nicht mehr, dass sein besinnungsloser Einsatz für das "Gute" die fatalsten Konsequenzen hat. Auch Valentín, sein eigener Bruder, wird zu Raúls Opfer.
Die Nachtseite des gegenwärtigen Spaniens grundiert diesen Roman, Anschläge der ETA, Mädchenhandel, Mafiabanden. Auch die Auseinandersetzung mit der Franco-Diktatur, das große Thema von Juan Marsé, taucht in diesem Roman wieder auf, in der Figur von Raúls Vater José, der im Widerstand gegen Franco aktiv war. Aber das Buch konzentriert sich vor diesem Hintergrund ganz auf das Kammerspiel im Bordell, auf die Geschichte von Raúl, Valentín und Milena. Die wird in wenigen wiederkehrenden Arrangements erzählt, in knappen, ganz auf das Atmosphärische konzentrierten Szenen, denen man die Entstehungsgeschichte dieses Romans deutlich anmerkt, "Liebesweisen in Lolitas Club" sollte ursprünglich ein Filmdrehbuch werden.
Dieser Roman zählt nicht zu den großen Büchern von Juan Marsé, das zeigen auch die Reaktionen in Spanien. Die Kritik ist dort sehr zögerlich und wenig begeistert mit diesem Buch des Altmeisters umgegangen. Der reduzierte filmische Erzählstil des Romans führt zu vielen Einschränkungen, aber dennoch erzählt Juan Marsé von einem interessanten Fall: von einem Mann, den der Kampf für das Recht moralisch verwüstet hat.
Rezension: Frank Meyer
Juan Marsé: "Liebesweisen in Lolitas Club". Roman.
Aus dem Spanischen übersetzt von Dagmar Ploetz.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 253 Seiten, 19,90 €
Marsés neuer Roman "Liebesweisen in Lolitas Club" führt in die spanische Gegenwart. Der Antiheld dieses Buches heißt Raúl, ein Polizist, der im Drogenmilieu ermittelt und früher im Undercover-Einsatz bei der ETA war. Raúl ist ein unbeherrschter, brutaler Typ, der bei Verhören und selbst bei Begegnungen auf der Straße unkontrolliert zuschlägt. Nachdem er einen ETA-Gefangenen und den Sohn eines Mafiabosses schwer misshandelt hat, wird er vom Dienst suspendiert. Raúl fährt aus Galicien nach Hause, um seine gefährliche Aufmerksamkeit jetzt auf seine Familie zu richten.
In Raúls Elternhaus in der Nähe von Barcelona leben sein Vater José, seine Stiefmutter Olga und sein Zwillingsbruder Valentín, für den Raúl lange Zeit Mutterersatz und großer Bruder in Personalunion war. Valentín gleicht Raúl äußerlich aufs Haar, nur ist er geistig behindert und, ganz anders als Raúl, ein liebenswürdiger, verträumter, Kind gebliebener guter Mensch. Valentín hat einen Job gefunden, der ihm äußerst gut gefällt, er ist Koch, Kellner und Mädchen für alles in einem Bordell an einer Schnellstraße bei Barcelona, in "Lolitas Bar". Das Wichtigste für ihn: er hat dort Milena getroffen, eine Prostituierte aus Kolumbien, mit der ihn ein zartes, keusches Liebesverhältnis verbindet. Valentín träumt davon, Milena freizukaufen und ihr die Rückkehr zu ihrer Tochter nach Kolumbien zu ermöglichen.
Juan Marsés Roman erzählt davon, wie das ungleiche Brüderpaar miteinander zu kämpfen beginnt. Raúl will Valentín aus dem Bordell herausholen, weil er sich nichts anderes vorstellen kann, als dass Valentín dort ausgenutzt, verhöhnt und gedemütigt wird. Ganz ähnlich wie vorher als Polizist realisiert Raúl nicht mehr, dass sein besinnungsloser Einsatz für das "Gute" die fatalsten Konsequenzen hat. Auch Valentín, sein eigener Bruder, wird zu Raúls Opfer.
Die Nachtseite des gegenwärtigen Spaniens grundiert diesen Roman, Anschläge der ETA, Mädchenhandel, Mafiabanden. Auch die Auseinandersetzung mit der Franco-Diktatur, das große Thema von Juan Marsé, taucht in diesem Roman wieder auf, in der Figur von Raúls Vater José, der im Widerstand gegen Franco aktiv war. Aber das Buch konzentriert sich vor diesem Hintergrund ganz auf das Kammerspiel im Bordell, auf die Geschichte von Raúl, Valentín und Milena. Die wird in wenigen wiederkehrenden Arrangements erzählt, in knappen, ganz auf das Atmosphärische konzentrierten Szenen, denen man die Entstehungsgeschichte dieses Romans deutlich anmerkt, "Liebesweisen in Lolitas Club" sollte ursprünglich ein Filmdrehbuch werden.
Dieser Roman zählt nicht zu den großen Büchern von Juan Marsé, das zeigen auch die Reaktionen in Spanien. Die Kritik ist dort sehr zögerlich und wenig begeistert mit diesem Buch des Altmeisters umgegangen. Der reduzierte filmische Erzählstil des Romans führt zu vielen Einschränkungen, aber dennoch erzählt Juan Marsé von einem interessanten Fall: von einem Mann, den der Kampf für das Recht moralisch verwüstet hat.
Rezension: Frank Meyer
Juan Marsé: "Liebesweisen in Lolitas Club". Roman.
Aus dem Spanischen übersetzt von Dagmar Ploetz.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 253 Seiten, 19,90 €