Die nächste Forschergeneration
Die Wissenschaft hat im 20. Jahrhundert revolutionäre Fortschritte gemacht. Was erwartet uns im 21. Jahrhundert? In der Sammlung "Die Zukunftsmacher" umreißen junge preisgekrönte Forscher ihre jeweiligen wissenschaftlichen Ambitionen, Projekte und Erwartungen.
Politisch ist der Ruf des 20. Jahrhunderts ruiniert: Zwei Weltkriege, zahlreiche totalitäre Ideologien, grausame Diktaturen, Völkermord – die Liste der blutigen Desaster und Irrwege dieser Zeit ist lang. Umso erstaunlicher, dass es parallel dazu eine andere, mindestens ebenso lange Liste der Erfolge und Siege gibt.
Niemals zuvor nämlich hat die Wissenschaft so großartige und revolutionäre Fortschritte gemacht wie im vergangenen Jahrhundert: Relativitätstheorie und Quantenmechanik, die Entschlüsselung des Genoms, die Entdeckung des Unterbewusstseins, Urknalltheorie und Unvollständigkeitssatz, Penicillin, Mikroelektronik, Mondlandung. Das 20. Jahrhundert hat die Erfüllung der faustischen Sehnsucht nach vollständigem Wissen in greifbare Nähe gerückt – ja, so nah, dass wir uns fragen können: Was nun? Was kommt nach dem Jahrhundert der wissenschaftlichen Revolutionen und Durchbrüche?
In der Sammlung "Die Zukunftsmacher" umreißen junge preisgekrönte Forscher ihre jeweiligen wissenschaftlichen Ambitionen, Projekte und Erwartungen. Der Herausgeber dieser höchst informativen Forschungsanthologie ist der New Yorker Literaturagent Max Brockman. Er schreibt über seine Autoren:
"Ihre kühne Beschäftigung mit neuen Ideen und ihre Bemühungen, die Grenzen des Wissens immer weiter hinauszuschieben, sind eine Inspiration."
Und das stimmt. Bereits die Titel der einzelnen Aufsätze verraten, dass die jungen Forscher sich vom Denken ihrer wissenschaftlichen Väter und Großväter weit entfernt haben. "Sind wir von Natur aus moralisch?", überlegen sie und untersuchen "Die Entwicklung des sozialen Gehirns in der Pubertät" oder die "Unentbehrlichkeit der Fantasie", oder fragen sich: "Wie stiegen die Menschen von den Bäumen und warum ist ihnen niemand gefolgt?"
Standen im vergangenen Jahrhundert die Naturkräfte selbst, ihr Wirkungsmechanismus und ihre mathematische Formulierung im Zentrum des Forschungsinteresses, so ist es jetzt das Funktionieren von Systemen durch das Wechselspiel der Kräfte – der physikalischen, biologischen und sozialen – um das die Gedanken des wissenschaftlichen Nachwuchses kreisen. Nur eine Minderheit sucht noch nach der einen Kraft, die alles im Innern zusammenhält. Man könnte sagen, die jungen Forscher sind in der Realität angekommen und haben sich in ihr häuslich eingerichtet. Denn Tatsache ist ja: Was zu wissen uns nützt, ist nicht gerade die Natur der dunklen Energie, die das Universum immer weiter auseinander treibt, sondern zum Beispiel die neurologische Grundlage ethischen Verhaltens oder die Errichtung eines effizienten Pandemie-Frühwarnsystems.
In diesem Zusammenhang überrascht es allerdings, dass in Brockmans Sammlung von Aufsätzen der "Nobelpreisträger von morgen", wie es im Untertitel immerhin heißt, eine Nobelpreiswissenschaft nicht vertreten ist: die Ökonomie. Als das System weltweiter menschlicher Aktivitäten und Interaktionen schlechthin hätte der Ausblick auf eine Ökonomie der Zukunft Brockmans Anthologie sicher bereichert.
Doch auch ohne eine explizite Analyse ökonomischer Prozesse wird deutlich, dass die jungen Wissenschaftler komplexe Interaktionssysteme primär als Schmiede kooperativen Verhaltens interpretieren. So schreibt der belgische Neurologe Christian Keysers:
"Ein gutes Beispiel ist die Jagd ... Die Medien heben oft einzelne Genies in den Himmel, und Nobelpreise werden an die Erfinder neuer Ideen verliehen, aber die nützlichsten Dinge (beispielsweise Speere) sind das Ergebnis jahrtausendelanger Verbesserung ... jeder lernt von einem erfahrenen Lehrer."
Die komplexe Struktur unseres Gehirns, so eine zentrale Botschaft des Buches, macht uns im Innersten zu kooperierenden und letztlich sozialen Wesen – eine These, die vor fünfzig Jahren wohl niemand auszusprechen gewagt hätte. Ein Problem der Forschung am Komplexen ist aber, dass sich kaum eine Regel ohne Ausnahme formulieren lässt. Im Gegensatz zur mathematischen Strenge der Physik ist der Vergleich des Sozialverhaltens von Schimpansen und Menschen nur mit viel wissenschaftlicher Prosa zu bewältigen. Sich davon nicht abschrecken zu lassen ist eine mutige Qualität der Forschergeneration, die Max Brockman zu Wort kommen lässt.
Der Preis dafür ist aber, dass bestimmte Säulen der klassischen experimentellen Naturwissenschaften an Bedeutung verlieren: Eindeutigkeit, Wiederholbarkeit und die Schaffung eines Vorhersagepotenzials. Insofern könnte sich die Wissenschaft der Zukunft in eine Richtung entwickeln, die auf eine bestimmte Weise ebenfalls sehr faustisch ist: Nämlich ungeheuer viel zu wissen und doch nicht klüger zu sein als zuvor.
Niemals zuvor nämlich hat die Wissenschaft so großartige und revolutionäre Fortschritte gemacht wie im vergangenen Jahrhundert: Relativitätstheorie und Quantenmechanik, die Entschlüsselung des Genoms, die Entdeckung des Unterbewusstseins, Urknalltheorie und Unvollständigkeitssatz, Penicillin, Mikroelektronik, Mondlandung. Das 20. Jahrhundert hat die Erfüllung der faustischen Sehnsucht nach vollständigem Wissen in greifbare Nähe gerückt – ja, so nah, dass wir uns fragen können: Was nun? Was kommt nach dem Jahrhundert der wissenschaftlichen Revolutionen und Durchbrüche?
In der Sammlung "Die Zukunftsmacher" umreißen junge preisgekrönte Forscher ihre jeweiligen wissenschaftlichen Ambitionen, Projekte und Erwartungen. Der Herausgeber dieser höchst informativen Forschungsanthologie ist der New Yorker Literaturagent Max Brockman. Er schreibt über seine Autoren:
"Ihre kühne Beschäftigung mit neuen Ideen und ihre Bemühungen, die Grenzen des Wissens immer weiter hinauszuschieben, sind eine Inspiration."
Und das stimmt. Bereits die Titel der einzelnen Aufsätze verraten, dass die jungen Forscher sich vom Denken ihrer wissenschaftlichen Väter und Großväter weit entfernt haben. "Sind wir von Natur aus moralisch?", überlegen sie und untersuchen "Die Entwicklung des sozialen Gehirns in der Pubertät" oder die "Unentbehrlichkeit der Fantasie", oder fragen sich: "Wie stiegen die Menschen von den Bäumen und warum ist ihnen niemand gefolgt?"
Standen im vergangenen Jahrhundert die Naturkräfte selbst, ihr Wirkungsmechanismus und ihre mathematische Formulierung im Zentrum des Forschungsinteresses, so ist es jetzt das Funktionieren von Systemen durch das Wechselspiel der Kräfte – der physikalischen, biologischen und sozialen – um das die Gedanken des wissenschaftlichen Nachwuchses kreisen. Nur eine Minderheit sucht noch nach der einen Kraft, die alles im Innern zusammenhält. Man könnte sagen, die jungen Forscher sind in der Realität angekommen und haben sich in ihr häuslich eingerichtet. Denn Tatsache ist ja: Was zu wissen uns nützt, ist nicht gerade die Natur der dunklen Energie, die das Universum immer weiter auseinander treibt, sondern zum Beispiel die neurologische Grundlage ethischen Verhaltens oder die Errichtung eines effizienten Pandemie-Frühwarnsystems.
In diesem Zusammenhang überrascht es allerdings, dass in Brockmans Sammlung von Aufsätzen der "Nobelpreisträger von morgen", wie es im Untertitel immerhin heißt, eine Nobelpreiswissenschaft nicht vertreten ist: die Ökonomie. Als das System weltweiter menschlicher Aktivitäten und Interaktionen schlechthin hätte der Ausblick auf eine Ökonomie der Zukunft Brockmans Anthologie sicher bereichert.
Doch auch ohne eine explizite Analyse ökonomischer Prozesse wird deutlich, dass die jungen Wissenschaftler komplexe Interaktionssysteme primär als Schmiede kooperativen Verhaltens interpretieren. So schreibt der belgische Neurologe Christian Keysers:
"Ein gutes Beispiel ist die Jagd ... Die Medien heben oft einzelne Genies in den Himmel, und Nobelpreise werden an die Erfinder neuer Ideen verliehen, aber die nützlichsten Dinge (beispielsweise Speere) sind das Ergebnis jahrtausendelanger Verbesserung ... jeder lernt von einem erfahrenen Lehrer."
Die komplexe Struktur unseres Gehirns, so eine zentrale Botschaft des Buches, macht uns im Innersten zu kooperierenden und letztlich sozialen Wesen – eine These, die vor fünfzig Jahren wohl niemand auszusprechen gewagt hätte. Ein Problem der Forschung am Komplexen ist aber, dass sich kaum eine Regel ohne Ausnahme formulieren lässt. Im Gegensatz zur mathematischen Strenge der Physik ist der Vergleich des Sozialverhaltens von Schimpansen und Menschen nur mit viel wissenschaftlicher Prosa zu bewältigen. Sich davon nicht abschrecken zu lassen ist eine mutige Qualität der Forschergeneration, die Max Brockman zu Wort kommen lässt.
Der Preis dafür ist aber, dass bestimmte Säulen der klassischen experimentellen Naturwissenschaften an Bedeutung verlieren: Eindeutigkeit, Wiederholbarkeit und die Schaffung eines Vorhersagepotenzials. Insofern könnte sich die Wissenschaft der Zukunft in eine Richtung entwickeln, die auf eine bestimmte Weise ebenfalls sehr faustisch ist: Nämlich ungeheuer viel zu wissen und doch nicht klüger zu sein als zuvor.