"Alles, was an Heimat schlimm ist, ist das Ideologische, das Ausgrenzende, das nicht offen, sondern geschlossen ist und das den anderen nicht über die Schwelle treten lässt."
Herta Müller wird 70
Wollte eigentlich Schneiderin oder Friseurin werden: die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. © picture alliance / Panama Pictures / Christoph Hardt
Ein kalter, klarer Blick auf die Welt
30:11 Minuten
Vor rund 40 Jahren veröffentlichte die in Rumänien geborene Herta Müller ihr erstes Buch – 2009 wurde ihre Arbeit mit dem Nobelpreis für Literatur gekrönt. Sie ist bekannt für ihre knappe, genaue Sprache, die oft schonungslos wirkt. Nun wird Müller 70.
Herta Müller wurde am 17. August 1953 im Banat, in Nitzkydorf geboren. Die Eltern gehörten der deutschen Minderheit in Rumänien an. Man sprach selbstverständlich Deutsch im Dorf, den Dialekt der Vorfahren.
Von der Geschichte verwüstet
Die Literaturnobelpreisträgerin kommt aus einer Gegend enttäuschter Hoffnungen, der Entbehrung, zerrissener Familien, des mehrfachen Traumas. Sie wuchs auf in einer Gemeinschaft, die mit Hitler die Welt hatte erobern wollen und teuer dafür bezahlte. Täter und Opfer, schuldig Geborene. Heimat, die es einem nicht leicht macht, wie sie erzählt:
Das Dorf, in dem Herta Müller aufwuchs, dessen schockierende Normalität, schildert die Autorin eindringlich in drastischen Bildern und einer knappen Sprache in ihrem ersten Erzählband „Niederungen“. In literarischen Traumbildern, die sich aus alltäglichen Erfahrungen speisen, und von diesen oft nicht zu unterscheiden sind, wehrt sich die Erzählerin gegen die Zumutungen ihres damaligen Lebens. Wie zum Beispiel dem Schlachten eines Kalbes:
"Der Onkel zersägte einen Knochen, der war so dick wie sein Arm. Vater nagelte das rotgefleckte Fell zum Trocknen an die Scheunentür. Dort stand die Mittagssonne. Ich hatte nach ein paar Wochen ein Kalbfell vor dem Bett liegen. Jeden Abend trug ich den Bettvorleger hinaus, weil ich nachts seine Haare spürte in meinem Hals."
Beginn einer literarischen Karriere
Mit „Niederungen“ begann Anfang der 1980er-Jahre Herta Müllers öffentliche Selbstbehauptung, für die sie in Rumänien geschmäht und angegriffen wurde. 1982 erschien der Band im Bukarester Kriterion Verlag. Das Buch stieß auf Ablehnung durch den Staat – und den Protest einiger Landsleute.
Die Erzählungen in Herta Müllers Debüt, das 1984 dann auch im Berliner Rotbuchverlag erschien, trafen im Westen einen Nerv. Herta Müller wurde zu Lesungen und zur Frankfurter Buchmesse eingeladen. Mit diesem Buch begann ihre literarische Karriere, die in der Verleihung des Literaturnobelpreises 2009 ihren Höhepunkt finden sollte. Seitens des rumänischen Geheimdienstes und seiner Handlanger wurde hingegen schon früh eine Rufmordkampagne inszeniert. Nur weil sie Dinge beschrieb, über die sonst niemand sprach.
„Es wurde über nichts gesprochen", sagt Herta Müller dazu. "Auch nicht über den Krieg, die Nazis – mein Vater war ja in der SS – und die Kriegserfahrungen. Nur höchstens, wenn sie besoffen waren, die Leute, bei Hochzeiten, Betrunkene, dann wurden diese Wehrmachts- oder Nazi-Kriegslieder gesungen, die 'Kameraden'.“
Herta Müllers Blick auf die Gemeinschaft, in der sie aufwuchs, in der die Gespenster der Vergangenheit munter ihr Unwesen trieben, ist unbestechlich. Kalt und klar. Aber nicht gefühllos. Man spürt, wie sehr ihr die Verhältnisse unter die Haut gingen. Über all das schreiben zu können, was sie wahrgenommen hat, war für sie lebensrettend – und keineswegs selbstverständlich.
Die Entdeckung der Welt
Herta Müller geht in Temesvar erst auf das Gymnasium und später auf die Universität. In der Stadt entdeckt sie die weite Welt - und Herta Müller lernt Rumänisch. Plötzlich kann sie vergleichen, erweitert durch die neue Sprache ihren Blick und ihre Gefühlswelt. Sie geht auf Abstand zu dem politischen System, das sie umgibt, und sie beginnt, über das Lesen und die Gespräche mit den Freunden auch ihre eigenen Erfahrungen zu reflektieren:
"Ich roch buchstäblich nach Stadtluft. Und ich habe das Dorf von außen gesehen. Es gab mir einen Überblick durch Bücher – ich fing an zu lesen, dann habe ich erst gemerkt, wie sehr die Zeit stillsteht in diesem Dorf. Wie sehr das Dorf wie in einem Käfig, wie in einer Büchse, eingeschlossen ist in sich selbst."
Nach Abschluss ihres Studiums findet sie Arbeit als Übersetzerin in einer metallverarbeitenden Fabrik. Die Securitate, der rumänische Geheimdienst, versucht, sie als Mitarbeiterin anzuwerben. Sie widersetzt sich. Unverhohlen droht man ihr, sie umzubringen. Ihre Wohnung wird heimlich durchsucht, sie wird überwacht, abgehört, auf der Arbeit schikaniert und isoliert. Büro und Schreibtisch werden ihr versagt, zum Schluss muss sie auf den Stufen im Treppenhaus arbeiten.
Dort versichert sie sich ihres Vorhandenseins in der Welt, indem sie beginnt, ihr bisheriges Leben aufzuschreiben. „Auf diesen Treppen fing ich an, über diese Niederungen, diese Kindheit zu schreiben", erzählt sie, "weil ich da schon gedacht habe, jetzt ist nichts mehr sicher. Ich weiß überhaupt nicht mehr, gibt es in eine Richtung noch irgendwie eine Aussicht auf eine Art unbefangenes Leben?“
Mit Gedichten im Kopf zum Verhör
Wenn sie zu Verhören musste, war es wichtig für sie, dass sie sich im Kopf Gedichte aufsagen konnte. „Ich hatte ein Zahnbürstchen in der Tasche und ein Handtuch. Aber ich hatte im Kopf einen Text, ein Gedicht. Mit dem konnte ich machen, was ich will, da konnte der Typ gar nicht ran, der mich bedroht hat. Da konnte er mich ohrfeigen oder an den Haaren ziehen, aber er konnte mir nicht in diesen Kopf hinein.“
Die Literatur habe sie in solchen Situationen geschützt, sagt die Autorin, die schließlich ihre Arbeit in der Fabrik verliert. 1984, „Niederungen“ ist in Westdeutschland erschienen, darf sie reisen. Die Securitate hofft, dass sie im Westen bleibt. Die Drangsalierungen nehmen nicht ab, in Rumänien hat Herta Müller Publikationsverbot.
1987 übersiedelt Herta Müller in den Westen. Rumänien und ihr eigenes Leben bleiben aber Gegenstand ihrer Romane und Erzählungen. Sie erhält Literaturpreise und macht sich einen Namen mit poetologischen Essays und zeitkritischen Kolumnen.
"Im Haarknoten wohnt eine Dame"
Anfang der 1990er-Jahre entstehen die ersten von Herta Müllers Text-Bild-Collagen: „Der Wächter nimmt seinen Kamm. Vom Weggehen und Ausscheren“, „Im Haarknoten wohnt eine Dame“, „Die blassen Herren mit den Mokkatassen“.
Wie das kam? „Ich habe Ansichtskarten gesucht, um Freunden zu schreiben, und ich fand die Ansichtskarten so grässlich. Dann habe ich mir gedacht, ich mach mir selber welche. Und dann habe ich diese weißen Karteikarten gekauft und Klebestift und eine kleine Schere und, wenn man unterwegs war, aus irgendeiner Zeitschrift, Spiegel oder die Zeitung, ein paar Wörter ausgeschnitten und ein Stückchen von irgendeinem Bild und dann das draufgeklebt.“
Diese Collagen, in denen Bild und Text, Buchstaben und Wörter eine rhythmische, formale und inhaltliche Verbindung eingehen, sind mittlerweile fester Bestandteil ihres Werkes. Beim Zusammensetzen der Wörter hinsichtlich eines Sinns spielen Intuition und Handwerk eine große Rolle, alte Kontexte werden zerstört, ein neues Gefüge hergestellt. Spielerisch und auch humorvoll, surreal, doch zugleich konkret wie die Botschaft eines Erpresserbriefes. Poetisch und schön sind diese lyrisch-experimentellen Kunstwerke, aus denen immer wieder auch ein überraschender Reim hervorleuchtet.
Mitunter rätselhafte Situationsgedichte
Im Münchner Hanser Verlag erschienen die Bände „Vater telefoniert mit den Fliegen“, „Im Heimweh ist ein blauer Saal“ und „Der Beamte sagte“. Der Form nach besteht auch dieses Buch aus einzelnen Bild-Text-Collagen, im Untertitel aber heißt es: "Eine Erzählung". Herta Müller erzählt eine Geschichte in diesen Collagen. Die einzelnen, mitunter rätselhaften Situationsgedichte stehen in einem Gesamtzusammenhang – und erinnern an eine Verhörsituation. Ihr 2023 erschienenes Werk, „Eine Fliege kommt durch einen halben Wald“, enthält Reden und Texte der Literaturnobelpreisträgerin aus den vergangenen 20 Jahren.
Herta Müller wollte früher nie Schriftstellerin werden und hätte viel lieber als Schneiderin oder Friseurin gearbeitet. Es ist ein langer Weg von den „Niederungen“ zu „Der Beamte sagte“. 40 Jahre Schreiben. Aus Notwehr gegen die Welt zur Schöpfung von Welten.
Carsten Hueck, DW, tmk