"Die Opposition ist noch nicht strukturiert"
Mehr als 3500 Menschen sind bei den Demonstrationen gegen Baschar al-Assad schon getötet worden. Wie geht es jetzt weiter in Syrien? Ein Gespräch mit dem Islamwissenschaftler Guido Steinberg über die Chancen der Opposition und den Einfluss der Islamisten.
Joachim Scholl: Alexander Bühler mit
Stimmen der syrischen Opposition
, aufgenommen in Syrien. Der Journalist war kürzlich undercover ins Land eingereist. Hier bei uns im Studio ist jetzt Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Morgen, Herr Steinberg!
Guido Steinberg: Guten Morgen!
Scholl: Seit dem Frühjahr hat der Aufstand in Syrien kontinuierlich zugenommen, hat das ganze Land erfasst. Laut den Vereinten Nationen haben über 3500 Menschen bisher ihr Leben verloren. Wer gehört eigentlich zu dieser Opposition, die sich so furchtlos den Panzern und Scharfschützen Assads entgegenstellt?
Steinberg: Die Opposition ist noch nicht strukturiert, das ist tatsächlich ein spontan entstandener Volksaufstand im Protest gegen Übergriffe der Sicherheitskräfte, zunächst im Süden des Landes, aber dann auch im Protest gegen die dann doch sehr brutale Unterdrückung jeglicher oppositioneller Bestrebungen gegen die ungeheuer schlechten Lebensverhältnisse weiter Teile im Land. Es ist ja kein Zufall, dass es vor allem die Peripherie des Landes ist, wo dieser Aufstand stattfindet, also in Homs, in Hama, in vernachlässigten Städten und weniger in der Hauptstadt Damaskus und in Aleppo. Und bisher hat sich da noch keine größere Struktur entwickelt, obwohl natürlich oppositionelle Gruppierungen, vor allem im Ausland, versuchen, diese Strukturen zu entwickeln.
Scholl: Woher nehmen die Menschen eigentlich den Mut, sich jetzt seit acht Monaten lang kontinuierlich zusammenschießen zu lassen, muss man ja sagen, zu protestieren ohne eigene demokratische Erfahrung und ohne jegliche Unterstützung?
Steinberg: Ja, dieser Mut ist gar nicht hoch genug zu schätzen. Mir ist es auch unverständlich. Man kann das wahrscheinlich nur erklären durch den Druck, der sich dort in mehr als 40 Jahren Diktatur entwickelt hat. Die Leute haben tatsächlich ihre Angst verloren, und das ist vor dem Hintergrund ihres Wissens, wie brutal dieser Staat agieren kann – das war ihnen ja nicht unbekannt –, tatsächlich ungeheuer bemerkenswert und für uns hier in Deutschland kaum nachvollziehbar, selbst wenn wir das Land gut kennen würden, wir dort gelebt haben.
Scholl: Der Protest findet – Sie sagten es – eher in der Peripherie statt, in vielen Städten der Provinz, noch nicht in der Hauptstadt, auch nicht in der Wirtschaftsmetropole Aleppo. Wer muss sich denn Ihrer Meinung nach den Protesten anschließen, damit das Regime wirklich stürzt? Welche Wirkungsmacht ist hier entscheidend?
Steinberg: Es gibt noch verschiedene Gruppierungen, die entweder zögern oder sich hinter das Regime stellen, und das gilt ganz besonders für weite Bevölkerungsteile in den beiden größten Städten des Landes. Damaskus ist das große Zentrum, von etwa 22 Millionen Syrern leben vier Millionen hier, und bisher sind es nur die Randbezirke, die teilweise auch stark vernachlässigten ländlichen Bezirke rund um Damaskus, wo Proteste stattfinden. Wenn diese sich ausweiten auf die Hauptstadt, dann wird das Regime noch größere Probleme bekommen. Hinzu kommen die Kurden, etwa zwei Millionen Menschen, also rund zehn Prozent, vielleicht etwas weniger, der Bevölkerung, die vor allem im Norden und Nordosten des Landes, aber auch in diesen beiden großen Städten leben. Wenn die sich anschließen, dann könnte das durchaus das Ende des Regimes Assad bedeuten. Bisher allerdings scheint es so, als sei die soziale Basis des Regimes immer noch sehr, sehr breit – sehr viel breiter, als die Basis der anderen Regime, die in den letzten Monaten gestürzt sind.
Scholl: Welche Rolle spielt der religiöse Aspekt? Man sagt, dass die Opposition islamisch dominiert sei. Ist das tatsächlich so?
Steinberg: Also es gibt sicherlich noch nicht den deutlichen ideologischen Stempel. Man kann allerdings beobachten – und das haben wir eben im Beitrag auch sehr deutlich gehört –, dass es da islamische Untertöne gibt. Es wird immer wieder "Allahu Akbar", also "Gott ist groß" gerufen, was darauf hinweist, dass hier zumindest religiöse Emotionen mitschwingen. Und bisher sind es vor allem Angehörige der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit – Sunniten stellen etwa 70 Prozent im Land –, die sich erhoben haben, gegen eine politische Elite, die stark alevitisch, also von einer schiitischen Minderheit dominiert ist, und hinzu kommt, dass die einzige große Oppositionskraft die islamistische Muslimbruderschaft ist, die zwar im Land selbst nicht gut organisiert ist, aber sie ist präsent, und vor allem in der Exilopposition versucht sie nun, ihren Einfluss auszubauen, und in allen Gremien, die sich dort gebildet haben, sind die Muslimbrüder stark vertreten. Wenn es also zu einem Machtwechsel kommt, werden wahrscheinlich – so wie in Tunesien auch, so wie in Ägypten, in Libyen – wahrscheinlich auch in Syrien die Islamisten eine zumindest wichtigere Rolle spielen, als sie das bisher tun.
Scholl: Wie groß ist die Gefahr eines konfessionellen Bürgerkriegs, ähnlich der Gewalt, die nach dem Sturz Saddam Husseins im Irak dann so eskaliert ist?
Steinberg: Diese Gefahr ist sehr, sehr groß, weil diese Opposition eben zumindest einen sunnitischen Charakter hat. Es gibt ganz, ganz starke Ressentiments dieser sunnitischen Bevölkerungsmehrheit gegen die Christen – so ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung –, gegen die Aleviten, die sich zumindest mehrheitlich noch hinter das Regime Assad stellen. Die Befürchtung ist groß, und die wird auch vom Regime genährt, dass ein Zusammenbruch der Herrschaft von Baschar al-Assad zu Verhältnissen wie im Irak führen kann, und das ist durchaus ein plausibles Szenario für die Zukunft Syriens. Und das führt eben dazu, dass das Regime noch sehr, sehr viel Unterstützung im Land hat.
Scholl: Sie sagten vorhin, die oppositionellen Kräfte sind wenig organisiert, wenig strukturiert, kaum strukturiert. Das heißt, es gibt auch noch gar keine konkreten politischen Konzepte für eine mögliche Zeit nach Assad?
Steinberg: Die Exil-Opposition versucht natürlich, sich als demokratische Kraft darzustellen, um die Unterstützung Europas und auch der Amerikaner zu bekommen. Um dort möglichst viele Gruppierungen zu einen, werden diese Konzepte auch noch nicht ausformuliert. Man muss allerdings davon ausgehen, dass der islamistische Faktor in der Opposition so stark ist, dass wir dort auch einen – wenn denn das Regime fällt – stärker religiösen Staat sehen werden. Diese Konzepte werden allerdings noch nicht deutlich ausformuliert. Wir müssen davon ausgehen, dass das, was dort an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und so weiter gefordert wird, vielleicht mit einem etwas anderen Schwerpunkt dann verwirklicht wird, als das jetzt von der Opposition dargestellt wird.
Scholl: Sie sind Islamwissenschaftler, Guido Steinberg, haben guten Kontakte nach Syrien, haben Freunde, Bekannte dort. Was erzählen die? Hoffen sie auf einen Sturz oder fürchten sie, dass sich das Gewaltregime von Baschar al-Assad weiter durchsetzt, so, wie er sich immer per Gewalt durchgesetzt hat?
Steinberg: Also selbst diejenigen Menschen im Land, die eigentlich darauf hoffen, dass das Regime Assad fortbesteht, tun das eher aus Angst vor dem, was die Alternative sein kann. Vor dem Hintergrund dessen, was im Moment bekannt wird an Gewalttaten, gibt es nur noch wenig ganz, ganz offene Unterstützung. Das Problem für den Beobachter ist allerdings, dass natürlich niemand sich im Moment ganz offen am Telefon oder über E-Mail äußert, weil die syrischen Sicherheitsorgane diese Kommunikationswege nach außen sehr scharf überwachen. Insofern kriegt man auch wenig authentische Stimmen aus dem Land, wie Sie das auch in der Einführung schon angedeutet haben. Das gilt für den Spezialisten genau so – für den vielleicht sogar noch mehr, weil er natürlich seine lange aufgebauten Kontakte, seine Freundschaften da noch weniger gefährden möchte.
Scholl: Zur Situation in Syrien, das war der Islamwissenschaftler Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Danke für Ihren Besuch, Herr Steinberg!
Steinberg: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Guido Steinberg: Guten Morgen!
Scholl: Seit dem Frühjahr hat der Aufstand in Syrien kontinuierlich zugenommen, hat das ganze Land erfasst. Laut den Vereinten Nationen haben über 3500 Menschen bisher ihr Leben verloren. Wer gehört eigentlich zu dieser Opposition, die sich so furchtlos den Panzern und Scharfschützen Assads entgegenstellt?
Steinberg: Die Opposition ist noch nicht strukturiert, das ist tatsächlich ein spontan entstandener Volksaufstand im Protest gegen Übergriffe der Sicherheitskräfte, zunächst im Süden des Landes, aber dann auch im Protest gegen die dann doch sehr brutale Unterdrückung jeglicher oppositioneller Bestrebungen gegen die ungeheuer schlechten Lebensverhältnisse weiter Teile im Land. Es ist ja kein Zufall, dass es vor allem die Peripherie des Landes ist, wo dieser Aufstand stattfindet, also in Homs, in Hama, in vernachlässigten Städten und weniger in der Hauptstadt Damaskus und in Aleppo. Und bisher hat sich da noch keine größere Struktur entwickelt, obwohl natürlich oppositionelle Gruppierungen, vor allem im Ausland, versuchen, diese Strukturen zu entwickeln.
Scholl: Woher nehmen die Menschen eigentlich den Mut, sich jetzt seit acht Monaten lang kontinuierlich zusammenschießen zu lassen, muss man ja sagen, zu protestieren ohne eigene demokratische Erfahrung und ohne jegliche Unterstützung?
Steinberg: Ja, dieser Mut ist gar nicht hoch genug zu schätzen. Mir ist es auch unverständlich. Man kann das wahrscheinlich nur erklären durch den Druck, der sich dort in mehr als 40 Jahren Diktatur entwickelt hat. Die Leute haben tatsächlich ihre Angst verloren, und das ist vor dem Hintergrund ihres Wissens, wie brutal dieser Staat agieren kann – das war ihnen ja nicht unbekannt –, tatsächlich ungeheuer bemerkenswert und für uns hier in Deutschland kaum nachvollziehbar, selbst wenn wir das Land gut kennen würden, wir dort gelebt haben.
Scholl: Der Protest findet – Sie sagten es – eher in der Peripherie statt, in vielen Städten der Provinz, noch nicht in der Hauptstadt, auch nicht in der Wirtschaftsmetropole Aleppo. Wer muss sich denn Ihrer Meinung nach den Protesten anschließen, damit das Regime wirklich stürzt? Welche Wirkungsmacht ist hier entscheidend?
Steinberg: Es gibt noch verschiedene Gruppierungen, die entweder zögern oder sich hinter das Regime stellen, und das gilt ganz besonders für weite Bevölkerungsteile in den beiden größten Städten des Landes. Damaskus ist das große Zentrum, von etwa 22 Millionen Syrern leben vier Millionen hier, und bisher sind es nur die Randbezirke, die teilweise auch stark vernachlässigten ländlichen Bezirke rund um Damaskus, wo Proteste stattfinden. Wenn diese sich ausweiten auf die Hauptstadt, dann wird das Regime noch größere Probleme bekommen. Hinzu kommen die Kurden, etwa zwei Millionen Menschen, also rund zehn Prozent, vielleicht etwas weniger, der Bevölkerung, die vor allem im Norden und Nordosten des Landes, aber auch in diesen beiden großen Städten leben. Wenn die sich anschließen, dann könnte das durchaus das Ende des Regimes Assad bedeuten. Bisher allerdings scheint es so, als sei die soziale Basis des Regimes immer noch sehr, sehr breit – sehr viel breiter, als die Basis der anderen Regime, die in den letzten Monaten gestürzt sind.
Scholl: Welche Rolle spielt der religiöse Aspekt? Man sagt, dass die Opposition islamisch dominiert sei. Ist das tatsächlich so?
Steinberg: Also es gibt sicherlich noch nicht den deutlichen ideologischen Stempel. Man kann allerdings beobachten – und das haben wir eben im Beitrag auch sehr deutlich gehört –, dass es da islamische Untertöne gibt. Es wird immer wieder "Allahu Akbar", also "Gott ist groß" gerufen, was darauf hinweist, dass hier zumindest religiöse Emotionen mitschwingen. Und bisher sind es vor allem Angehörige der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit – Sunniten stellen etwa 70 Prozent im Land –, die sich erhoben haben, gegen eine politische Elite, die stark alevitisch, also von einer schiitischen Minderheit dominiert ist, und hinzu kommt, dass die einzige große Oppositionskraft die islamistische Muslimbruderschaft ist, die zwar im Land selbst nicht gut organisiert ist, aber sie ist präsent, und vor allem in der Exilopposition versucht sie nun, ihren Einfluss auszubauen, und in allen Gremien, die sich dort gebildet haben, sind die Muslimbrüder stark vertreten. Wenn es also zu einem Machtwechsel kommt, werden wahrscheinlich – so wie in Tunesien auch, so wie in Ägypten, in Libyen – wahrscheinlich auch in Syrien die Islamisten eine zumindest wichtigere Rolle spielen, als sie das bisher tun.
Scholl: Wie groß ist die Gefahr eines konfessionellen Bürgerkriegs, ähnlich der Gewalt, die nach dem Sturz Saddam Husseins im Irak dann so eskaliert ist?
Steinberg: Diese Gefahr ist sehr, sehr groß, weil diese Opposition eben zumindest einen sunnitischen Charakter hat. Es gibt ganz, ganz starke Ressentiments dieser sunnitischen Bevölkerungsmehrheit gegen die Christen – so ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung –, gegen die Aleviten, die sich zumindest mehrheitlich noch hinter das Regime Assad stellen. Die Befürchtung ist groß, und die wird auch vom Regime genährt, dass ein Zusammenbruch der Herrschaft von Baschar al-Assad zu Verhältnissen wie im Irak führen kann, und das ist durchaus ein plausibles Szenario für die Zukunft Syriens. Und das führt eben dazu, dass das Regime noch sehr, sehr viel Unterstützung im Land hat.
Scholl: Sie sagten vorhin, die oppositionellen Kräfte sind wenig organisiert, wenig strukturiert, kaum strukturiert. Das heißt, es gibt auch noch gar keine konkreten politischen Konzepte für eine mögliche Zeit nach Assad?
Steinberg: Die Exil-Opposition versucht natürlich, sich als demokratische Kraft darzustellen, um die Unterstützung Europas und auch der Amerikaner zu bekommen. Um dort möglichst viele Gruppierungen zu einen, werden diese Konzepte auch noch nicht ausformuliert. Man muss allerdings davon ausgehen, dass der islamistische Faktor in der Opposition so stark ist, dass wir dort auch einen – wenn denn das Regime fällt – stärker religiösen Staat sehen werden. Diese Konzepte werden allerdings noch nicht deutlich ausformuliert. Wir müssen davon ausgehen, dass das, was dort an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und so weiter gefordert wird, vielleicht mit einem etwas anderen Schwerpunkt dann verwirklicht wird, als das jetzt von der Opposition dargestellt wird.
Scholl: Sie sind Islamwissenschaftler, Guido Steinberg, haben guten Kontakte nach Syrien, haben Freunde, Bekannte dort. Was erzählen die? Hoffen sie auf einen Sturz oder fürchten sie, dass sich das Gewaltregime von Baschar al-Assad weiter durchsetzt, so, wie er sich immer per Gewalt durchgesetzt hat?
Steinberg: Also selbst diejenigen Menschen im Land, die eigentlich darauf hoffen, dass das Regime Assad fortbesteht, tun das eher aus Angst vor dem, was die Alternative sein kann. Vor dem Hintergrund dessen, was im Moment bekannt wird an Gewalttaten, gibt es nur noch wenig ganz, ganz offene Unterstützung. Das Problem für den Beobachter ist allerdings, dass natürlich niemand sich im Moment ganz offen am Telefon oder über E-Mail äußert, weil die syrischen Sicherheitsorgane diese Kommunikationswege nach außen sehr scharf überwachen. Insofern kriegt man auch wenig authentische Stimmen aus dem Land, wie Sie das auch in der Einführung schon angedeutet haben. Das gilt für den Spezialisten genau so – für den vielleicht sogar noch mehr, weil er natürlich seine lange aufgebauten Kontakte, seine Freundschaften da noch weniger gefährden möchte.
Scholl: Zur Situation in Syrien, das war der Islamwissenschaftler Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Danke für Ihren Besuch, Herr Steinberg!
Steinberg: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.