Die Patchwork-Familie

Von Barbara Sichtermann |
Die traditionelle "normale" Kleinfamilie, bestehend aus Mama, Papa, Kind gibt es seltener als noch vor Jahrzehnten. Nach Schätzungen lebt heute jede siebte Familie als Patchworkfamilie zusammen. Diese zusammengewürfelte Lebensgemeinschaft wird so genannt, wenn ein Elternteil eine Beziehung mit einem neuen Partner eingeht.
Martin ist ein Scheidungskind - er hat gelitten, als die Eltern auseinander gingen, schließlich war er erst zehn Jahre alt und hin- und hergerissen zwischen der Anhänglichkeit an die Mutter, bei der er blieb, und der Sehnsucht nach dem Vater, den er zu selten sah. Mit zehn ist ein Junge schon erfahren genug, um den Gefühlen, die er beobachtet und die er in sich selbst aufsteigen fühlt, Namen zu geben.

Er wusste, dass die Mutter, die eine neue Liebe gefunden hatte, sich schuldig fühlte und dass der Vater, dem seine Familie abhanden gekommen war, unter Einsamkeit litt. Er selbst verspürte Mitleid mit dem Papa und eine Art stille Wut auf den Eindringling, der die Mutter erobert und den Vater vertrieben hatte. Er weinte oft, er fiel in der Schule zurück. Doch mit der Zeit glätteten sich die Wogen, das Leben wurde wieder leichter.

Es geschah auch zu viel, als dass Martin in Zorn und Mitleid hätte verharren können. Als er zwölf war, kam seine Schwester May-Britt zur Welt, kurz darauf heiratete sein Papa die Kollegin Marie-Theres, eine Witwe, die Martin eigentlich nicht gern haben wollte, dann aber überraschenderweise arg nett fand. Das Allernetteste an ihr waren ihre Zwillinge Karla und Max, die ein Jahr jünger und einen Kopf größer waren als Martin und richtige Eislauf-Asse. Eine tolle Zeit hob an. Über Nacht hatte Martin zwei coole Geschwister gekriegt, die ihn auch noch dauernd zum Schwimmen oder ins Kino abholten und mit denen man angeben konnte, weil sie echte Champs waren auf dem Eis und Pokale gewonnen hatten. Das war doch was anderes als die ewig brüllende May-Britt, vor allem, weil Karla sogar Lust hatte, die Kleine zu hüten, wenn Martin eigentlich dran war...

Heute ist Martin achtzehn und überlegt sich, ob er als Scheidungskind wohl auch zu jenen jungen Leuten gehören wird, von denen man in der Zeitung liest: bindungsunwillig, ängstlich, wenn es darum geht, das Herz zu öffnen, verschlossen und kinderfeindlich, einfach aufgrund der bitteren Erfahrungen, die er als Zehnjähriger hat machen müssen. Er erinnert sich noch gut an den Schock und an die tiefe Traurigkeit, die ihn damals überkam, als die Eltern sich trennten.

Wenn er sich lange genug in diese Zeit zurückversetzt, kommen sogar die Tränen wieder. Aber dann ging das Leben weiter, es geschah so viel, und er gewann neue Angehörige: May-Britt, der er jetzt bei den Schulaufgaben hilft, Marie-Theres, Karla und Max, und sogar er und Ferdinand, der neue Mann seiner Mutter, kamen sich schließlich näher. Aber man soll nichts beschönigen: Von Zeit zu Zeit kracht es immer wieder zwischen den beiden. Vor drei Jahren übrigens wuchs die Familie sogar noch mal, denn Marie-Theres brachte Boris zur Welt, einen dicken kleinen Bruder, der wahrscheinlich einmal Boxer wird, jedenfalls trainiert er täglich dafür, und Martin hütet ihn richtig gern, weil der Junge so putzig ist.

Luise, seine Traumfrau, mit der er seit einem halben Jahr geht, ist Einzelkind und neidisch auf Martins schier unübersichtlich große Familie. Sie glaubt nicht, dass aus Martin ein bindungsunwilliger Hagestolz wird. "Da kenn ich dich besser", sagt sie und nennt ihn einen Glückspilz. Martin sagt: "Ja, ich habe von allem mehr. Mehr Menschen, mehr Freude, mehr Überraschungen, mehr Kummer."