Die Organistin in der Synagoge

Von Gerald Beyrodt |
Am kommenden Mittwoch beginnen die hohen Feiertage mit dem Neujahrsfest, dem Versöhnungstag und dem Laubhüttenfest. Für viele Kantoren bedeutet diese Zeit Schwerstarbeit - am Versöhnungstag Jom Kippur etwa müssen sie viele Stunden lang singen. In der Berliner Synagoge in der Pestalozzistraße werden sie tatkräftig von der Organistin Regina Yantian unterstützt.
Der Beruf hat Seltenheitswert: Organistin in der Synagoge. In orthodoxen Gemeinden ist das Instrument verboten – denn bei den wichtigsten Gottesdiensten einen Orgelmotor zu betätigen, wäre dort ein Verstoß gegen das Gebot der Schabbatruhe.

Liberale Kollegs bilden zwar Kantoren, aber keine Organisten aus. Nur in wenigen Synagogen weltweit erklingen noch die Pfeifentöne. Ob Sie sich nun in den USA, Lateinamerika oder in Deutschland befinden – immer hat die Musiktradition deutsche Wurzeln, sagt Regina Yantian, Organistin in Berlin.

"Das kann man so sagen. Juden aus Russland oder Polen sind ja gar nicht vertraut mit der Tradition. Und was man kennt, möchte man weiterführen. Und man muss davon ausgehen, dass überall, wo es eine Orgel gibt, auch ein deutschsprachiger Einfluss bestand."'"

Regina Yantian greift in der Berliner Synagoge in der Pestalozzistraße in die Orgeltasten. Dort hat sich eine liberale Liturgie wie vor dem Krieg erhalten. Das bedeutet vor allem: eine Liturgie mit Orgel und einem gemischten Chor aus Männer- und Frauenstimmen.

Alle Melodien stammen dort von dem einflussreichen deutsch-jüdischen Komponisten Louis Lewandowski, einem Zeitgenossen der Romantiker. Im Gegensatz zu anderen liberalen Synagogen sitzen Männer und Frauen in der Pestalozzistraße getrennt – Gepflogenheiten wie vor dem Krieg. Frauen zählen auch nicht zum Minyan, der Zehnzahl von Betern, die erforderlich ist, um zentrale Gebete zu sprechen.

Jungen und Mädchen bekommen getrennten Unterricht: Mädchen haben eigene Bat Mitzwah-Kurse bei Regina Yantian. Bat Mitzwah bedeutet: Tochter des Gebots. Gleichberechtigung in der Synagoge ist für die jungen Beterinnen kein Thema.

""Ich hab' die Frage den Schülerinnen gestellt, den Bat-Mitzwah-Schülerinnen, und hab' gedacht, jetzt kommt 'n bisschen revolutionäres Gedankengut oder die fühlen sich benachteiligt, und es ist scheinbar überhaupt nicht so. Ich bin ganz erstaunt, dass diese jungen Mädchen genau das akzeptieren und sich scheinbar an ihrem Ort sehr wohlfühlen. Ich dachte, wollt ihr nicht mit euren ganzen Familien zusammensitzen und mit den Vätern? Nein, sie sind total froh, an der Seite zu sitzen mit Freundinnen, mit den Müttern und ohne Väter. Ich war auch selbst erstaunt."

Die heutige Organistin hat Judaistik und Musikethnologie studiert. Sie ist dafür ausgebildet, die Musik fremder Völker zu erforschen. Doch die jüdische Musik hat sie stets am meisten interessiert: In Israel gefällt ihr, wie viele Musikstile das Land anzubieten hat – orientalische Melodien und Rhythmen genauso wie europäische.

Als sich Regina Yantian in der Pestalozzistraße als Musikerin anbot, dachte sie nicht unbedingt ans Orgelspiel.

"Es war so, dass ich eigentlich mich beworben hatte, um im Synagogenchor mitzusingen und hatte dann mit Kantor Nachama gesprochen, im Moment gäb's keine Sängerstellen, aber sie suchen dringend 'nen Organisten. Und hab' mich dann langsam an den Gednken gewöhnt und mich da eingearbeitet, und hat ja auch alles gut geklappt."

Lange gab es neben der Pestalozzistraße kaum liberale Synagogen in Deutschland. Wer sich nach der Schoa im Land der Täter ansiedelte, kam oft aus Polen oder Russland, brachte eigene Traditionen mit. Orgeln in Synagogen blieben oft ungenutzt. In den letzten zwanzig Jahren sind wieder zahlreiche liberale Gemeinden entstanden. Zwar sind liberalen Synagogen oft klein und Orgeln teuer. Regina Yantian hofft trotzdem auf eine Rückkehr des Pfeifeninstrumentes.

"In Deutschland entstehen ja immer mehr liberale Gemeinden und besteht 'ne Tendenz, die Orgeltradition langsam einzuführen. Als Beispiel kann ich da Bielefeld nennen. Die haben eine Kirche umgebaut in eine Synagoge, haben die Orgel mitgekauft. Und ich hatte dann das Privileg einen Orgelgottesdienst zum ersten Mal zu spielen. Und da haben wir dann dann getestet, wie das ankam, und obwohl die Gemeinde bestimmt zu neunzig Prozent russisch ist, gab's dann Wohlwollen und Interesse an Orgelbegleitung. Ich denke, dass durch die Liberalisierung des Judentums in Deutschland auch die Orgel vielleicht wieder etablierter wird."