"Die neuen Religionen fordern ihren Platz in unserer Gesellschaft"

Barbara John im Gespräch mit Andreas Müller · 01.12.2009
Das Votum in der Schweiz gegen den Bau von Minaretten ist für Barbara John eine Abwehrreaktion auf die Veränderungen in der Gesellschaft durch die Einwanderungsrealität. Doch man werde sich langsam daran gewöhnen, unsere Gesellschaft sei bereit dazu, meint die ehemalige Berliner Ausländerbeauftragte.
Andreas Müller: Der schweizerische Volksentscheid gegen den Bau von Minaretten hat weltweit bei vielen für Entsetzen, auch schon für Proteste gesorgt, aber eben auch für ein gewisses Verständnis für die Ängste von Menschen, die sich – und das europaweit – durch den Islam bedroht fühlen. Die Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte scheint, wenigstens in Teilen, gescheitert zu sein. Brauchen wir eine neue Integrationspolitik, und wenn ja, welche? Das werden wir jetzt mit Barbara John besprechen. Sie war viele Jahre lang Integrationsbeauftragte in Berlin und setzt sich auch heute noch für den Dialog der Religionen und Kulturen ein. Schönen guten Tag, Frau John!

Barbara John: Guten Tag, Herr Müller!

Müller: Ich greife mal drei Stimmen, das sind aber auch Stimmungen, heraus. In türkischen Zeitungen ist von einem, Zitat, "Sieg der Islamophobie" die Rede. Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach, Vorsitzender des Bundestagsinnenausschusses sagt, das Votum sei Ausdruck einer auch in Deutschland weit verbreiteten Angst vor der Islamisierung der Gesellschaft. Diese Sorge muss man ernst nehmen, sagt er. Und die Soziologin Necla Kelek sagte gestern hier im Deutschlandradio Kultur das:

Necla Kelek: Ich sehe nicht nur, dass dahinter populistische Menschen mit Rechtsgedanken gehandelt haben, ich sehe da auch Bürger, die besorgt sind, die sehr, sehr viele Fragen haben und seit Jahrzehnten keine Antworten weder von Islamverbänden noch zum Beispiel türkischen Verbänden bekommen.

Andreas Müller: Brauchen wir eine neue Integrationspolitik und wenn ja welche? Tja, Frau John, sind wir islamophob, ist die Angst vor Islamisierung weit verbreitet und können Sie auch diesen kritischen Blick Necla Keleks auf das Verhalten der Muslime in der deutschen Bevölkerung nachvollziehen?

Barbara John: Also ich sehe das an sich als einen ganz normalen Vorgang, was da in der Schweiz sich abgespielt hat. Es ist ja in Europa, seit wir Einwanderungsländer geworden sind, eine neue Zeit angebrochen, und das muss man verkraften. Wir sind ein Kontinent gewesen, der durch seine nationalstaatliche Entstehung relativ homogen geblieben ist – das trifft besonders natürlich auf die Schweiz zu. Und nun sind Menschen da, die eine Art anderen Lebensentwurf haben, nicht was rechtliche Vorstellungen angeht, was ihr Verhalten angeht, aber was so tiefste Überzeugungen, religiöse Überzeugungen angeht. Sie kleiden sich anders, sie bauen andere Dinge, also andere Gotteshäuser, und das verstört natürlich.

Und Verhaltensänderungen sind diejenigen, die am längsten dauern. Also das wird uns in der Integrationspolitik noch ein paar Jahrzehnte begleiten, das wird etwa 100 Jahre andauern, jetzt von der Einwanderung angefangen oder betrachtet. Vor '61, also vor knapp 50 Jahren, sind die Türken gekommen und damit auch viele Muslime, dann noch andere. Und daran müssen wir uns langsam gewöhnen.

Unsicherheit, Orientierungslosigkeit sind vorhanden, die Politik ist gefragt, die Muslime sind gefragt, wir als Bürger in dieser Republik mit bestimmten Grundwerten sind ebenfalls gefragt.

Müller: Aber haben Sie denn so ein bisschen Verständnis dafür, dass Menschen bei uns Angst haben vor dem – ich sag mal zugespitzt – obskuren Treiben der bärtigen Männer in den Hinterhofmoscheen von Köln, Kreuzburg und Hamburg?

John: Und ob! Und ob! Die Schweiz hat ja gezeigt, je weniger Muslime, desto höher die Ja-Stimmen für dieses Verbot.

Müller: Seltsames Phänomen, ja.

John: Also wie Ausländerfeindlichkeit ohne Ausländer, das ist uns ja schon in der DDR begegnet. Je weniger Kontakt ich habe, desto weniger weiß ich und kann das auch alles gar nicht einordnen. Wenn ich aber Nachbarn habe, die sich öffnen, die sich auch als Muslime zu erkennen geben, die mit mir reden, die ich etwas fragen kann, dann ändert sich bereits vieles. Und das ist etwas, was verstärkt werden muss.

Nun haben die Muslime bei uns ein Problem. Wir haben ja einen Dorf-Islam importiert und nicht einen Gelehrten-Islam. Die meisten, die hierhergekommen sind, kommen selbst aus einer sehr engstirnigen muslimischen Erziehung heraus und sind hier konfrontiert mit einer liberalen Gesellschaft, die ihnen natürlich auch Angst einflößt. Also die Ängste sind ja nicht nur bei den Nichtmuslimen vorhanden, die sind auch bei den Muslimen vorhanden.

Und da artikuliert zu sein, sich zu erklären, die deutsche Sprache so gut zu sprechen, dass man das vermitteln kann, das ist schon eine Aufgabe. Und wir haben nun eine neue Generation, die das besser kann als die erste. Also ich bin da zuversichtlich, dass das gelingen wird, aber sie müssen es systematisch auch beginnen, die Moscheen.

Müller: Sie engagieren sich ja seit Jahrzehnten für Integrationspolitik, aber mir scheint doch, irgendwo muss was schiefgelaufen sein. Vielleicht haben Sie selbst auch einen Fehler gemacht, ich weiß es nicht. Ich meine, bislang hat man Integrationspolitik so verstanden, dass die, die zu uns kommen, betreut werden, dass ihnen geholfen wird, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren – das haben Sie ja auch gerade noch mal geschildert, und das läuft jetzt seit vielen Jahrzehnten. Aber hat man uns, die Inländer, darüber vergessen, also muss Integrationspolitik nicht auch direkt sich an Deutsche wenden?

John: Ja immer, also ich hab das ...

Müller: Aber das tut es ja eigentlich nicht.

John: Ich habe das nicht vergessen, sondern ich habe immer gesagt, mindestens 50 Prozent, wenn nicht sogar mehr meiner Arbeit muss sich darum kümmern, dass die Mehrheitsgesellschaft mehr erfährt, dass sie weiß, was los ist, dass sie ihre Beschwerden loswerden kann. Das war immer ein ganz wichtiges Anliegen. Denn wenn die Mehrheit sich verweigert, wenn sie nein sagt, können die Politikprogramme Millionen, Milliarden kosten, sie werden nicht ankommen.

Müller: Aber man hat Sie offensichtlich nicht gehört!

John: Na doch. Also gut, eine kleine Ausländerbeauftragte einer Stadt mit drei Millionen ...

Müller: Einer großen Stadt.

John: ... ist nun nicht ... Ja, natürlich der besten Stadt überhaupt in Deutschland, der lebenswertesten, wie ich finde, aber dennoch, das hätte natürlich von der Bundesregierung auch besser ausgehen können. Ich hatte meine, wir hatten alle unsere Grenzen, ich hatte auch meine Grenzen in der Hinsicht, aber die Mehrheitsbevölkerung, das können Sie auch nachlesen, war immer ein ganz wichtiger Punkt. Und es ist richtig, an die muss man sich auch wenden. Nur was bedeutet das denn?

Die Medien sind genauso verantwortlich, die haben natürlich die größten Möglichkeiten auch der Aufklärung, der Information. Also das alles muss im Zusammenhang gesehen werden. Aber ich glaube, es ist noch etwas anderes, was jetzt kommt. Es galt ja lange die Einstellung: Ach, das ist vorübergehend, das wird sich alles wieder auflösen. Diese Rückkehrvorstellungen ...

Müller: Die gehen zurück, ja.

John: ... waren in der Politik, bei der Bevölkerung und auch natürlich bei den Einwanderern, und das ist vorbei. Jeder weiß heute, was da ist, wird sich entwickeln, und die neuen Religionen und Kulturen fordern ihren Platz in unserer Gesellschaft.

Und da kommt ja nun das Interessante. Wir sind ja eine Gesellschaft von unseren Werten her, die bereit ist dazu. Wir hatten ja die Aufklärung. Wir müssen nicht mehr eine Gesinnung haben, wir müssen verbindliche Gesetze haben, und dann können die Gesinnungen auch auseinandergehen.

Müller: In Deutschlandradio Kultur spreche ich mit der früheren Berliner Integrationsbeauftragten Barbara John. Und Sie haben gerade etwas Interessantes gesagt: Wir haben eigentlich schon eine ziemlich beachtliche Integrationsleistung vollbracht. Ich möchte mal den ägyptischen Schriftsteller Alaa al-Aswani zitieren, der wurde vom Berliner "Tagesspiegel" interviewt und sagt: "Man kann von niemandem in Europa erwarten, dass er sich genaue Kenntnisse über den Islam aneignet. Wie der Islam in der Welt wahrgenommen wird, das ist primär unsere Verantwortung, und wir haben bei der Aufgabe versagt, das wirkliche Gesicht des Islam zu vermitteln." Also das ist doch eine ziemlich gute Einsicht zunächst mal. Sehen Sie denn Ansätze, dass aus der islamischen Community in diesem Land Versuche sind zu vermitteln, mehr in den Dialog zu gehen, dass mehr passiert als der berühmte Tag der offenen Moschee?

John: Ich sehe Ansätze, aber ich habe ja eben schon gesagt, sie können nur begrenzt sein, weil die meisten Muslime, die hier sind, dazu einfach nicht in der Lage sind, einfach von ihrer Möglichkeit mit Deutschen zu reden, von ihrer Möglichkeit, über ihre eigene Religion nachzudenken, da auch kritisch zu sein, auf Fragen zu antworten. Das können die Dachverbände, die sind heute sehr viel besser organisiert.

Aber uns fehlen natürlich auch so junge Muslime mit Überzeugungskraft und sehr viel Wissen, etwa wie Tariq Ali oder Ramadan, die das können, Tariq Ramadan, die sind in der Lage, und wir haben zu wenig davon. Insofern stottern wir da so ein bisschen rum mit dem, was hierhergekommen ist. Das muss sich bessern, und ich glaube, dass dieser Vorgang in der Schweiz die Muslime auch dazu bringen wird, sich in der Frage mehr zu öffnen.

Müller: Es gibt mehr als 200 Moscheen in ganz Deutschland, relativ wenige davon haben ein Minarett – in Berlin gibt es zwei, glaube ich, wenn ich die Zahl jetzt genau weiß –, da gibt es diese Befürchtungen, im Schatten des Minaretts sozusagen zu leben. Dennoch ist ja damit etwas sichtbar geworden. Man sieht ganz klar, also die sind raus aus dem Hinterhof und jetzt in einer prachtvollen oder teilweise prachtvollen Moschee. Trotzdem scheint auch das nicht zu funktionieren, weil das ja auch wieder offenbar Ressentiments schürt?

John: Ja, na das muss ja so sein. Also wenn sich dann etwas verfestigt und es entsteht ein Bauwerk, an dem ich nicht mehr vorbeikomme, ich kann auch nicht die Augen niederschlagen, ich kann hingucken, wo ich will, ich sehe dann eben ein solches Bauwerk, ein Minarett, dann wird einem die ganze Änderung, die diese Gesellschaft durchlaufen hat, die wird einem dann klar, und man muss ein Verhältnis dazu finden. Und eine normale erste Reaktion ist: Ich will das nicht. Also das ist so ein bisschen kindlich: Ich mache einfach die Augen zu, und das kann man ja nicht, also ich will das weghaben. Und dann stimmt man eben mit Nein.

Es nutzt ja nichts, die Menschen sind ja trotzdem hier. Und je mehr sie sich angenommen fühlen, umso mehr werden unsere Befürchtungen, die nicht-muslimischen Befürchtungen, dass da viele Radikale sind und dass die sich zusammenrotten und uns in unserer Freiheit beeinträchtigen wollen, also umso mehr werden die wahr werden. Sondern wenn sie sich angenommen fühlen, dann werden sie sich auch identifizieren und werden diese Freiheit zu schätzen lernen.

Müller: 100 Jahre haben Sie eben als Zahl genannt, 50 haben wir geschafft, 50 liegen noch vor uns offenbar. Barbara John war das, die frühere Berliner Integrationsbeauftragte. Vielen Dank für das Gespräch!