Die nostalgisch-poetische Welt Chagalls

Von Anette Schneider |
Marc Chagall zählt zu den populärsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Seine fliegenden Liebespaare, die versonnen in der Luft schwebenden Figuren und Tiere sind Motive, die millionenfach gedruckt wurden. Sie schmücken Wohnzimmer ebenso wie Arztpraxen oder Rechtsanwaltskanzleien. Heute vor 20 Jahren starb der gebürtige Russe, der die meiste Zeit seines Lebens in Frankreich verbrachte.
"Ich bin in Witebsk geboren. Einer kleinen Stadt, die lediglich dadurch bekannt wurde, dass Napoleon bis hierher kam. Und später Hitler. Ich habe Witebsk immer wieder auf meinen Bildern gemalt. Mein Vater schuftete in einem Fischlager, um die Familie zu ernähren, denn er hatte acht Kinder."

Marc Chagall wird 1887 als Sohn jüdischer Eltern in der weißrussischen Stadt geboren. Er ist 20 Jahre alt, als er nach Sankt Petersburg geht, um Malerei zu studieren. Erstmals sieht er dort Bilder der europäischen Moderne, und ist von ihnen so fasziniert, dass er 1910 nach Paris reist. Im Atelierhaus "La Ruche" mietet er einen winzigen Arbeitsraum, seine Nachbarn sind Léger und Modigliani, er lernt Soutine, Archipenko und die Delaunays kennen. Chagall lebt inmitten der Avantgarde, doch nicht die moderne Technik und der Blick nach vorn interessieren ihn, sondern wie er am wirkungsvollsten die nostalgisch-poetische Welt seiner Kindheitserinnerungen fassen kann.

Als er die Farben und Formen der Kubisten sieht, weiß er: Mit ihnen kann er die Entrücktheit der kleinen Stadt mit ihren schiefen Holzhütten ebenso darstellen, wie die jüdischen Familienfeste, den Taumel erster Verliebtheit oder den fliegenden Geiger als Sinnbild Ahasvers, des rastlosen Juden.

Spielerisch verschmilzt Chagall fortan Versatzstücke seiner Erinnerungen mit Momenten russischer Folklore, Religion, Nostalgie und Fantasie - und hat damit Erfolg: Herwarth Walden, Berliner Kunsthändler und Herausgeber der Zeitschrift "Sturm" entdeckt Chagall 1913, und organisiert sofort eine Ausstellung in Berlin, die den jungen Künstler auf einen Schlag berühmt macht. Fortan wird Chagall kolportieren, er hätte lange nicht gewusst, was er eigentlich werden wolle...

"Eher aus Zufall sah ich eines Tages einen Mitschüler, der eine Zeichnung zeigte. Es war ein ziemlicher Raufbold und ich war betroffen. Betroffen, weil ich fühlte, dass dies ein Beruf für mich sein könnte. Der Junge sagte mir: du kannst in die Stadtbücherei gehen und dort Illustrationen kopieren. Das habe ich gemacht. Ich habe rumgekritzelt und dabei endgültig gemerkt, dass Malen das Richtige für mich war."

Die Jahre des ersten Weltkriegs verbringt Chagall in Witebsk. Er heiratet seine Jugendliebe Bella, wird 1918 kurz "Komissar für die Schönen Künste", doch 1923 zieht er mit seiner Frau wieder nach Paris. Schnell ist der junge Künstler gut im Geschäft: Er hat Ausstellungen, malt, illustriert Bücher und erhält 1930 den gewaltigen Auftrag, die Bibel zu bebildern. Auf Faschismus und Judenverfolgung reagiert er entsetzt, in diesen Jahren entstehen seine einzigen zeitbezogenen Bilder: brennende Dörfer, flüchtende Juden, uniformierte Verfolger.

1941 flieht auch Chagall mit seiner Familie - in die USA. Als er 1947 nach Paris zurückkehrt, zeigen mehrere europäische Hauptstädte eine Retrospektive des nun 60-Jährigen. Chagalls frühe Bilder, die in eine zartfarbige unpolitische Idealwelt entführen, sind beliebt. Der Maler weiß das zu nutzen: Immer wieder, bis zu seinem Tod am 28. März 1985, wird er Motive wie das schwebende Liebespaar oder den fliegenden Geiger kopieren. Kritik an dieser hemmungslosen Vermarktung lässt er nicht gelten, auch die Bemerkung seines einstigen Freundes Boris Aronson nicht:

"Er ist wie eine charmante Frau. Wenn jedermann ihr sagt, wie charmant sie ist, beginnt sie ihren Charme bewusst einzusetzen. Aber wenn der Charme zum System wird, verliert er seinen Zauber."

Ende der 50er Jahre entdeckt Chagall die Glasmalerei. Bis in die 70er Jahre entwirft er Fenster für zahlreiche große europäische Kirchen, für eine Jerusalemer Synagoge und die Vereinten Nationen. Gleichzeitig entstehen Deckengemälde für die Pariser Oper, Wandgemälde in Tel Aviv, Tokio und New York. Noch der hochbetagte Chagall arbeitet unermüdlich - über seine Bilder redete er jedoch nur ungern.

"Ich habe Talent, und ich tue, was ich kann, das ist alles. Deshalb ist es auch nicht an mir, über meine Kunst zu sprechen. Sprechen Sie darüber, wenn es Sie wirklich interessiert."