Was unter dem Talar steckt
"Die Liebe ist uns von Gott geschenkt und damit auch Sexualität", meint die Theologin Annina Ligniez. Auf Talarart.net zeigt sie sich im Talar, im Sommerkleid – und ihre Verwandlung von der Privat- zur Amtsperson. Damit möchte sie zeigen: "Ich bin ein sexuelles Wesen." Auch hinter der Kanzel.
"Man sieht die Person praktisch gar nicht mehr – in dem Sinne, dass man ihre Figur wahrnimmt. Also, die Person ist eigentlich verhüllt, verschleiert, bis auf Gesicht und Hände. Und das ist gerade die spannende Frage: Wer trägt wen? Der Talar die Person, die Person den Talar?"
Bruno Biermann spricht über das Gewand, das Pfarrerinnen und Pfarrer während des Gottesdienstes tragen. Die meisten Talare sind weit und dunkel und reichen bis zu den Knöcheln. Die angehenden Pfarrer schaffen sich ihren ersten Talar meist während des Vikariates an, der praktischen Ausbildung in der Gemeinde, die sich an das Studium anschließt. So weit ist Bruno Biermann noch nicht. Er ist 25 Jahre alt und studiert an der Uni Münster Evangelische Theologie. Nebenbei arbeitet er als Fotograf.
Mit seiner Uni-Dozentin Annina Ligniez hat Biermann vor einem Jahr ein Kunstprojekt begonnen, die Internetseite Talarart.net. Von Biermann stammen die Fotos, die Annina Ligniez im Talar und als Privatperson zeigen. Neben den Aufnahmen stehen kurze Dialoge zwischen den beiden. Darin geht es um die Frage, wie aus einer Privatperson eigentlich eine Amtsperson wird, die vor aller Augen das Wort Gottes verkündigt.
"Das ist der Gedanke hinter Talarart, den Menschen sichtbar zu machen hinter dem Talar. Menschen, die genauso Fragen, Zweifel, Lebenskrisen haben, glücklich sind."
"Mir ist schon wichtig, dass ich mit einer Frau verheiratet bin"
"Und das ist, glaube ich, das, was ich mit Talarart erreichen will. Also, einerseits einen Diskurs zu schaffen über liturgische Kleidung. Und andererseits deutlich zu machen: Darunter steckt ein Mensch. Ich hab weibliche Rundungen, ich mag das. Wie sehr darf ich Frau sein? Und wie sehr darf ich mich so zeigen, wie ich bin?"
An diesem Tag ist Annina Ligniez an der Uni und trägt ein figurbetontes dunkles Kleid mit weißen Punkten und einen auffälligen roten Gürtel. Die 41-Jährige hat in Kirchengeschichte promoviert und lehrt seit 2013 Praktische Theologie an der Uni Münster. Dieses Fach soll angehende Theologen auf ihren Alltag in der Gemeinde vorbereiten. In ihrem Büro stehen auch Bücher über gendersensible Theologie, eine Theologie, die die Sichtweisen von Frauen und Männern berücksichtigt. Annina Ligniez denkt viel über Geschlechterrollen nach.
"Ich trage nicht ein T-Shirt, wo draufsteht: Ich lebe in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft. Aber mir ist schon wichtig, dass ich mit einer Frau verheiratet bin. In Bezug auf sexuelle Orientierung kann der Talar gar nicht ablenken, weil: Das bleibe ich ja."
Vor ihrem Computer steht ein Parfüm. Das passt an die Uni, findet Ligniez, nicht aber in einen Gottesdienst:
"Also, wenn ich zum Beispiel im Abendmahlskreis den Leuten Brot und Wein reiche, und ich zieh so eine Parfümwolke hinter mir her – ich weiß nicht, ob das sein muss!? Wofür? Ich nehme im Grunde genommen den Menschen dann die Möglichkeit, sich wirklich auf dieses Geschehen einzulassen und wirklich zu schmecken und zu sehen, wie freundlich Gott ist, weil sie meinem Parfüm hinterherhängen. Und das möchte ich nicht."
Was heißt denn christliche Lebensführung?
Neben ihrer wissenschaftlichen Karriere hat Annina Ligniez ein Vikariat absolviert. Weil ihr der persönliche Kontakt zu den Gemeindemitgliedern so gut gefällt, wird sie die Uni verlassen und im Herbst als Pfarrerin im Probedienst anfangen. Ihr Eindruck: Alles, was Pfarrerinnen und Pfarrer innerhalb und außerhalb der Kirche sagen und tun, und auch ihr Äußeres wird von den Gemeindemitgliedern genau beobachtet und reflektiert.
"Ich würde vermutlich hier nicht in ein Freibad und auch nicht im Kirchenkreis in ein Freibad gehen und mich oben ohne sonnen. Das würde ich nicht machen!"
In geschlossenen Facebook-Gruppen diskutiert Annina Ligniez mit Pfarrerinnen und Pfarrern aus ganz Deutschland nicht nur über Liturgie und Predigttexte, sondern auch darüber, wie diese es so halten mit der Außendarstellung. Es scheint viel Unsicherheit darüber zu geben, wie kurz der Rock einer Pfarrerin beim sonntäglichen Kirchencafé sein darf, und ob Pfarrer in Supermärkten einkaufen dürfen, die für die Ausbeutung ihrer Mitarbeiter berüchtigt sind. Auch mit ihren Studenten spricht Ligniez über diese Fragen, auf die sie selbst nicht immer eine klare Antwort hat.
"Als Pfarrerin unterstehe ich einem besonderen Pfarrer-Dienstgesetz, was bestimmte Erwartungen an mich hat und auch bestimmte Erwartungen an meine christliche Lebensführung. Das ist genau mein Thema. Was heißt denn christliche Lebensführung? Bedeutet das, dass ich lesbisch sein darf: Ja? Nein?"
Zumindest diese Frage beantwortet Ligniez mit einem klaren Ja. Auf der Internetseite Talarart lotet sie die Frage nach der Lebensführung weiter aus. Bruno Biermanns Fotos zeigen, wie ihr figurbetontes Sommerkleid unter dem massigen Talar verschwindet und sie nur noch anhand ihres Gesichts als Frau erkennbar ist. Der Körper in der christlichen Verkündigung – das ist auch ein Thema der Theologin.
"Gottesdienst ist ein zutiefst leibliches Geschehen. Wir singen gemeinsam, und wir stehen auf. Also wir sind da auch mit unserem Körper, und wir spüren auch was, körperlich."
"So ein richtiger Shitstorm ist noch nicht über mich ergangen"
Auffälliger noch als die Aufnahmen im Talar sind Fotos von der Privatperson Ligniez. Eines enthüllt Teile ihres nackten Oberkörpers beim Duschen, ein anderes zeigt die Pfarrerin in Spitzenunterwäsche in ihrem Badezimmer. Ehe sie die Fotos veröffentlicht hat, hat sie mit Personen in der Leitung ihrer Fakultät und in der Kirchenleitung besprochen, ob das in Ordnung geht. Diese hatten keine Einwände, erzählt sie. Bislang, sagt Annina Ligniez, waren die Reaktionen auf Talarart wohlwollend.
"So ein richtiger Shitstorm ist noch nicht über mich ergangen. Aber ich würde ihn ertragen. Für mich sind alle Menschen, egal ob lesbisch, schwul, bi, trans, inter, queer erst mal gewollt und geliebt von Gott, so wie sie sind. Die Liebe ist uns von Gott geschenkt und damit auch Sexualität. Ich finde, das ist eine sehr gute Gabe Gottes, die wir da geschenkt bekommen haben. Und es ist - leider Gottes - historisch, theologiegeschichtlich ein großes Problem, dass wir so rigide mit Sexualität umgehen. Und insofern ist es schon auch eine bewusste Provokation, deutlich zu machen: Ich bin auch ein sexuelles Wesen. Ja, auch als Pfarrerin."