"Die palästinensische Realität wird ausgeblendet"
Die Haltung Israels im Konflikt mit den Palästinensern werde in den westlichen Staaten weitgehend geteilt, sagt Nahost-Experte Michael Lüders. Angesichts der historischen Zäsur durch die arabischen Revolutionen sei ein Umdenken nötig. Die Palästinenser "kriegen keine Perspektive für ihren eigenen Staat, und dieser Zustand, der ist nicht mehr haltbar".
Jan-Christoph Kitzler: Bis zuletzt wird taktiert in New York. Dort wollen die Palästinenser am Freitag die Vollmitgliedschaft bei den Vereinten Nationen beantragen. Die Israelis und an ihrer Seite die USA wollen das um jeden Preis verhindern. Israel fordert Friedensgespräche und keine einseitigen Aktionen. Die diplomatischen Drähte laufen heiß, denn zustimmen muss der Weltsicherheitsrat, erst dann kann die UN-Vollversammlung über die Aufnahme Palästinas abstimmen. Viele Länder, darunter auch Deutschland, halten sich immer noch bedeckt, bis zum Schluss in dieser Frage. Eine ziemlich verfahrene Lage also, und über die spreche ich jetzt mit dem Nahost-Experten Michael Lüders. Schönen guten Morgen!
Michael Lüders: Schönen guten Morgen!
Kitzler: Warum tut sich eigentlich die USA; warum tut sich auch die EU so schwer mit der Anerkennung eines Palästinenserstaates. Liegt das alles nur daran, dass Israel diesen Staat nicht will?
Lüders: Israel will diesen Staat nicht, und die Europäer wie auch die Amerikaner haben über Jahre und Jahrzehnte der israelischen Logik gefolgt, wonach man zwar in Israel den Frieden wolle, die Palästinenser und die Araber, seit Neuestem auch die Iraner würden aber allein Israel bedrohen wollen, und vor diesem Hintergrund könne man leider keine Kompromisse machen. Dieses Weltbild, das über Jahre und Jahrzehnte hinweg den westlichen Umgang mit Israel geprägt hat, ist jetzt durch die arabische Revolution massiv ins Wanken gekommen. Die Verhältnisse haben sich gewandelt, es gibt keinen Hosni Mubarak in Ägypten mehr, der diese Farce des Friedensprozesses mithilft, am Leben zu erhalten. Es gibt jetzt eine neue Dynamik, auch die Palästinenser verlangen ihre Rechte, und sie machen jetzt genau das, was Israel 1947, 48 auch getan hat, sie versuchen einseitig, ihren Staat zu erklären in der Hoffnung, dass die Staatengemeinschaft ihnen darin folgt. Die USA unterstützen diese Initiative nicht, weil der Einfluss der proisraelischen Lobby in den USA so stark ist, dass es selbst Präsident Obama nicht gelingt, gegen diese Lobby Politik zu machen. Und auch in Deutschland ist die Bereitschaft nicht gegeben, die Palästinenser in dieser Frage zu unterstützen aufgrund der engen Beziehungen zu Israel, auch Deutschland hat das Veto im Sicherheitsrat angekündigt.
Kitzler: Es gibt ja inzwischen auch gewichtige Stimmen in Israel, die inzwischen sagen, an einem Palästinenserstaat führt am Ende kein Weg vorbei. Warum kommt es denn trotzdem nicht dazu?
Lüders: Es hat zu tun mit Ideologie. Wir haben in Israel eine Regierung, die von Ultranationalisten geprägt wird bis hin zu einem – mit Verlaub – faschistoidem Außenminister Avigdor Liebermann. Diese Ultranationalisten wollen nicht einen historischen Kompromiss mit den Palästinensern, sie wollen nicht die Gründung eines palästinensischen Staates im Westjordanland, im Gazastreifen, mit Ostjerusalem als Hauptstadt zulassen, weil aus ihrer Sicht das Westjordanland, das weitgehend identisch ist mit dem biblischen Judäa und Samaria, ein integraler Bestandteil ist von Eretz Israel, eines Israels, das verstanden wird als das Land zwischen Mittelmeer und Jordanfluss. Für diese Ultranationalisten gehört Judäa und Samaria zu Israel wie Bayern zu Deutschland, und insofern gibt es auch nichts zu verhandeln. Die palästinensische Realität wird ausgeblendet, man versucht, den Palästinensern das Leben so schwer zu machen, dass sie idealerweise Richtung Jordanien auswandern, man ignoriert die palästinensische Realität, man setzt sich damit nicht auseinander und sieht sich selbst stets aus einer Opferperspektive. Diese Haltung wird in den westlichen Staaten weitgehend geteilt, aber es ist jetzt wie gesagt eine historische Zäsur gegeben: Diese Perspektive lässt sich nicht mehr aufrechterhalten angesichts der Veränderungen vor Ort, und insofern muss ein Umdenken erfolgen, auch in der westlichen Politik.
Kitzler: Mit dem sogenannten Arabischen Frühling hat sich die Lage geändert für Israel, das haben Sie angesprochen. Nach dem Fall von Mubarak in Ägypten ist die Lage eine andere. Auch die Türkei ist ja inzwischen abgerückt von Israel. Hat man denn in Tel Aviv überhaupt schon ein Konzept, wie man sich auf die neue Situation einstellt?
Lüders: Nein, es gibt kein Konzept in Tel Aviv, sich neu zu orientieren, weil das bedeuten würde, sich von ideologischen Positionen, die über Jahrzehnte hinweg Bestand hatten, zu verabschieden. Man müsse sich gewissermaßen neu erfinden, und das fällt bekanntermaßen Individuen wie auch komplexen Gesellschaften schwer. Das Eingeständnis, dass Israel Unrecht begangen hat an den Palästinensern, angefangen mit der Vertreibung rund der Hälfte der palästinensischen Bevölkerung im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 geht in Israel ans Eingemachte, weil man gewohnt ist, sich selbst als Opfer zu sehen, und das Eingeständnis, dass man auch anderen Unrecht zugefügt hat, das ist eine sehr, sehr heikle Geschichte. Das beschädigt das eigene Narrativ, wie die Soziologen sagen, wenn man eingestehen muss, dass man hier Unrecht begangen hat. Für die meisten Israelis ist die palästinensische Realität eine, die man am meisten ausblendet. Oder aber man sagt, wir wollen ja den Frieden, aber die Palästinenser – Stichwort Hamas – reagieren immer nur mit Terror. Diese Sichtweise ist aber viel zu einfach. Anfang des Jahres, im Januar, haben die britische Zeitung "The Guardian" und auch der Nachrichtensender Al Dschasira Geheimprotokolle der Verhandlungen zwischen Israel und Palästinensern seit 1999 ins Internet gestellt. Sie wurden überlassen von einem palästinensischen Unterhändler, und aus diesen Dokumenten geht hervor, dass Israel seit 1999 sämtliche Initiativen zur Belebung des Friedensprozesses mit den Palästinensern torpediert hat. Kamen sie nun aus den USA, von den Europäern oder von Hosni Mubarak – von wem auch immer –, seit zwei Jahren verhandelt die Israelische Regierung nicht mehr mit Mahmud Abbas, dem palästinensischen Präsidenten, der wirklich sehr, sehr konziliant ist gegenüber Israel. Aber er bekommt nichts von der israelischen Seite, und er ist natürlich sehr frustriert und ergreift jetzt die Initiative, geht in die Vereinten Nationen. Er weiß, dass er dafür abgestraft werden will, aber es geht hier wirklich um eine historische Zäsur: Entweder, die Palästinenser setzen jetzt alles auf eine Karte, oder sie werden weiterhin für dumm verkauft. Wenn sie verhandeln wollen, verhandelt man mit ihnen nicht mit wechselnden Begründungen, wenn sie Gewalt anwenden, sind sie Terroristen. Sie können eigentlich tun oder machen, was immer sie wollen, sie kriegen keine Perspektive für ihren eigenen Staat, und dieser Zustand, der ist nicht mehr haltbar wie gesagt, wesentlich wegen des Arabischen Frühlings, weil die ganze Region sich gerade tektonisch verschiebt.
Kitzler: Was erwarten Sie denn jetzt von den Verhandlungen in New York? Wird der Versuch, Anerkennung zu bekommen, den Palästinensern dann am Ende eher schaden oder eher nutzen?
Lüders: Ich glaube, dass die Palästinenser gar keine andere Wahl haben, als in die Offensive zu gehen. Es wird ihnen zunächst einmal schaden, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht. Die USA ist wichtigstes Geberland der palästinensischen Autonomiebehörde, in finanzieller Hinsicht werden ihre Zahlungen vorübergehend einstellen. Israel hat seit den Friedensverträgen von Oslo 1993 Zugriff auf den palästinensischen Staatshaushalt in wesentlichen Teilen, vor allem, was die Erhebung von Steuern anbelangt. Auch hier wird man den Geldhahn zudrehen. Man wird versuchen, die Palästinenser gewissermaßen so lange unter Druck zu setzen, bis sie freiwillig verzichten auf ihre Option, aber das wird nicht funktionieren. Die Palästinenser machen jetzt genau das, was Israel auch getan hat, um einen eigenen Staat zu bekommen. Und wenn der Druck zu groß wird auf die Palästinenser, dann ist die Gefahr natürlich groß, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt im Westjordanland wie auch im Gazastreifen.
Kitzler: Das zähe Ringen um eine palästinensische Unabhängigkeit. So sieht es der Nahost-Experte Michael Lüders. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
Lüders: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Lüders: Schönen guten Morgen!
Kitzler: Warum tut sich eigentlich die USA; warum tut sich auch die EU so schwer mit der Anerkennung eines Palästinenserstaates. Liegt das alles nur daran, dass Israel diesen Staat nicht will?
Lüders: Israel will diesen Staat nicht, und die Europäer wie auch die Amerikaner haben über Jahre und Jahrzehnte der israelischen Logik gefolgt, wonach man zwar in Israel den Frieden wolle, die Palästinenser und die Araber, seit Neuestem auch die Iraner würden aber allein Israel bedrohen wollen, und vor diesem Hintergrund könne man leider keine Kompromisse machen. Dieses Weltbild, das über Jahre und Jahrzehnte hinweg den westlichen Umgang mit Israel geprägt hat, ist jetzt durch die arabische Revolution massiv ins Wanken gekommen. Die Verhältnisse haben sich gewandelt, es gibt keinen Hosni Mubarak in Ägypten mehr, der diese Farce des Friedensprozesses mithilft, am Leben zu erhalten. Es gibt jetzt eine neue Dynamik, auch die Palästinenser verlangen ihre Rechte, und sie machen jetzt genau das, was Israel 1947, 48 auch getan hat, sie versuchen einseitig, ihren Staat zu erklären in der Hoffnung, dass die Staatengemeinschaft ihnen darin folgt. Die USA unterstützen diese Initiative nicht, weil der Einfluss der proisraelischen Lobby in den USA so stark ist, dass es selbst Präsident Obama nicht gelingt, gegen diese Lobby Politik zu machen. Und auch in Deutschland ist die Bereitschaft nicht gegeben, die Palästinenser in dieser Frage zu unterstützen aufgrund der engen Beziehungen zu Israel, auch Deutschland hat das Veto im Sicherheitsrat angekündigt.
Kitzler: Es gibt ja inzwischen auch gewichtige Stimmen in Israel, die inzwischen sagen, an einem Palästinenserstaat führt am Ende kein Weg vorbei. Warum kommt es denn trotzdem nicht dazu?
Lüders: Es hat zu tun mit Ideologie. Wir haben in Israel eine Regierung, die von Ultranationalisten geprägt wird bis hin zu einem – mit Verlaub – faschistoidem Außenminister Avigdor Liebermann. Diese Ultranationalisten wollen nicht einen historischen Kompromiss mit den Palästinensern, sie wollen nicht die Gründung eines palästinensischen Staates im Westjordanland, im Gazastreifen, mit Ostjerusalem als Hauptstadt zulassen, weil aus ihrer Sicht das Westjordanland, das weitgehend identisch ist mit dem biblischen Judäa und Samaria, ein integraler Bestandteil ist von Eretz Israel, eines Israels, das verstanden wird als das Land zwischen Mittelmeer und Jordanfluss. Für diese Ultranationalisten gehört Judäa und Samaria zu Israel wie Bayern zu Deutschland, und insofern gibt es auch nichts zu verhandeln. Die palästinensische Realität wird ausgeblendet, man versucht, den Palästinensern das Leben so schwer zu machen, dass sie idealerweise Richtung Jordanien auswandern, man ignoriert die palästinensische Realität, man setzt sich damit nicht auseinander und sieht sich selbst stets aus einer Opferperspektive. Diese Haltung wird in den westlichen Staaten weitgehend geteilt, aber es ist jetzt wie gesagt eine historische Zäsur gegeben: Diese Perspektive lässt sich nicht mehr aufrechterhalten angesichts der Veränderungen vor Ort, und insofern muss ein Umdenken erfolgen, auch in der westlichen Politik.
Kitzler: Mit dem sogenannten Arabischen Frühling hat sich die Lage geändert für Israel, das haben Sie angesprochen. Nach dem Fall von Mubarak in Ägypten ist die Lage eine andere. Auch die Türkei ist ja inzwischen abgerückt von Israel. Hat man denn in Tel Aviv überhaupt schon ein Konzept, wie man sich auf die neue Situation einstellt?
Lüders: Nein, es gibt kein Konzept in Tel Aviv, sich neu zu orientieren, weil das bedeuten würde, sich von ideologischen Positionen, die über Jahrzehnte hinweg Bestand hatten, zu verabschieden. Man müsse sich gewissermaßen neu erfinden, und das fällt bekanntermaßen Individuen wie auch komplexen Gesellschaften schwer. Das Eingeständnis, dass Israel Unrecht begangen hat an den Palästinensern, angefangen mit der Vertreibung rund der Hälfte der palästinensischen Bevölkerung im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 geht in Israel ans Eingemachte, weil man gewohnt ist, sich selbst als Opfer zu sehen, und das Eingeständnis, dass man auch anderen Unrecht zugefügt hat, das ist eine sehr, sehr heikle Geschichte. Das beschädigt das eigene Narrativ, wie die Soziologen sagen, wenn man eingestehen muss, dass man hier Unrecht begangen hat. Für die meisten Israelis ist die palästinensische Realität eine, die man am meisten ausblendet. Oder aber man sagt, wir wollen ja den Frieden, aber die Palästinenser – Stichwort Hamas – reagieren immer nur mit Terror. Diese Sichtweise ist aber viel zu einfach. Anfang des Jahres, im Januar, haben die britische Zeitung "The Guardian" und auch der Nachrichtensender Al Dschasira Geheimprotokolle der Verhandlungen zwischen Israel und Palästinensern seit 1999 ins Internet gestellt. Sie wurden überlassen von einem palästinensischen Unterhändler, und aus diesen Dokumenten geht hervor, dass Israel seit 1999 sämtliche Initiativen zur Belebung des Friedensprozesses mit den Palästinensern torpediert hat. Kamen sie nun aus den USA, von den Europäern oder von Hosni Mubarak – von wem auch immer –, seit zwei Jahren verhandelt die Israelische Regierung nicht mehr mit Mahmud Abbas, dem palästinensischen Präsidenten, der wirklich sehr, sehr konziliant ist gegenüber Israel. Aber er bekommt nichts von der israelischen Seite, und er ist natürlich sehr frustriert und ergreift jetzt die Initiative, geht in die Vereinten Nationen. Er weiß, dass er dafür abgestraft werden will, aber es geht hier wirklich um eine historische Zäsur: Entweder, die Palästinenser setzen jetzt alles auf eine Karte, oder sie werden weiterhin für dumm verkauft. Wenn sie verhandeln wollen, verhandelt man mit ihnen nicht mit wechselnden Begründungen, wenn sie Gewalt anwenden, sind sie Terroristen. Sie können eigentlich tun oder machen, was immer sie wollen, sie kriegen keine Perspektive für ihren eigenen Staat, und dieser Zustand, der ist nicht mehr haltbar wie gesagt, wesentlich wegen des Arabischen Frühlings, weil die ganze Region sich gerade tektonisch verschiebt.
Kitzler: Was erwarten Sie denn jetzt von den Verhandlungen in New York? Wird der Versuch, Anerkennung zu bekommen, den Palästinensern dann am Ende eher schaden oder eher nutzen?
Lüders: Ich glaube, dass die Palästinenser gar keine andere Wahl haben, als in die Offensive zu gehen. Es wird ihnen zunächst einmal schaden, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht. Die USA ist wichtigstes Geberland der palästinensischen Autonomiebehörde, in finanzieller Hinsicht werden ihre Zahlungen vorübergehend einstellen. Israel hat seit den Friedensverträgen von Oslo 1993 Zugriff auf den palästinensischen Staatshaushalt in wesentlichen Teilen, vor allem, was die Erhebung von Steuern anbelangt. Auch hier wird man den Geldhahn zudrehen. Man wird versuchen, die Palästinenser gewissermaßen so lange unter Druck zu setzen, bis sie freiwillig verzichten auf ihre Option, aber das wird nicht funktionieren. Die Palästinenser machen jetzt genau das, was Israel auch getan hat, um einen eigenen Staat zu bekommen. Und wenn der Druck zu groß wird auf die Palästinenser, dann ist die Gefahr natürlich groß, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt im Westjordanland wie auch im Gazastreifen.
Kitzler: Das zähe Ringen um eine palästinensische Unabhängigkeit. So sieht es der Nahost-Experte Michael Lüders. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
Lüders: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.