Die Nation existiert, der Nationalstolz hat ausgedient
Nation, Nationalität, Nationalismus, Nationalgefühl, Nationalstaat, Nationalcharakter, Nationalstolz. Die Begriffe schwirren durcheinander, finden Synonyme, lösen Debatten aus und provozieren Missverständnisse.
Die Nation im modernen Verstand benennt ein durch gemeinsames Territorium, gleiche Sprache, gleiche Zivilisation, gleiche Geschichte und gleiche ethnische Herkunft konditionierte Menschenvereinigung, die sich ihrer Gemeinsamkeiten bewusst ist und dieselben pflegt. Die dafür angemessene Administrationsform ist der Nationalstaat.
Ihn zu erreichen, um die eigene Identität zu behaupten, kam und kommt es zu machtvollen Bewegungen, ähnlich stark wie die der sozialen Emanzipation; beides hat sich gerne verbündet. Für unsere geschichtlichen Breiten vollzog sich dergleichen vornehmlich im 19. Jahrhundert.
Der deutsche Nationalstaat, 1871 geschaffen, wurde 1945 zerschlagen. Für 46 Jahre existierten nebeneinander und auch gegeneinander zwei Nachfolgestaaten, von denen der östliche zuletzt erklärte, eine eigene DDR-Nation zu sein. So völlig geschichtsvergessen war das nicht. Die Nation, mit einem Wort des Franzosen Ernest Renan, ist auch eine Sache des tagtäglichen Plebiszits. Österreich, das sich nach 1919 unverdrossen zu Deutschland bekannte, begreift sich inzwischen als eigenständige Nation.
Hätten sie noch ein paar Jahrzehnte länger regiert, wären die DDR-Ideologen mit ihrem Einfall womöglich erfolgreich gewesen. Es kam nicht dazu. Die DDR ist politisch kollabiert. Die Rufe der Leipziger Demonstranten von 1989, "Wir sind ein Volk", waren Ausdruck eines ungebrochenen deutschen Nationalgefühls und die anschließende Wiedervereinigung das Ergebnis einer nationalen Emanzipation.
Dürfen wir darauf stolz sein? Sonderbarerweise fallen im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1990 Worte wie Freude, Jubel, Erleichterung und Dankbarkeit, der Begriff Stolz fällt niemals. Es brauchte noch einige Jahre, ehe erstmals die Diskussion anhub, ob man denn auf das bundesrepublikanische Gemeinwesen zwischen Rhein und Oder Stolz sein könne, dürfe, müsse oder nicht.
Es ist eine müßige Diskussion. In allen Menschengemeinschaften, großen wie kleinen, existieren bei den Mitgliedern Liebe und Hass, Zu- und Abneigung, Stolz und Gleichgültigkeit, sie existieren nebeneinander, es handelt sich um höchst individuelle Gefühle, die dem einzelnen Mitmenschen oder deren Gesamtheit gelten können. Gefühle zu verordnen, was in diesem Fall etwa hieße, den Nationalstolz zur verbindlichen Haltung zu erheben, hat den Beigeschmack von Gesinnungsdiktatur.
Freilich, ich weiß: In unseren Nachbarländern Frankreich und Polen stehen die Dingen etwas anders. Ich kenne genügend Angehörige beider Völker, denen der pathetische Nationalismus dortselbst etwas peinlich oder gar lächerlich ist. Sie sagen, und ich sage das gleichfalls, dass wir in postnationalen Verhältnissen leben, die durch die europäische Integration und die Globalisierung bestimmt werden und in denen wir uns einzurichten haben, auch psychisch.
Das Nationalbewusstsein, das den beteiligten Völkern noch in den Genen sitzt, da es lange genug den Geschichtsverlauf geprägt hat, im Guten wie im Unguten, sucht sich seine gelegentlichen Ventile etwa beim Sport. Ereignisse wie Olympia oder Fußball-EM können Orgien der nationalen Selbstdarstellung erzeugen, mit großem Geschrei, mit allenthalben flatternden Nationalfähnchen an Automobilen oder geschminkten Nationalfarben auf Zuschauergesichtern.
Dass dabei viel Unernst im Spiel ist, wissen alle Beteiligten, ganz entsprechend dem Anlass, der nichts ist als ein Spiel.
Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift "Aufbau" in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes".
Ihn zu erreichen, um die eigene Identität zu behaupten, kam und kommt es zu machtvollen Bewegungen, ähnlich stark wie die der sozialen Emanzipation; beides hat sich gerne verbündet. Für unsere geschichtlichen Breiten vollzog sich dergleichen vornehmlich im 19. Jahrhundert.
Der deutsche Nationalstaat, 1871 geschaffen, wurde 1945 zerschlagen. Für 46 Jahre existierten nebeneinander und auch gegeneinander zwei Nachfolgestaaten, von denen der östliche zuletzt erklärte, eine eigene DDR-Nation zu sein. So völlig geschichtsvergessen war das nicht. Die Nation, mit einem Wort des Franzosen Ernest Renan, ist auch eine Sache des tagtäglichen Plebiszits. Österreich, das sich nach 1919 unverdrossen zu Deutschland bekannte, begreift sich inzwischen als eigenständige Nation.
Hätten sie noch ein paar Jahrzehnte länger regiert, wären die DDR-Ideologen mit ihrem Einfall womöglich erfolgreich gewesen. Es kam nicht dazu. Die DDR ist politisch kollabiert. Die Rufe der Leipziger Demonstranten von 1989, "Wir sind ein Volk", waren Ausdruck eines ungebrochenen deutschen Nationalgefühls und die anschließende Wiedervereinigung das Ergebnis einer nationalen Emanzipation.
Dürfen wir darauf stolz sein? Sonderbarerweise fallen im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1990 Worte wie Freude, Jubel, Erleichterung und Dankbarkeit, der Begriff Stolz fällt niemals. Es brauchte noch einige Jahre, ehe erstmals die Diskussion anhub, ob man denn auf das bundesrepublikanische Gemeinwesen zwischen Rhein und Oder Stolz sein könne, dürfe, müsse oder nicht.
Es ist eine müßige Diskussion. In allen Menschengemeinschaften, großen wie kleinen, existieren bei den Mitgliedern Liebe und Hass, Zu- und Abneigung, Stolz und Gleichgültigkeit, sie existieren nebeneinander, es handelt sich um höchst individuelle Gefühle, die dem einzelnen Mitmenschen oder deren Gesamtheit gelten können. Gefühle zu verordnen, was in diesem Fall etwa hieße, den Nationalstolz zur verbindlichen Haltung zu erheben, hat den Beigeschmack von Gesinnungsdiktatur.
Freilich, ich weiß: In unseren Nachbarländern Frankreich und Polen stehen die Dingen etwas anders. Ich kenne genügend Angehörige beider Völker, denen der pathetische Nationalismus dortselbst etwas peinlich oder gar lächerlich ist. Sie sagen, und ich sage das gleichfalls, dass wir in postnationalen Verhältnissen leben, die durch die europäische Integration und die Globalisierung bestimmt werden und in denen wir uns einzurichten haben, auch psychisch.
Das Nationalbewusstsein, das den beteiligten Völkern noch in den Genen sitzt, da es lange genug den Geschichtsverlauf geprägt hat, im Guten wie im Unguten, sucht sich seine gelegentlichen Ventile etwa beim Sport. Ereignisse wie Olympia oder Fußball-EM können Orgien der nationalen Selbstdarstellung erzeugen, mit großem Geschrei, mit allenthalben flatternden Nationalfähnchen an Automobilen oder geschminkten Nationalfarben auf Zuschauergesichtern.
Dass dabei viel Unernst im Spiel ist, wissen alle Beteiligten, ganz entsprechend dem Anlass, der nichts ist als ein Spiel.
Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift "Aufbau" in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes".