Die neue Migration

Von Christoph Giesa |
Portugals Wirtschaft ist in einem schlechten Zustand. Allein im Jahr 2010 haben 150.000 Portugiesen ihr Heimatland verlassen. Der Publizist Christoph Giesa empfiehlt, die Fachkräfte aus dem europäischen Süden in Deutschland willkommen zu heißen.
Es ist das Städtchen Schwäbisch-Hall in Baden-Württemberg, das inzwischen zu einem Symbol geworden ist. Und zwar zu einem Symbol für die Hoffnung vieler junger Portugiesen und gleichzeitig für ein Problem Europas, dem wir in den kommenden Jahren noch häufiger begegnen werden.

Eine portugiesische Journalistin hatte über das Jobwunder in Schwaben geschrieben und festgestellt, dass auch ihre Landsleute als Arbeitskräfte willkommen sind. Sie löste dadurch eine Lawine aus: Innerhalb von nur einer Woche schickten mehr als 13.000 Portugiesen ihre Bewerbungen in der Hoffnung auf eine neue Perspektive fernab der Heimat.

Schwäbisch-Hall freut sich. Und Portugal trauert um seine Söhne und Töchter, die dem Land den Rücken kehren. Wieder einmal. Auf der einen Seite sucht eine Region, die vor Kraft kaum gehen kann, händeringend Fachkräfte, um die reichlich vorhandenen Aufträge abarbeiten zu können. Auf der anderen Seite stehen genau diese Fachkräfte – und noch viele andere mehr – in Südeuropa jeden Tag aufs Neue morgens vor dem Arbeitsamt und mittags dann vor der Suppenküche an. Viele wollen das nicht mehr hinnehmen.

Alleine im Jahr 2010 haben 150.000 Portugiesen das westlichste Land Europas verlassen. Umgerechnet auf Deutschland wären das ungefähr 1,2 Millionen Menschen, also mehr als Köln Einwohner hat. Solche Auswanderungssalden kannte man zuletzt vor allem aus den Entwicklungsländern. Dass nun aber auch innerhalb Westeuropas wieder Völkerwanderungen beginnen, zeigt deutlich: Das Phänomen Armut ist zurück in der EU.

So tragisch schon jedes einzelne Schicksal ist, so bedrohlich wirkt die Tendenz insgesamt. Denn das Beispiel Portugal belegt deutlich, wie eine althergebrachte Weltordnung ins Wanken gerät. Die Zeit, in der die westliche Welt das Nonplusultra, der Ort der Sehnsucht für Milliarden Bewohner der armen Südhalbkugel war, könnte schneller vorbei sein, als vielen von uns lieb sein dürfte.

Noch vor weniger als zehn Jahren strebten die Menschen aus den ehemaligen Kolonien Brasilien, Angola oder Mosambik nach Portugal, um dort Ausbildung und Wohlstand zu finden. Sie wurden von den Portugiesen zwar aufgenommen, auch weil sie oftmals die Arbeiten erledigten, die sonst keiner tun wollte, geliebt wurden sie allerdings nicht. Vielmehr blickte man eher ein wenig von oben herab auf die fleißigen Afrikaner und Brasilianer.

Inzwischen sind viele von diesen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt und haben es dort zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Und jetzt bewerben sich die Portugiesen dort um Arbeitsvisa. Urteil und Vorurteil werden auf die Spitze getrieben: Galten früher vor allem die Brasilianer in Portugal als schlecht ausgebildet oder gar dumm, haben die Portugiesen in Brasilien inzwischen dasselbe Image und damit echte Probleme, adäquate Arbeitsplätze zu finden.

Noch baut Europa seine Grenzen weiter aus, um sich gegen Migranten und Wanderarbeiter aus dem Süden zu schützen. Doch wie lange wird es diese Zäune noch brauchen? Das Wachstum ist schon lange nicht mehr ein Begleiter Südeuropas, sondern der Erfolg der Schwellen- und Entwicklungsländer. Das absolute Wohlstandsniveau ist noch lange nicht zu vergleichen – aber der Abstand wird kontinuierlich geringer.

Derzeit wandern Portugiesen, Spanier und Griechen, die in ihrem Heimatland keine Zukunft mehr sehen, auch nach Deutschland aus, weil hier Arbeit und Einkommen winken. Aber was, wenn wir unseren Wohlstand nicht halten können, weil wir es nicht verstehen, die demografische Entwicklung zu meistern und den Fachkräftemangel zu verhindern? Das Beispiel Portugal zeigt, wie schnell es wirtschaftlich bergab gehen kann und die Menschen ein Land verlassen, um der Arbeit hinter her ziehen.

Innerhalb kürzester Zeit kann aus einem Einwanderungsland, das die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat, ein Auswanderungsland werden. Auch in Westeuropa. Das sollte auch uns Deutschen eine Warnung sein. Und vielleicht sollte man auch innerhalb Deutschlands nach Schwäbisch Hall schauen und lernen. Zum Beispiel wie eine aufrichtige Willkommenskultur aussehen kann.

Christoph Giesa arbeitet als Publizist und Unternehmensberater in Hamburg, war Landesvorsitzender der Jungen Liberalen Rheinland-Pfalz, Initiator der Bürgerbewegung zur Unterstützung von Joachim Gauck als Bundespräsidentschaftskandidat und Mitbegründer der linksliberalen FDP-Vereinigung "Dahrendorfkreis". Er schrieb das Buch "Bürger. Macht. Politik” (Campus-Verlag 2011). Das Zeitgeschehen kommentiert er in seinem "blog.christophgiesa.de" und als Kolumnist von "The European".
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