Noch immer spüren sie Täter auf
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Ermittler in Ludwigsburg arbeiten für eine weltweit einmalige Behörde. Sie durchsuchen Akten nach Hinweisen auf Täter des NS-Regimes. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Doch auch 75 Jahre nach Kriegsende leben noch Täter von damals unter uns.
Der Abgrund hat eine Zahl: 1.756.164 Karteikarten finden sich in ungezählten Schubladen. Sortiert nach Orten, Einheiten und vor allem Namen von NS-Tätern.
"Auf den Karten sieht man den Namen, das Aktenzeichen, die Geburtsdaten sind mit drauf, der Wohnort, die Dienstränge, die eingenommen worden sind; und man hat hier auch Hinweise auf Tatorte und sonstige Einheiten."
Tausende Karten mit Namen
Staatsanwalt Thomas Will steht in einem großem Raum, vollgestellt mit grauen Schubladenregalen. Der stellvertretende Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen öffnet eine der Schubladen:
"Das Wichtigste ist, dass man hier nichts durcheinander bringt."
Tausende Karten allein mit Namen. So waren die Ludwigsburger etwa an der Ergreifung des Gestapochefs von Lyon, Klaus Barbie, und von Josef Schwammberger beteiligt. Schwammberger war Kommandant mehrerer NS-Zwangsarbeiterlager in Polen.
Ende der 1950er-Jahre wurde klar: Viele NS-Verbrecher laufen noch immer frei herum. Die Justizminister der Länder beschlossen damals, eine Ermittlungsstelle zu gründen.
"13 Jahre nach Kriegsende erfolgte die Gründung, da hat mancher gedacht, warum jetzt noch ermitteln?"
Das dunkle Kapitel lieber schnell wieder vergessen
1958 begannen die Ermittlungen, zwei Jahre gab man dabei der Behörde, dann sollte die Arbeit beendet sein. Ein Trugschluss, wie sich bald zeigte, bei dem die Ermittler zudem keinen guten Ruf genossen. In Deutschland wollte man zu dieser Zeit das dunkle Kapitel schließen. Das Land erholte sich gerade auch wirtschaftlich, jeder neu entdeckte NS-Verbrecher ließ das Bild der heilen Welt wieder einstürzen.
Doch die Behörde ließ nicht nach. Ende 1963 begann der erste Auschwitzprozess in Frankfurt am Main, ohne die Vorarbeit der Zentralen Stelle wären dieser und viele folgende Prozesse nicht möglich gewesen.
Anfangs arbeiteten hier über 120 Mitarbeiter. Heute sind es noch 20, die meisten davon Juristen. Noch können potentielle Täter am Leben sein, also wird weiter ermittelt:
"Wir haben unverändert in den letzten Jahren so 20 bis 30 Verfahren an Staatsanwaltschaften abgegeben."
KZ-Wachmann aufgespürt
Im Mittelpunkt steht seit einigen Jahren die Suche nach Gehilfinnen und Gehilfen in den Konzentrationslagern. Kommt es zu einem Verfahren, wird der Fall an die zuständigen Gerichte abgegeben.
So etwa im Fall des 93-jährigen Bruno D. Im Archiv der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Stutthof stießen die Ludwigsburger Ermittler auf einen sogenannten Bekleidungsnachweis der SS. Von der Unterhose bis zum Stahlhelm wurde auf derartigen Nachweisen dokumentiert, was und wie viel jeder Wehrmachtsangehörige bekommen hat. Auf dem Papier fand sich die Unterschrift von Bruno D.
In der Folge wurde der ehemalige KZ-Wachmann in Hamburg aufgespürt, wo er seit Jahrzehnten lebt. Seit dem vergangenen Jahr muss er sich vor dem dortigen Landgericht verantworten. Ihm wird Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen vorgeworfen.
"Das ist der Zweck unserer Arbeit, dass wir Dinge einer strafrechtlichen, gerichtlichen Prüfung unterziehen."
Erforschung der NS-Verbrechen
Um die Jahrtausendwende zog eine Außenstelle des Bundesarchivs in Ludwigsburg mit ein. Aufgabe dieser Stelle ist es, Unterlagen der Behörde für persönliche Recherchen, aber vor allem auch der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen.
Tür an Tür arbeiten die verschiedenen Bereiche längst zusammen. Normalerweise – doch jetzt zu Corona-Zeiten sitzt Martin Cüppers im Homeoffice in Berlin. Der Historiker leitet die Forschungsstelle Ludwigsburg, die ebenfalls um die Jahrtausendwende gegründet wurde.
Die Forschungsstelle ist dem Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart zugeordnet. Wissenschaftler erforschen dort die NS-Verbrechensgeschichte und ihre internationalen Ahndungsversuche.
Wie verfolgten zum Beispiel Israel oder die Vereinigten Staaten NS-Verbrecher? Wie liefen in anderen Ländern Prozesse ab? Der Blick richte sich inzwischen also auch über 1945 hinaus, sagt Historiker Martin Cüppers.
"Wenn die Juristinnen und Juristen fragen, wie ist der Vorgang bei der mobilen Tötungseinheit XY gewesen? Haben Sie da Erkenntnisse? Oder: Gibt es da konkrete Hinweise in den Justizakten, die jetzt beim Bundesarchiv lagern."
Fotos aus Sobibor
Ein Fund aus jüngster Zeit zeigt: Gerade Historiker können im Bereich der NS-Forschung noch mit neuen Erkenntnissen rechnen.
Auf Cüppers Tisch landeten vor einigen Jahren über 350 Fotos. Die Fotos sind aus dem Besitz eines Johann Niemann, Jahrgang 1913, stellvertretender Kommandant des Vernichtungslagers Sobibor. Etwa 250.000 Menschen wurden im Vernichtungslager Sobibor im deutsch besetzten Polen ermordet.
Die Fotos zeigen Niemann und weitere Sobibor-Täter, etwa beim Musizieren oder Schachspielen. Bisher seien nur zwei Fotos aus diesem Vernichtungslager öffentlich bekannt, betont Cüppers.
"Im Fall dieser Niemann Sammlung ist es tatsächlich so gewesen, dass der Nachfahre nicht wusste, was auf diesen Fotos zu sehen ist, weil seine Eltern ihn gar nicht informiert haben, welche Bedeutung der Großvater hatte. Und auf den Fotos ist das auch gar nicht aufs Erste zu erkennen."
Einzigartige Fotosammlung
Ein Regionalforscher in Ostfriesland hatte zunächst den Enkel Johann Niemanns ausfindig gemacht. Der vertraute dabei dem Forscher die Fotos des nicht gekannten Großvaters an. Schließlich gelangte die Sammlung zur wissenschaftlichen Beurteilung nach Ludwigsburg.
Die Niemann-Sammlung stelle einen Quantensprung in der visuellen Überlieferung zum Holocaust dar, sagt Historiker Cüppers:
"Einzigartig an der Sammlung ist, dass das eben nicht nur Illustration, Bebilderung des Tatgeschehens ist, sondern dass diese Fotos selbst wichtige historische Quellen sind, die Zusammenhänge herleiten, die Zusammenhänge liefern, die vorher in der Forschung einfach nicht bekannt sind."
Der Historiker ermutigt junge Menschen, die womöglich in Nachlässen auf solch fragliche Fotos stoßen, diese wissenschaftlich beurteilen zu lassen. Das Anliegen Cüppers ist es, die Gesamtdimension des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen wahrzunehmen.
"Anders als das vielleicht manchmal auch in unserer Erinnerungskultur wahrnehmbar ist, hat der Holocaust eben nicht hauptsächlich nur im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau stattgefunden, sondern wir haben eben auch die 'Aktion Reinhardt' mit den Mordlagern Belzec, Sobibor und Treblinka mit insgesamt über 1,8 Millionen Opfer. Wir haben die Shoa durch Massenerschießungen hauptsächlich in der Sowjetunion mit mehr als zwei Millionen jüdischen Opfern. Wir haben beispielsweise das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen mit mehr als 3 Millionen Opfern."
Eine moralische Verpflichtung
Zurück zur Zentralen Stelle. Dort liegen die letzten aktiven Jahre dieser weltweit einmaligen Behörde. Staatsanwalt Thomas Will:
"Es wird irgendwann, und das hat die Justizministerkonferenz festgelegt, vielleicht einen Erinnerungs- und Geschichtsort Zentrale Stelle geben. Darüber berät man sich im Moment. Es gibt einen wissenschaftlichen Beirat, da versucht man sich gerade an Lösungen."
Es gebe eine moralische Verpflichtung, und zwar die Wiedergutmachung gegenüber den Opfern beziehungsweise den Überlebenden. So beschrieb ein früherer Leiter der Zentralen Stelle die Aufgabe der Behörde.
Jahrzehntelange Ermittlungen liegen hinter Juristen und Polizisten. Fast 20.000 Verfahren wegen nationalsozialistischer Verbrechen sind seit 1958 bei Staatsanwaltschaften und Gerichten in Deutschland anhängig geworden.
Man muss eine gewisse Distanz einnehmen
Was macht das mit den Menschen, die sich oft ein Berufsleben lang mit Gräueltaten unvorstellbaren Ausmaßes so intensiv beschäftigen?
"Emotionale Belastung kann man nicht permanent in diesem Ermittlungsbereich mit nach Hause nehmen und das ständig verspüren. Man kann wahrnehmen, was sich ereignet hat. Man kann Anteil nehmen. Aber um professionell arbeiten zu können, muss man dann auch eine gewisse Distanz wieder einnehmen können."