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Extrakte des Lebens
Er gilt als Meister des Kleinen, hat sich aber ein Leben lang mit dem großen Orchester befasst. Tatsächlich sind viele von Anton Weberns Werken leise, zart und kurz. Sie klingen modern und sind doch zutiefst romantisch.
Der Wiener Komponist Anton Webern (1883-1945) wuchs in einer Epoche auf, die das Große liebte. Seine ästhetische Prägung erhielt er jedoch in einem Umfeld, in dem das Große zunehmend mit dem Kleinen verschränkt wurde, um letztlich zu pointierter Knappheit zu führen. Das Werk seines Lehrers Arnold Schönberg legt davon – zumindest phasenweise – ebenso Zeugnis ab wie die zeitgleich wachsende Bedeutung lyrischer und aphoristischer Literatur. Der Schriftsteller Peter Altenberg, ein Idol der Schönberg-Schule, nannte einen seiner Prosabände so, wie man auch viele Stücke Weberns nennen könnte: "Extrakte des Lebens".
Die lange Zeit als Geheimtipp gehandelte Musik Weberns erfuhr nach 1945 weltweite Beachtung, als die Komponisten der westeuropäischen Nachkriegsavantgarde – allen voran Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez – Webern zum Propheten der Neuen Musik ausriefen. In theoretischen Abhandlungen sowie den brillanten Interpretationen des Dirigenten Boulez wurde Webern als Meister komplexer Strukturen gefeiert. Was in diesem Furor der Entdeckung ins Hintertreffen geriet, war Weberns romantisches Weltbild, seine Verwurzelung in der Wiener Musikkultur und seine Neigung zu pantheistischen Naturbeschwörungen in der Kunst.
Schwelgen erwünscht
Bei genauerer Beschäftigung mit den Quellen wird jedenfalls deutlich, dass die gewisse Trockenheit, die in etlichen Webern-Interpretationen festzustellen ist, nicht in der Absicht des Komponisten lag, der einmal ausrief: "Schwelgt in Klängen, dann tut ihr recht, Dirigenten!" Auch steht hier jeder Musiker vor der Aufgabe, die permanente Spannung zwischen konziser Form und explosivem Ausdruck zu erspüren, die Weberns Werk innewohnt. Der Pianist Peter Stadlen, der Weberns Klaviervariationen op. 27 uraufführte, schrieb dazu: "Einerseits ging seine Neigung, außermusikalische Inhalte auszudrücken, so ins Extrem, dass die Noten beinahe nebensächlich und als bloße Ausdrucksträger angesehen wurden; andererseits war es sein Bestreben, die Musik gerade von dieser Bindung zu befreien und ihr jenen autonomen strukturellen Sinn wiederzugeben, den zu verlieren sie während der romantischen Epoche auf dem besten Wege war. Wie dem auch sei, es läuft darauf hinaus, dass eine authentische Wiedergabe eines Werkes von Webern ohne das direkte Festhalten an der Tradition unmöglich ist."
Zwischen Orchester und Ensemble
Für den Pianisten, Komponisten und Leiter des Leipziger Ensemble Avantgarde Steffen Schleiermacher gehören diese Variationen zum Standardrepertoire. Da sie allerdings Weberns einziges offizielles Klavierwerk sind, widmet sich das Gespräch dem facettenreicheren Schaffen für großes Orchester sowie den daraus entwickelten Ensemblebesetzungen. Diese Sendung markiert den Auftakt zu einem kleinen Webern-Schwerpunkt im Deutschlandfunk Kultur, der im September mit zwei Übertragungen vom Musikfest Berlin und einem "Quartett der Kritiker" (zu hören in den "Interpretationen" am 16. September 2018) fortgesetzt werden wird.