Die Oder

Von Claudia van Laak |
Die Oder war Jahrhunderte lang ein Symbol der Teilung. Das Potsdamer Abkommen legte die "Oder-Neiße-Linie" als Grenze zwischen Polen und Deutschland fest. Zu DDR-Zeiten war Polen zwar offiziell ein sozialistisches Bruderland, aber erst nach 1989 wird die Oder wieder ein Fluss, der die Menschen an beiden Ufern miteinander verbindet und so eine europäische Kulturlandschaft entstehen lässt. Die Städte diesseits und jenseits wenden sich ihrem Fluss wieder zu.
Es ist ein regnerischer Frühjahrsmorgen, Nebel liegt über der Oder, ein Storchenpaar fliegt vorbei. Wie jeden Tag um acht Uhr morgens steht Martin Schieck auf dem Balkon des Junkerhauses in Frankfurt/Oder und zückt seinen Fotoapparat.

"Ich mache wieder mal ein Foto von der Oder, ich habe das seit ein paar Jahren gemacht, Flüsse sehen immer anders aus, jahreszeitlich bedingt oder vom Licht her oder vom Wasserstand."

Seit sechs Jahren macht Martin Schieck jeden Morgen zur gleichen Zeit ein Foto von der Oder. Bei Hoch- oder Niedrigwasser, wenn Eisschollen auf dem Wasser treiben oder wenn sommerlicher Dunst und Mückenschwärme über dem Fluss liegen. Martin Schiecks Arbeitsplatz, das Junkerhaus, ist eines der wenigen Renaissance-Gebäude von Frankfurt/Oder. Es beherbergt das Stadtmuseum, der 52-jährige Historiker Schieck ist stellvertretender Leiter.

"Je älter man wird, man kriegt eine andere Beziehung zur Natur. Vorher war's: Na ja, Frankfurt und die Oder gehören zusammen, aber man nimmt's einfach nicht wahr. Aber es kommt dann irgendwann der Punkt, wo man's doch deutlicher wahrnimmt, diese Entwicklung habe ich zumindest bei mir gemerkt."

Vom Balkon aus geht der Blick auf die blaue stählerne Grenzbrücke, die Frankfurt mit seiner polnischen Nachbarstadt Slubice, der früheren Frankfurter Dammvorstadt, verbindet. An der Bootsanlegestelle liegt die MS Fürstenberg. Das einzige deutsche Ausflugsschiff, das im Moment regelmäßig die Oder befährt.

Die MS Fürstenberg unterwegs auf Kaffeefahrt, flussabwärts Richtung Lebus. Wenn das polnische Slubice mit der deutschen Werbung für Hörgeräte, Zigaretten und Nachtclubs, den grauen fünfstöckigen Plattenbauten und der monumentalen neuen katholischen Kirche vorbeigezogen ist, kann sich das Auge ausruhen. Grün in allen Schattierungen. Urwüchsige Auenwälder: Weiden und Erlen mit frei gespülten Wurzeln, im Wasser liegen umgestürzte Bäume. Am polnischen Ufer eine Schwanenkolonie, am deutschen ein Angler. Wildenten, Gänse. Am Himmel zieht der Milan seine Kreise. An der Oder gibt es weder mittelalterliche Burgruinen noch steile Felspanoramen noch Weinberge. Einige finden das langweilig. Die Besitzer der MS Fürstenberg nicht.

"Wer sagt, die Oder sei langweilig, der ist weder naturverbunden noch liebt er die Natur. Wir haben rechts und links unberührte Natur und von daher ist die Oder wirklich schön.
Nicht wie der Rhein, der da zugebaut ist oder sonst was. Der Rhein ist begradigt, das ist wirklich nicht meine Welt, hier weiß ich, links ist ein Baum, da steht ein Angler, der grüßt, weil er uns kennt. Und ich habe das Patent bis nach Breslau und bis nach Stettin, ich kenne die Oder wie meine Westentasche."

Rita und Wolfgang Herzog haben vor zehn Jahren die MS Fürstenberg gekauft. Sie kümmert sich unten um Unterhaltung und Bewirtung der Gäste, er steht oben auf der Brücke am Steuerrad. Die MS Fürstenberg bleibt das einzige Schiff auf der Oder an diesem Tag. Zu DDR-Zeiten war das anders, weiß Kapitän Herzog.

"Hier war was los, aber wenn man jetzt einem begegnet, dann erschrickt man sich richtig, wenn man vor sich hin trieft. Dann mit einmal kommt einer. Das ist aber ganz selten, also voriges Jahr war gar nichts."

Der Motor tuckert gleichmäßig vor sich hin, es riecht nach verbranntem Diesel. Nach der Flussbiegung kommen auf deutscher Seite die Oderhänge bei Lebus in den Blick. Im Frühjahr leuchten sie gelb – es blühen die Adonisröschen. Später blau, dann ist die Zeit der Flachsblüte. Kapitän Herzog funkt die Schleuse in Eisenhüttenstadt an. Ein kleiner Plausch, um sich die Langeweile zu vertreiben.

"MS Fürstenberg, Tachchen, grüßt Euch, wie geht's? Langeweile, wa. Ick hab gerade was zum Schleusen, wollt ihr auch wieder? Ich bin noch weit weg, bin in Polen. Jut, dann wünsch ich schönes Wochenende."

Nur eine Zugstunde östlich von Berlin gilt es, einen Fluss zu entdecken, der bislang den wenigsten als europäischer Strom bekannt ist. Im mährischen Odergebirge bei Kozlava entspringt er, ist 580 Kilometer lang ein polnischer Fluss, markiert auf 162 Kilometern die deutsch-polnische Grenze, bevor er – wieder als polnischer Fluss - ins Stettiner Haff mündet. Es ist vor allem Elzbieta Marszalek zu verdanken, dass die Oder in den letzten Jahren stärker in das Bewusstsein ihrer polnischen Anrainer gerückt ist. Die Oder war für uns jahrzehntelang etwas Trennendes, eine Barriere, ein Bollwerk, obwohl die DDR und Polen offiziell sozialistische Bruderländer waren – sagt die Rektorin der Hochschule für Wirtschaft und Tourismus in Sczezin, dem früheren Stettin.

"Die Oder war ein Grenzfluss und aufgrund der Grenzsituation war es den Leuten nicht gegeben, sich zur Oder hinzuwenden. Im Gegenteil, es war verboten, und dadurch ist ein Prozess in Gang gekommen, in dessen Folge sich die Menschen von der Oder abgewandt haben."

Elzbieta Marszalek hatte die Idee, die vergessene Tradition der Holzflöße wiederzubeleben. Zwei Wochen lang jeden Sommer treibt nun das von ihr organisierte Oderfloß den Strom hinunter. Junge Leute aus Polen und Deutschland beteiligen sich an der Aktion, leben gemeinsam auf dem Floß, steuern abwechselnd das östliche und westliche Flussufer an, werden von den Lokalpolitikern empfangen, organisieren Kulturveranstaltungen, lassen sich von örtlichen Kanus, Dampfschiffen und Fischerbooten ein Stück begleiten.

"Und unser Floß ist magnetisch, zieht die Leute an. Sie sehen diese Flotte, und merken, dass diese alte Tradition wiederbelebt wird. Mit dem Floß haben wir die Anwohner darauf hingewiesen, dass die Oder durch ihre Städte fließt, dass sie das Herz der Region ist und dass der Fluss auch das Leben bringt."

Mittlerweile haben sich deutsche und polnische Oderliebhaber verbündet, arbeiten gemeinsam an der Vision einer europäischen Oder. Karl Schlögel ist einer von ihnen, Professor für osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität in Frankfurt/Oder. Unermüdlich schwärmt er von den Chancen durch den Fall des Eisernen Vorhangs und den Beitritt Polens zur Europäischen Union.

"Das Wegfallen dieser Barriere ist eine ungeheure Chance. Da werden Tore geöffnet, es werden Brücken wieder gebaut, also das ganze Land an der Oder wird mobiler, durchsichtiger. Es wird in ihrem Zauber auch sichtbarer, die ganzen Leute haben ja davon keine Kenntnis genommen, dass Polen nur eine Stunde entfernt liegt und sie ahnen nichts von der Schönheit des Flusses."

Karl Schlögel hat einen Traum. Seine Universität, die Viadrina – auf Deutsch: die an der Oder gelegene – möge ein Schiff kaufen. Als Lern- und Studienraum besser als jeder Hörsaal, meint der Historiker.

"Es ist ein sehr ernster Vorschlag. Wenn man ein solches Schiff hat, man könnte von hier aus systematisch diesen kulturellen geschichtlichen Raum erschließen, etwas Wunderbareres kann man sich gar nicht vorstellen."

Uwe Rada stimmt zu. Der Journalist hat sich auch in die Oder verliebt. 860 Kilometer lang war er an ihrer Seite. Mit dem Fahrrad ist er von der Oderquelle in Tschechien über Wroclaw, Eisenhüttenstadt, Frankfurt, Schwedt, Szcecin bis an die Ostsee gefahren und hat ein Buch darüber geschrieben. "Lebenslauf eines Flusses. Die Oder." Bei seiner Reise hat Uwe Rada überall eine Hinwendung zum Fluss festgestellt.

"Es gibt unglaublich viele Initiativen, die sich mit der Geschichte des Flusses beschäftigen und auch mit der Frage, welche Oder wollen wir. Die sich mit touristischen Konzepten beschäftigen. Und so nach und nach setzt sich die Oderkarte wieder zusammen und wir kriegen den gesamten Fluss mit seinem Lauf ins Blickfeld."

Die Städte wenden dem Fluss wieder ihr Gesicht zu. Es entstehen Promenaden, Yachthäfen, Schiffsgaststätten. Das Radwegenetz östlich und westlich des Flusses wird Jahr für Jahr besser, wenn auch die deutschen Reiseführer die polnische Seite des Flusses oft vergessen.

"Die Oderquelle gilt es noch zu entdecken. Aber das gilt für den ganzen Fluss. Man kann an diesem Flusslauf sehr viel entdecken. Es ist noch nicht alles breit getreten, touristisch wie an Rhein und Donau, das macht es auch spannend."

Die größte Entdeckung am deutsch-polnischen Abschnitt der Oder ist Kostrzyn, das frühere Küstrin, eine ehemalige Militärstadt am Zusammenfluss von Oder und Warthe. "Die Wasser grau und schwer, und Wolken drüber her, und über den Mauern, liegt es wie Trauern" schreibt Theodor Fontane in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" über Küstrin. Kronprinz Friedrich, der spätere Alte Fritz, wurde 1730 auf der Festung Küstrin gefangen gehalten und musste dort der Enthauptung seines Freundes Katte zusehen.

"Das ist hier der Eckturm, ja und hier ist das Kreuz, und hier oben ist Katte, da guckt Friedrich raus, Katte soll ihm zugerufen haben, für Dich, mein Freund, sterbe ich gerne. Und in den 30er Jahren wurde in diesem Turm ein zugemauerter Raum gefunden, das war wahrscheinlich das Zimmer von Friedrich, das hat er zumauern lassen, um seine Vergangenheit hinter sich zu lassen."

Karl-Heinz Henschel steht dort, wo sich früher die Festung Küstrin befand, nur wenige Meter vom Oderufer entfernt. Die Altstadt wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs vollkommen zerstört und fiel in einen Dornröschenschlaf. Das heutige polnische Kostrzyn wurde an anderer Stelle errichtet, etwa zwei Kilometer von der ursprünglichen Altstadt entfernt. Wer heute die von Gras und Sträuchern überwucherte, von Fledermäusen bewohnte Ruinenstadt besuchen will, muss zunächst an einem Warnschild vorbei. Auf Deutsch und Polnisch ist zu lesen: "Die Küstriner Altstadt ist ein ungesichertes Ruinengelände, wir bitten darum, sich nur auf den ausgewiesenen Wegen zu bewegen."

"Das hier ist die Schulstraße, hier etwa war das Gymnasium, dann kam die Volksschule Altstadt und dann da hinten die Mädchen-Mittelschule. Wenn ich hier mit einer Delegation reingehe, dann kann ich sagen, hier ist die kurze Dammstraße, hier fuhr früher die Straßenbahn rein."

Karl-Heinz Henschel ist hier geboren und zur Schule gegangen. Seine Kindheit verbrachte der heute 80-Jährige östlich der Oder, 1939 zog er mit seinen Eltern auf die westliche Seite des Flusses.
Fremde sehen nur aufgerissenes Straßenpflaster, angedeutete Häusergrundrisse, einzelne Treppenstufen, Kellergewölbe, morsche Mauerreste. Kein einziges Schild weist auf die historisch bedeutsamen Gebäude hin. In den Erinnerungen Karl-Heinz Henschels wird die prächtige Altstadt wieder lebendig. Der Rentner zeigt auf einen mit Gras überwachsenen Schutthaufen und sagt: "Das war das Gefängnis, hier saß Turnvater Jahn."

"Weil er ja seinerseits die deutsche Turnbewegung modernisiert hat, aus dem starren preußischen Turnen raus in die fließende Bewegung, und damit war er revolutionär. Revolutionäre wurden erst einmal eingesperrt."

Nach 1945 wurde das historisch bedeutende Küstrin zu einem weißen Fleck auf der Landkarte. Das Gelände auf dem Gebiet der DDR westlich der Oder okkupierte die Rote Armee. Der Grenzübergang war nur für Militärs zugänglich. Die Verbindungen zwischen dem jetzt polnischen Kostrzyn und dem deutschen Küstrin-Kiez wurden fast vollständig gekappt. Der Dornröschenschlaf endete 1992 mit der Eröffnung des Grenzübergangs zwischen Deutschland und Polen.

Jetzt sind Bauarbeiter dabei, die Fundamente der kriegszerstörten Altstadt freizulegen, zu beseitigen und das Gelände für eine neue Bebauung vorzubereiten. Karl-Heinz Henschel schüttelt den Kopf. Ginge es nach ihm, würde alles so bleiben, wie es ist.

"Hier würde ich mir wünschen ein Naturdenkmal gegen den Krieg. Denn Küstrin war ja eine Stadt, die zu 98 Prozent zerstört war …"

Im Rathaus von Kostrzyn hält man nichts von einem Freilichtmuseum, von einem Naturdenkmal gegen den Krieg. Neue Nutzung und Wiederaufbau heißt die Devise auf polnischer Seite. Stadtsprecher Ryszard Skalba erläutert dynamisch und in vorzüglichem Deutsch:

"Es gibt einen Flächennutzungsplan. Der Wiederaufbau der Altstadt ist geplant und beabsichtigt. Es gibt bestimmte Hindernisse oder Auflagen vom Denkmalschutz, zum Beispiel das Straßennetz soll behalten werden. Das Rathaus, das Schloss, die Kirche sollen wieder aufgebaut werden."

Gut seien die Beziehungen zur anderen, deutschen Seite der Oder, meint Stadtsprecher Skalba. Von einer gemeinsamen Region, einem gemeinsamen Oderbewusstsein zu sprechen, hält er allerdings für verfrüht.

"Dieses Bewusstsein gibt es noch nicht. Wir haben mehrere Jahre getrennt gelebt, die Grenze war vorhanden, der Fluss hat uns getrennt, die Grenze war zu, natürlich, ein Teil der Sowjetunion lag noch hier auf der Ecke zwischen Polen und der DDR damals, es gab kaum Kontakte, und deshalb wir haben Probleme, uns selber zu identifizieren. Und als Gemeinschaft Oderbruch, Lebuser Land, das empfinde ich noch zu früh."

Küstrin-Kostrzyn ist ein Geheimtipp. Noch. Jedes Jahr kommen mehr Touristen an die Oder, nutzen den neu ausgebauten Oder-Neiße-Radweg, genießen die Natur. Genau wie Martin Schieck, der seit sechs Jahren jeden Tag morgens um acht ein Foto von der Oder macht. Und wie alle anderen, die sich in den letzten Jahren in die Oder verliebt haben.

Radfahrer: " Störche haben wir gesehen, Kraniche, toll, und Reiher.
Was wirklich fantastisch ist, man fährt stundenlang durch Gegenden, wo man kein Dorf findet. Manchmal eine schöne Gaststätte, aber ansonsten ist das eine ganz ruhige, naturbelassene Landschaft, das fasziniert.
Wer Natur haben will, der geht hierher und guckt sich das an und hier können Sie stundenlang sitzen in der Sonne und können mit dem Fernglas die Tiere beobachten, ganz toll."