Die Ostsee - eine Zeitbombe?

Von Jörg Hafkemeyer |
Seit mindestens 1961 werden in der Lübecker Bucht vor Travemünde größere Munitionsfunde vermutet. Möglichweise auch Giftgas. Was liegt da unten und wo? Es ist eine Geschichte, die nicht enden wird: Wer hat die gefährlichen Stoffe an verschiedenen Stellen versenkt? Ein Gutachter aus Koblenz, eine Lokalpolitikerin aus Lübeck und zwei Experten für Munitionsfunde geben Auskunft über Funde, Gefährlichkeit und Versagen.
Der Wissenschaftler Stefan Nehring über Munitions- und Giftgasfunde in der Ostsee:

"Man hat die Ostsee jahrzehntelang als Müllkippe benutzt, und es gibt einen Vorfall, der sehr geheimnisvoll ist. 1961 hat man hier in Lübeck ein Problem gehabt, man hat Giftgasflaschen gefunden und man hat sich überlegt, wo kann man die lassen und dann kam man auf die tolle Idee, ach die können wir ja einfach in der Ostsee versenken, direkt vor Travemünde im Strandbereich."

Der Bergungsunternehmer Wolfgang Steinborn über Munitions- und Giftgasfunde in der Ostsee:

"Es hat jahrzehntelang unter Wasser gelegen. Es handelt sich um eine Seemine."

Es ist ein klarer sommerlicher Tag in Travemünde. Hellblaue See. Der Blick geht bis zum Horizont. Viele dreieckige Segelpyramiden in der Lübecker Bucht. Keine Wolke am Himmel. Die Strandpromenade. Überwiegend ältere Ehepaare, zumeist grauhaarig, flanieren in diesen Vormittagsstunden zwischen altem Leuchtturm und der in die Mündung der Trave hinein ragenden grauen Betonmole. Am weißen, zu Saisonbeginn sauber geharkten Stand, Strandkörbe. Dicht an dicht. Aufgereiht wie Zinnsoldaten zu einer Parade. Keine Sandburgen. In pedantischem Abstand in Reih und Glied aufgestellte Bratkörbe. Es stinkt entsetzlich nach Seegras. Das wächst im Flachwasserbereich am Ufer.

Nahe dem Molenkopf ein junger Mann. Anfang 30 vielleicht. Korpulent. Er schaut auf die Ostsee.

Stefan Nehring: ""Wir sehen viel Wasser. Wir sehen viele Schiffe. Doch was unter Wasser ist, das sehen wir nicht."


Stefan Nehring ist Meeresbiologe und Gutachter. Bei einem Betrieb für Umweltplanung in Koblenz. Aqua et Terra heißt der. Nehring erinnert an die Versenkungen 1961: Insgesamt 14 Gasflaschen mit Chlorgas und Phosgen, sagt er, sind hier ins Meer geworfen worden. Die Frage ist bis heute von wem und wo genau. Auf keiner Seekarte finden sich Eintragungen oder Kennzeichnungen. Keinerlei Warnungen.

Stefan Nehring: "Das wurde dann auch umgesetzt und dann hat man das jahrzehntelang vergessen und als ich recherchiert habe über Munitionsversenkungen und Giftgasversenkungen, bin ich über diese alten Akten gestolpert und habe das öffentlich gemacht. Und auf einmal war Panik da, weil alle denken, ja, das kann ja gar nicht sein. Wo kommt das her? Und man hat angefangen, weiter zu recherchieren."

Tatsächlich, die regionalen wie die Landesbehörden, machen sich auf die Suche. Stellen Nachforschungen an, berichtet der Wissenschaftler Nehring.

Stefan Nehring: ""Man war erstmal überrascht. Aber man hat natürlich gemerkt, das ist schon ein heikles Thema. Man hat es jahrzehntelang vergessen gehabt, man hat es immer verdrängt. Intern wissen Behörden natürlich über vieles Bescheid, aber nach außen dringt wenig. Und durch diese Aktenrecherche hat man doch gedacht, ja, wir müssen was tun, denn in den Akten stand auch exakt, genau die Stelle, also, die Koordinaten waren auch genau angegeben. Die Landesregierung hier in Schleswig-Holstein hat dann das Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrografie in Hamburg beauftragt, mit einem ihrer Forschungsschiffe doch an dieser Stelle mal nach diesen Giftgasflaschen zu suchen."

Stefan Nehring sagt, eigentlich beginnt erst an dieser Stelle die Geschichte wirklich. Das Hamburger Bundesamt schickt tatsächlich eines ihrer Schiffe in die Lübecker Bucht. Das sucht mit High-Tech den Meeresboden ab. Scannt ihn. Und was kommt raus?

Stefan Nehring: "Das weiß ich. Das wurde dann natürlich auch sofort presse mäßig von der Landesregierung ausgeschlachtet. Man hat nichts gefunden. Dann hat man gedacht, ja, dann ist da wohl nichts da und wir können wieder nach Hause fahren und die ganze Geschichte ad acta legen."

Die Strandpromenade füllt sich unterdessen. Die Sonne steigt hoher. Weiße Ausflugsdampfer legen von der Pier ab, laufen, auf dem sonnenüberfluteten Oberdeck gut besetzt, aus der Travemündung hinaus in die Lübecker Bucht. Kehren in der Fahrrinne nach einer Stunde wieder zurück an den Anleger. Stefan Nehring schaut sich die Bilder an. Friedlich ist es. Urlaubsstimmung. Wie jedes Jahr. Dann dreht er sich um, schaut sehr ernst auf die Fahrrinne: Es muss was da sein, empört er sich. Die Akten sind eindeutig. Und, was ganz interessant ist … im Jahre 2001 hat genau dieses Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrografie nur ein paar Seemeilen entfernt exakt auch 15 Behälter um die es hier bei der 1961 Versenkung geht, gefunden. Damals hat man aber gedacht, das sind Behälter, da müssten wohl radioaktive Abfälle drin sein. Dann hat man Taucher runter geschickt, die haben am Meeresgrund nach Radioaktivität gesucht und versucht, zu messen und nichts gefunden. Da war man also ganz glücklich und hat gesagt, oh, dann sind diese ganzen Behälter noch dicht, dann können wir diese Abfälle da liegen lassen und wir fahren wieder nach Hause und vergessen das.

Stefan Nehring: "Und das habe ich dann natürlich sofort publik gemacht und siehe da, auf einmal kam wirklich hektische Bewegung herein, weil auch das mit den radioaktiven Abfällen, dass man sie einfach liegen lässt, ist ja auch sicherlich nicht förderlich hier für den Tourismus und sicher auch nicht für die Umwelt. Man hat hier in Lübeck eine kleine Firma beauftragt, doch in diesem Bereich mal einen Behälter zu bergen, gleichzeitig hat das Bundesamt kundgetan, ein paar Seemeilen weiter haben sie noch ein bisschen was gefunden, irgendwelche Kisten und auch da könnte man ja mal nachschauen."

Der Anfang 30-Jährige wendet sich um und geht die gegenüber dem Prielwall gelegene Uferpromenade in Richtung Travemünder Hafen zurück. Schaut auf die dort vertäute Viermastbark "Passat", dem Schwesterschiff der vor den Azoren untergegangenen "Pamir". Schaut ein wenig versonnen. Bekommt plötzlich ganz wache Augen…

Stefan Nehring: "Das Nachschauen ist noch gar nicht lange her. Die Firma hat auch etwas gefunden. Aber was, ist geheimnisvoll. Weil, nach außen hin dringt nichts, dem Naturschutzbund, der also auch in dieser Geschichte aktiv ist, wurde nur mitgeteilt, man hätte eine leere Hülle einer alten Luftmine aus dem zweiten Weltkrieg gefunden, also nichts gefährliches und man hätte noch ein Bombenabwurfgestell gefunden, also nur ein Gestell, also auch nichts gefährliches. Das wäre alles gewesen."

Nehring geht weiter in Richtung Lübecker Yachtclub. Die Uferpromenade entlang. Macht einen unzufriedenen Eindruck. Er geht davon aus, dass den Landesbehörden die Versenkungsstelle vor Lübeck seit Jahrzehnten bekannt ist. Es gibt Dokumente, nach denen das Fischereiamt Schleswig-Holstein schon 1970 von zahlreichen mit gefährlichen Gasen gefüllten Gasflaschen in der Lübecker Bucht wusste.

Der Mann mit den kurzen dunklen Haaren bleibt wieder stehen. Er erinnert daran, dass damals die Fischer aufgefordert werden, Vorsicht walten zu lassen. wieder stehen. Schwitzt. Es ist ganz schön heißt geworden in diesen Mittagsstunden. 38 Jahre ist das her, empört er sich. Und nun? Nun reden wir über ein Bombenabwurfgestellt, das die Taucher gefunden haben.

Stefan Nehring: "Ich habe dann durch interne Kanäle erfahren, dass das nicht so ganz stimmt, sondern, dass man wohl schon Fliegerbomben gefunden hat, gefüllt mit Sprengstoff, noch voll funktionsfähig. Aber nach außen hin sagen die Behörden, wir wissen nichts."

Händler verkaufen Strohhüte auf der Uferpromenade. Eis, Postkarten, maritime Ölbilder werden angeboten, Fotografien, Kinderspielzeug, Sonnenbrillen.
Stefan Nehring blickt den Weg zurück zur Mole, schaut auf das bunte Treiben an diesem herrlichen Sommertag und kommt von den Munitionsfunden nicht los.
Stefan Nehring: "Das ist nur ein paar Seemeilen von hier entfernt. Das ist eigentlich auch die große Gefahr. Es ist ein Flachwasserbereich – maximal 20 m Wassertiefe – es ist für die Fischerei nicht ungefährlich, die mit ihren Grundschleppnetzen in diesem Bereich fischen. Es ist für Sporttaucher nicht ungefährlich, die ja auch hier in der Lübecker Bucht gerne tauchen gehen und es ist natürlich auch für Strandbesucher nicht ungefährlich, weil keiner ausschließen kann, ob nicht diese Gefäße über Strömung über den Grund bewegt werden, dann vielleicht irgendwann hier an die Strände gespült werden."


Der Lübecker Yachtclub. Ein edles, nobles Restaurant mit eigenem Bootsanleger gegenüber vom Prielwall, an der Überseebrücke. Ein hanseatisch gediegener Gastraum, eine windgeschützten Terrasse. Der Experte nimmt an einem Tisch nahe des Eingangs Platz. Das Restaurant ist gut besucht. Freie Plätze gibt es kaum. Es sind zu viele Segler und Rentner unterwegs. Nehring sagt, es stört, es empört ihn, dass nichts geschieht. Stören tun ihn auch die vielen Unsicherheiten. Selbst die wichtigste Frage, wie viele Flaschen denn wo genau liegen, lässt sich seiner Meinung nach nicht beantworten.


Stefan Nehring: "Das wissen wir leider nicht genau, weil bei dieser ersten Untersuchung des Bundesamtes haben die nur eine Technik verwendet, mit der man nur bis zu einem Meter Tiefe in das Sediment rein schauen kann. Damit hat man sich zufrieden gegeben. Es ist natürlich die Frage, wo jetzt wirklich diese Giftgasflaschen sind. Sind sie an dieser einen Stelle, sind sie an dieser anderen Stelle? Deshalb meine Forderung, man soll die Lübecker Bucht in großen Teilen wirklich nach alter Munition, nach altem Industriemüll untersuchen. Man braucht nur auf die Seekarte schauen und man sieht, hier im Bereich der Lübecker Bucht sind sechs Gebiete eingezeichnet, offiziell, wo überall Munition dran steht. Also, die Behörden wissen schon mehr aber sie tun nichts."

Einen Steinwurf entfernt an der Überseebrücke, liegt die Blueboxx, ein hochmastiges, 15 m langes Schiff der Seglerwerkstatt Stade. Daneben mit ausgebrachten Fendern ein kleinerer Segler aus dunklem Holz mit einer Rollfock. In der Strommitte läuft der grün-weiß gestrichene Motorkutter Allegria ein und von der Überseebrücke zwei legt der Ausflugsdampfer Marritima ab.

Eine schlanke, hoch gewachsene Frau tritt an den Tisch. Die grauen Haare kurz geschnitten. Der helle Hosenanzug von zurückhaltender Eleganz. Sie stellt ihre beiden Taschen ab, begrüßt Stefan Nehring, nimmt Platz, lässt sich zu einem Kaffee einladen und freut sich auf ihre bevorstehende Urlaubsreise nach Peru.

Frau Dr. Michaela Blunk ist keine Unbekannte in dieser Stadt. Auch wenn sie, wie die Lübecker sagen, nur aus Hamburg kommt. Zugereist ist. Sie lächelt, während sie das zum Besten gibt. Viele Jahre hat sie in der Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck die Fraktion der FDP geführt. Die Anfang 60-Jährige ist Historikerin. Sie ist sehr charmant, sehr hartnäckig, vor allem, sie lässt sich nicht einschüchtern. Eigenschaften, die sie braucht, findet sie, wenn sie an diesen Munitionsskandal denkt. Es ist eine Art Detektivarbeit.

Michaela Blunk: "Ja, es kommt mir deshalb so vor, weil einfach die ersten Reaktionen so völlig unverständlich waren. Es gab nämlich überhaupt keine Reaktionen. Und dann muss ich schon gestehen, ist mein Suchergeist als Historikerin geweckt worden."

Sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, schaut Stefan Nehring freundlich an, holt ein paar Unterlagen heraus. Blättert in ihnen, ein bisschen so, als wolle sie sich mit einer kurzen Rückschau vergewissern.

Michaela Blunk: "Also, die allererste Geschichte ist eigentlich schon fünf, sechs Jahre her. Da bin ich dann durch Fachleute angesprochen worden, die genauso empört waren über das nicht reagieren, wie wir als Kommunalpolitiker in Lübeck. Dann ruhte die Geschichte etliche Jahre und der selbe Wissenschaftler, der sich damals so sehr mit mir empört hatte und mich angesprochen hatte, der kam jetzt auf mich zu und sagte Frau Blunk, da ist wieder irgend etwas, was nicht ganz regelgerecht läuft. Dann habe ich als Kommunalpolitikerin das aufgegriffen, es in die Lübecker Bürgerschaft getragen und musste hier dann wieder erfahren, dass man eigentlich mit Desinteresse und eigentlich auch unwirsch reagiert hat, weil, in Lübeck ein bisschen verständlich, die Angst mit dem Tourismus im Hinterkopf schwebt. Aber die Sache ist ja doch immerhin so dramatisch, dass man das nicht o durchgehen lassen durfte."

Stefan Nehring nickt. Keine Frage, so ist das. Die beiden verstehen sich in der Sache gut, haben keinen Blick für die Schönheit des Travemünder Hafens. Auch nicht für eine blaue Segelyacht, eine Halberg-Rassey, ein Klassiker, zwei Masten, die unter Motor die Trave aufwärts in Richtung Anleger einläuft. Michaela Blunk und der beinahe halb so junge Stefan Nehring haben ein Anliegen. Das verfolgen sie unnachgiebig.

Michaela Blunk: "Es geht darum, dass im Jahr 1970 das "Fischerblatt" eine Warnung an die Fischer in der Ostsee herausgegeben hat mit sehr genauer Ortsangabe, mit sehr genauer Inhaltsangabe, Mengenangabe, dass es hier einen Gefahrenpunkt vor Travemünde gibt. Das ist eigentlich der Anfang gewesen, dass man sagte, wir sind Kommunalpolitiker, wir haben Verantwortung für die Menschen, die hier an der Ostseeküste leben und für die Menschen, die hier zu Hundert tausenden zu uns als Gäste kommen. Und da war es für uns selbstverständlich, dass wir Sicherheit haben wollten, wovor wurde gewarnt und wovor ist möglicherweise heute noch zu warnen und was ist möglicherweise zu beseitigen."

Seefahrer, gleich, ob Handelsschiffer, Marineangehörige oder Fischer sind konservative Leute und sehr akkurat, genau, lächelt sie. Man kann sich auf sie verlassen und sie verlassen sich auf sich. Das gilt auch für ihre Angaben, seien es Windstärken, Wetterberichte, Kurse oder Positionen. Michaela Blunk nimmt ein paar Unterlagen in die Hand.

Michaela Blunk: ""Das Fischerblatt hat sehr genau Angaben gemacht. Einmal zum Ort, wie es sich für ein Fischerblatt auch gehört, aber wenn ich hier die Liste sehe, es sollte sich um Chlorgas, um Lachgas und um Phosgen handeln. Also Stoffe, die, wenn sie mit Menschen in Berührung kommen oder umgekehrt Menschen mit ihnen, dann sind die Folgen für die Betroffenen katastrophal. Im Wasser selbst bleiben sie relativ ungefährlich. Es würde sich auflösen. Aber es weiß ja keiner in welchem Zustand diese Materialien sind, wenn sie denn da liegen."

Stefan Nehring nippt an seinem Saft, blickt hoch und dann platzt es aus ihm heraus: Schon 1979 hat das Bundesverkehrsministerium in einem Brief an das Kanzleramt gewarnt, 13 Gasflaschen mit 520 Lieter Chlorgas sowie eine Gasflasche mit 10 Liter Phosgen liegen in der Bucht. Anfang der 90er Jahre wird der Bericht des Ministeriums korrigiert. Seitdem fehlt jeder Hinweis auf chemische Kampfstoffe. Die Rede ist nur noch von Chemikalien Stefan Nehring nennt das eine absichtliche Falschdeklarierung.

Stefan Nehring: "Es ist ein ganz großer Müllhaufen... dringend was tun."

Michaela Blunk hört ihm zu. Stimmt ihm zu. Bleibt sehr ruhig. Sieht auch nicht das nach einer Stunde an die Überseebrücke 2 zurückkehrende Fahrgastschiff "Marritima" nicht. Sondern wartet mit einer Überraschung – auch für Stefan Nehring – auf.

Michaela Blunk: ""Wir haben ja jetzt vor wenigen Tagen einen Abschlußbericht von der Firma bekommen, die die Tauchgänge unternommen hat. Und da gibt es dann zwei Fundstellen überraschenderweise. Aber ich konzentriere mich jetzt auf Fundstelle eins und da hat man tatsächlich an der angegebenen Stelle Behälter gefunden, denen man aber von außen nicht ansehen kann, was drin ist. Und jetzt kommt diese Geschichte wieder auf den Punkt: Es ist erschreckend, dass bis heute und es sind wieder Wochen vergangen, weder die Landesregierung noch der Bürgermeister Lübecks auf diesen Endbericht reagiert haben. Denn es kann doch nicht sein, dass wir sagen, gut, die Fachleute haben Behälter gefunden, wir wissen aber alle immer noch nicht, was drin ist, also lassen wir es auf sich beruhen."

Im Lübecker Yachtclub an der Überseebrücke ist jetzt auf der Terrasse kein Platz mehr frei. Gegenüber, auf der anderen Flußseite, in der Marina mit ihren 400 Booten und Schiffen auch nicht. Ein leichter, aufkommender Wind, drückt das Wasser in die Travemündung. Stefan Nehring und Michaela Blunk schauen sich an. Sie machen sich Sorgen, weil weder die Kommunal- noch die Landespolitiker etwas unternehmen.

Michaela Blunk: "Es ist mit Sicherheit die Furcht und wenn sie die verschiedenen Berichte in den Medien gelesen haben dann haben sie natürlich auch erkennen müssen, dass die Besucher von Veranstaltungen Angst haben und der Bürgermeister der Stadt Lübeck glaubt, dass er dem am Besten begegnen kann, in dem er schweigt. Und wir sind der Meinung, dass das Beste wäre, um Ängste abzubauen, ganz klar zu untersuchen, was drin ist und dann zu sagen, entweder wir müssen es bergen und entsorgen oder es ist so harmlos und unschädlich, es bleibt unter Wasser. Aber ein Schweigen kann die Angst nicht abbauen und wir wollen jetzt endlich wissen, was in den Kisten drin ist."

Mit großer Ruhe sagt sie das. Doch auch mit großem Nachdruck. Sie trinkt einen zweiten Kaffee, erzählt, wie gerne sie im Urlaub nach Dänemark fährt, und sie erzählt an diesem Nachmittag im Lübecker Yachtclub auch, wie sehr ihr die ganze Sache zusetzt. Aufmerksam hört Stefan Nehring zu.

Manuela Blunk: "Also ursprünglich erstmal gar keine Reaktionen. Dann in der vernünftigsten Phase war es eigentlich eine politische Auseinandersetzung. Es wurde persönlich, als der Bürgermeister glaubte, das Fazit ziehen zu können, wir haben keine Akten gefunden, also hat Frau Blunk Wahlkampf betrieben mit der Angst der Bürger und einem Thema. Von dem sie glaubte, dass die FDP Stimmen sammeln kann. Und das habe ich dem Bürgermeister und nicht nur ihm auch gesagt, das war unterhalb der Gürtellinie. Das ist unanständig. Die Lübecker FDP hat fünf Jahre lang in der Bürgerschaft eine faire Politik gemacht und sie hat es nicht nötig mit einem solchen Thema zu spielen. Es war nicht unser Fehler, dass solange auf unsere Anträge hin überhaupt nichts geschehen ist, dass es schließlich in die Wahlkampfzeit gekommen ist. Das hat aber die Partei des Bürgermeisters mit zu verantworten und nicht die FDP."

Wo keine Akten sind ist keine Munition und kein Sprengstoff und kein Giftgas. Stefan Nehring zuckt mit den Schultern, blickt ein wenig auffordernd Michaela Blunk an.

Michaela Blunk: "Das war und ist die Argumentation des Lübecker Bürgermeisters von der SPD. Der sagt, er habe in allen deutschen Archiven nachfragen lassen und in keinem Archiv sei auf noch so viele Stichworte in die Suchmaschinen hinein eine Antwort gekommen auf die Behauptung des Fischerblattes, Lübeck habe verantwortlich im Jahre 61 etwas versenkt. Und aus dieser Tatsache zieht der Bürgermeister den Schluss, dass es auch keine Versenkung gegeben hat und dann eben der Schluss, Frau Blunk hat Wahlkampf betrieben."

Sie erhebt sich. Muss zum nächsten Termin. Stefan Nehring bricht auch auf. Sie geben sich die Hände. Verabschieden sich. Gehen Richtung Zentrum.

Unweit davon, immer noch am Wasser, eine weitläufige Industriebrache. Zwei alte, rostige Kräne am leeren Hafenbecken. Fünf riesige, graue Strommasten mit weiten Auslegern. Mittendrin ein großer, bedrohlich ausschauender ausrangierter Kühlturm. Rostbraun. Verrottet, auf 14 Pfeilern stehend. Ein Supermarkt. Ein Schuhmarkt. Eine Autowaschanlage. Gelb-rote und blaue, hoch gewachsene Feldblumen. Streunende Hunde. Ein abgestellter Campingwagen. Eine Spedition. Ein Zementwerk. Die Straße an der die Firma UTM liegt. Umwelt, Technik, Metallrecycling.

Der Hof der Firma, Gasflaschen, Container, Werkhallen, ein Bürogebäude. Wolfgang Steinborn, einer der beiden Geschäftsführer, steht vor einem muschelbeschichteten Ungetüm. Eine Seemine. Gefunden in einer Tiefe von 21 m in der Lübecker Bucht. Nicht die einzige. Taucher haben sie hoch geholt. Es sind die Taucher, die auch am 14. April dieses Jahres in die dunklen Gewässer der Lübecker Bucht hinab steigen, auf der Suche nach Munitionskisten und Gasflaschen. Das ist nicht ungefährlich, sagt Wolfgang Steinborn, wenn er auch einschränkt….

Wolfgang Steinborn: "Die Taucher, die wir dort eingesetzt haben, sind ausgebildete Taucher, die Munition und Sprengstoff und ähnliche Dinge erkennen sollen und erkennen können und unter diesem Gesichtspunkt, denke ich, haben sie wohl einen gefährlichen Job aber das Risiko ist berechenbar."

Es sind nur ein paar Schritte vom Hof in sein Büro. Durch das offene Fenster dringt von draußen der Lärm rein.

Vor einem leistungsstarken Rechner sitzt Michael Frank, der zweite Geschäftsführer des Unternehmens und schaut sich die Filmaufnahmen an, die seine Taucher während ihres Einsatzes am 14. April 2008 machen.

Michael Frank: "Also die Taucher sind jetzt auf 21 Meter Wassertiefe. Und wir sind an der ersten Fundstelle und offensichtlich durch den Staub zu erkennen, offensichtlich an einer Holzkiste. Der Taucher untersucht, welche Beschaffenheit die Holzkiste hat, welche Überreste da noch zu manipulieren sind und ob es gefahrlos möglich ist, die Kiste überhaupt auf zu kriegen."

Nur der Lärm vom Hof dringt herein. Beide Männer schaue fasziniert und die grün-schwarzen Unterwasseraufnahmen. Handlampen blinken auf, tauchen die Szene am Grund der Lübecker Bucht in ein gespenstisches Licht. Zwei Taucher bewegen sich knapp über dem Meeresboden.

Michael Frank: "Im weiteren Verlauf kann man tatsächlich erkennen, dass große Fundstücke neben den Holzkisten zu sehen sind auf einer recht großen Fläche. Bei den Fundstücken ist eindeutig zu erkennen, dass es sich um Fliegerbomben handelt und die gefahr besteht jetzt, dass, wenn der an den Holzkisten wirklich weiter macht und noch nicht klar ist, was ist mit den Fliegerbomben los, sind die noch gezündet oder noch nicht, dass man jetzt am Besten abbricht und aufhört und dem Taucher sagt, so, wir haben jetzt genügend Filmmaterial zusammen. Wir können von oben entscheiden über die Auswertung der Munitionsbergungsleute."

Michael Frank hebt kurz den Kopf, schaut seinen Partner Wolfgang Steinborn an, blickt wieder auf die dunklen bewegten Bilder vom 14. April. Den Taucher, der dort unten weiter macht.

Michael Frank: "Im Moment untersucht er noch. Versucht noch ein bisschen genauere Daten heraus zu finden. Vielleicht kann er mit seiner Kamera dann später noch direkt aufnehmen, ob irgendwelche Erkennungsmerkmale noch zu erfassen sind. Also er wird jetzt nicht weiter an der Flaschen bzw. an den Fundstücken herum zu manipulieren, nicht an der Holzkiste und auch nicht an der Bombe, sondern er versucht, jetzt herauszufinden, was ist die beste Position einer Kamera, wie kann man noch genauer Einzelheiten erfassen."

Frank und Steinborn schauen hoch. Sitzen an dem großen Tisch mit dem Rechner. Halten die Bilder an. Sie erzählen, das ihre Kontrolluntersuchungen mit der Unterwasser-Videokamera in einem Gebiet 7,5 km vor der Küste zeigen, dass aller Wahrscheinlichkeit natürliches Methangas an der Meeresoberfläche austritt. Gansflaschen werden auf dieser Position 54 Grad Nord/ 11 Grad Ost nicht gefunden. Allerdings können die Gasflaschen versunken sein, sollten sie hier gelegen haben, schreiben sie in ihrem Bericht. Für beide Männer ist die Arbeit noch längst nicht beendet.

Wolfgang Frank steht auf, schaut sehr nachdenklich, sagt, bisher haben wir nur die ersten vorsichtigen Suchergebnisse von zwei Positionen. Das heißt, jetzt müsste die Untersuchung erst richtig losgehen. Tut sie aber nicht und wird sie auch nicht, glaubt er. Blickt zum Fenster auf den Hof hinaus, hebt die Schultern und gibt zu: Viel weiter sind wir nicht.